Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Der Balkan

Geist ewigen Streits

Was bedeutet uns Nichtbalkanbewohnern der Balkan? Inwiefern ist er auch denen, die beinahe nichts von ihm wissen, eine Wirklichkeit? Wieso wird das Wort Balkanisierung beinahe allgemein richtig verstanden oder angewandt? So, nicht anders liegt, von außen her betrachtet, das Balkanproblem. — Soweit ich sehe, ist dessen sinnbildlicher Sinn von zwei Ansatzpunkten her am besten zu fassen: erstens der allgemein als wahr geltenden Behauptung, dass der Balkan das Pulverfass Europas sei. Zweitens von der Tatsache besonders elementarer und unausgleichbarer Völkerfeindschaft.

Dass der Balkan das Pulverfass Europas ist, liegt offenbar an letzterem, nicht am ersteren. Zwischen England und Frankreich, wie früher zwischen Österreich und Russland, herrschen Gegensätze: solche trägt man gern, solange es irgend geht, an fernen Grenzen aus, so dass man in unmittelbarem Verkehr weiter tun kann, als stände alles gut. Überdies lässt man natürlich, wo und wann immer es geht, andere für einen schießen und sterben. Dass sich im Balkan tatsächlich Interessensphären überschneiden, ist demgegenüber beinahe irrelevant. Hier könnte man füglich sagen: Si les Balkans n’existaient pas, il faudrait les inventer. Dass ein Balkanbrand faktisch leichter als irgendein anderer zu einem Weltbrand ausartet, hat hier seinen Grund. Er allein jedoch täte es freilich nicht. Der Balkan wäre kein so einzig geeigneter Ort zur Zentrierung und Zuspitzung von Konflikten, wenn drüben nicht — damit gelangen wir zum zweiten der eingangs genannten Motive — eine so einzigartige elementare Feindschaft zwischen den Völkern herrschte, dass diese dort immer bereit erscheinen, loszuschlagen; ja dass dort der Kriegszustand als normal gelten muss.

Woher kommt das? Die nächstliegenden Ursachen liegen auf der Hand. Der besondere Regierungsmodus der Türken ließ jede Eigenart als status quo bestehen. Weder unterdrückte er Nationen als solche, noch hatte er je eigene Nationbildung zum Ziel. So lebten die verschiedenen Rajavölker unvermischt und unvereinbar durch Jahrhunderte in ihrem ursprünglichen, heute sonst nur unter wilden Stämmen vorkommenden Partikularismus-Zustand unter- und nebeneinander fort, dank dem der Geist des Nationalismus, als er erwachte, ein Verkörperungsmittel von einem elektrischen Potential fand wie nirgends sonst. Zweitens sind einige Balkanvölker bis auf weiteres nicht nur ausgesprochen, sondern wesentlich wild. Leben die Serben noch heute zum Teil im heroischen Zeitalter (nur um sie handelt es sich in diesem Zusammenhang unter den Jugoslawen, die Kroaten sind slawische Österreicher), ist der Albaner als Typus der unsterbliche edle Räuber — denn vertrete er das älteste Volkstum Europas: sein traditionelles Ethos, das zur Zeit des Pyrrhos von Epirus vielleicht dem entsprach, was heute der Völkerbund vertritt, ist vom modernen Standpunkt ein richtiges Brigantenethos —, so sind die Bulgaren, unbeschadet ihres tüchtigen Bauerntums und ihres Fleißes, bis auf weiteres zutiefst ein Volk von Komitadschis; gleich den Afridis Afghanistans, gleich manchen Berberstämmen nur dazu von Herzen geneigt, persönlichen Hass und persönliche Blutlust auszuleben. Dort wird ein Advokat, ein Arzt von einem Tag zum anderen Wegelagerer, so wie in England erzogene nordindische Prinzen nach ihrer Heimkehr unvermittelt in Wildheit zurückfallen. Man betrachte nur die wüsten Gesichter, die ungefügen Nasen der Bulgaren: da ist noch alles primitivster Trieb. — Die Spannung dieser wilden Völker mit den intellektuellen Griechen, den überlegenen Türken und den lyrischen Rumänen genügt vollauf, um ein äußerst explosives Gesamtbild zu schaffen.

