Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

England

Leben und Lebenlassen

Woher diese außerordentliche Gabe? Sie ist zum Teil das Produkt des germanischen Freientums, das nirgends reiner als auf den britischen Inseln fortlebt. Der germanische Freie war von jeher so sehr Individualist und eigenwillig, dass sich schon früh Formen herausbildeten, die ein Zusammenleben unbeschadet der Unabhängigkeit ermöglichten. Vor allem aber beruht sie wieder auf dem Tierartigen der englischen Einstellung. Wie der allein einen guten Psychiater abgibt, für den sich zunächst die Frage stellt, ob er als Arzt oder als Patient das Irrenhaus beziehen soll; wie der allein zum Tierbändiger geschickt ist, in dem selbst viel von der Raubtierseele lebt, die er ebendarum liebt, so kann nur der primär, d. h. von sich aus mit den Grundinstinkten Rechnende so sicher auf sie bei anderen Rücksicht nehmen. Nur mit ihnen nämlich rechnet die englische Umgangsart. Und sie tut es gerade auch, insofern sie andererseits den bewussten Nachdruck nie aufs Primitive legt, sondern da im Gegenteil allen nur erdenklichen Schmu macht und verlangt: gerade so ist ja das Verhältnis von Ober- und Unterbewusstsein wirklich. Das Primitive bestimmt, doch im Bewusstsein herrschen andere Motive vor. Dies ist die wirkliche Ordnung, und die meisten Missgriffe der Freudschen Psychoanalyse beruhen darauf, dass sie diese natürliche Ordnung umzukehren versucht. Aber vom politischen Standpunkt bestimmt letztinstanzlich allerdings das Primitive. Dies beweist abschließend das bloße Dasein des englischen Imperiums sowie die ungeheure Werbekraft englischer Lebensform. Im Grunde ist sogar die englische Umgangssprache kaum wesentlich anders als die, mit der Kornacken zu ihren Elefanten sprechen. Wenige stereotype Redensarten. Infinitive. Grammatikalisch möglichst einfache Sätze. Recht viel ermunternde Zwischenrufe. Entschuldigungen. Der Gesprächsstoff betrifft ausschließlich Nächstliegendes, das unter keinen Umständen für irgend jemand persönlich Peinliches enthalten darf. Überdies wird immer nur angedeutet, nicht im französischen Sinne klar und bestimmt gesagt, was gemeint wird: so behält jeder die Möglichkeit, sich seinen strikt persönlichen Teil zu denken und sein persönliches Geheimnis zu bewahren.

Doch die Bestimmung des Tierhaften sagt auch hier das Letzte nicht. Entscheidend ist der primär soziale Charakter des englischen Selbstbewusstseins. Dass es zunächst nur die eigene Nation und Rasse betrifft, ist selbstverständlich, da es sich um Instinkthaftes handelt und kein durch moralische Erwägung Geschaffenes. Innerhalb der eigenen Volksgemeinschaft nun geht das englische Selbstbewusstsein überall vom Zusammenhang von Ich und Du aus und kennt folglich die Problematik überhaupt nicht, die der asoziale Deutsche in der Ich- und Du- Beziehung sieht. Gute Beziehung zum Mitmenschen ist dem Briten primär