Doch dieses muss überdies tiefere Ursachen haben. Warum erscheint solcher Zustand am Balkan unausrottbar? Man gedenke an Bernard Shaws Prognose in Back to Methusalah betreffs der Iren: in einigen Jahrhunderten würden die letzten unter diesen auf dem Balkan leben, denn dort allein würden sich nationale Fragen dann noch stellen. Es ist für die Balkanvölker wirklich wesentlich, dass sie einen Willen zur gegenseitigen Bedrückung und Ausrottung aufbringen wie keine anderen auf Erden. Und dieser elementare Wille ist aus dem faktisch vorhandenen Blute nicht zu erklären. Überall haben von jeher schrankenlose Mischungen stattgehabt. Die Neugriechen sind zweifellos überwiegend slawischer Rasse und dennoch wesentlich Griechen. Was jedoch Mazedonien betrifft, so ist dort dermaßen viel hin und her erobert, hin und her vergewaltigt, ent- und zurücknationalisiert worden, dass selbst das Jüngste Gericht hier billigerweise betreffs der Rassenzugehörigkeit keine inappellable Entscheidung treffen dürfte. Andererseits hat wiederum Mazedonien wieder und wieder besonders bedeutende Gewalt- und Tatmenschen, welches Blutes immer, hervorgebracht: so Alexander den Großen, so den Ghazi Mustafa Kemal. Da muss denn doch wohl im Balkan selbst, als psycho-physischer Einheit, die wichtigste Ursache des Zustands der Balkanvölker liegen. Und gedenkt man nun der Balkanfehden altgriechischer Zeit, jener Fehden, die immer gegenseitige Ausrottung zum Ziel hatten und erst ein Ende nahmen, als der damalige Türke — der Römer — sie von oben herab verhinderte; gedenkt man weiter der einzigartigen Erbitterung, mit der in Konstantinopel Glaubensstreitigkeiten ausgefochten wurden, wie dort die winzigsten Abweichungen in der Auslegung der Schrift gleich Mord und Totschlag zur Folge hatten, so erkennt man, dass der heutige Balkan in der Tat nichts anderes ist als die Karikatur des antiken. Der Geist des Balkans als solcher ist der Geist ewigen Streits. Bewohnen ihn primitive Rassen, so bietet er das Urbild des Urkampfes aller gegen alle. Bei Höchstbegabten und -gebildeten tritt es als Geist des Agon in die Erscheinung. Aber der Erdgeist des Balkan an sich ist die primäre bildende Kraft.

Wird jetzt verständlich, warum man Europas größte Gefahr unwillkürlich Balkanisierung heißt? Auch Europa ist seinem Wesen nach ein Balkan. Man stelle sich Europa so einheitlich und ausgeglichen vor wie Amerika oder Russland: sein Sinn wäre dahin. Europa ist wesentlich klein und zerklüftet, physisch sowohl als psychisch. Sein frühester Geist ward auf dem Balkan geboren. Nicht die geistige Abstammung von den Griechen kommt hier in Betracht, sondern die Tatsache, dass erst auf dem Balkan, im Spannungsfeld der sich ständig befehdenden Stadtstaaten, die spezifische Differenzierung einsetzte, die seither Volk auf Volk in einsinniger Reihe fortgesetzt hat. Europa ist genau so eine Einheit wie der alte Balkan. Es ist das Interferenzgebiet der stärksten und unausgleichbarsten Spannungen, die es heute gibt: der romano-germanischen an erster Stelle, sodann der west-östlichen, der antik-modernen, bis hinauf zu denen der verschiedenen Völkerindividualitäten.

Interferieren diese Spannungen auf hoher Ebene, so sind sie nur segensreich. Aber wie, wenn der Agon zum Ausrottungskampfe aller gegen alle würde? Nun, dann würde Europa zum Riesenspiegelbild des modernen Balkans. So müssen wir Europäer denn wohl dankbar sein, dass es einen leibhaftigen modernen Balkan gibt als Grabstätte der antiken Kultur, und an ihm lernen, wem wir vorzubeugen haben. Denn der Geist, der mit dem Weltkrieg zur Vorherrschaft gelangte, droht allerdings das Äquivalent des antiken in das des modernen Balkans umzuwandeln. Ja, mich dünkt der Giftgaskrieg unter Europäern, ob auf physischer oder geistiger Ebene geführt, ein weit Übleres als alles balkanische Meucheln. Und noch ist die Gefahr alles eher als vorüber. Majoritäten und Minoritäten, getreue Nachbarn und desgleichen hassen einander kaum schlechter wie Serben und Bulgaren. Es gibt auch keinen natürlichen Grund, warum dies nicht fortschreitend schlimmer werden sollte. Es gibt auch keinen Grund, warum es nicht immer neue Kriege geben sollte. Die wilderen Balkanvölker führen seit Jahrzehnten offen oder heimlich Krieg; keine Schwächung scheint das zu hindern, kein Menschenmangel, keine Hungersnot. Primitives Leben ist eben an erster Stelle naturgemäß. Ans Kultur-, nicht ans Schützengrabendasein muss sich der Mensch gewöhnen. Lebensgefahr ist normal sowohl als gesund. Kein Tier kannte je die Sekurität, die wir während der verflossenen vierzig Vorkriegsjahre genossen. Ebendeshalb gibt es keine entarteten wilden Tiere. Hier komme man ja nicht mit wirtschaftlichen Bedenken. Nur dort können solche den Ausschlag geben, wo leidenschaftsloser Verstand den Ausschlag gibt. Deshalb gab es in Deutschland keine wahre Revolution, wird es dort nie eine geben. Wo ein Volk Umsturzpläne aufgibt, weil sie sich nicht rentierten (sie rentieren sich natürlich nie), dort ist echte Revolution physiologisch ausgeschlossen. Aber ebenso physiologisch unbegründet ist die Erwartung, dass Vernunfterwägungen sinnlose Selbstzerstörung aufhalten können. Gefühle und Leidenschaften sind, wo sie vorherrschen, letztentscheidend. Bei allen nicht nord-germanischen Völkern Europas herrschen sie mehr oder weniger vor. So würden Balkanzustände auch in Europa das Gesetz dauernder Steigerung in sich tragen.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Der Balkan
© 1998- Schule des Rades
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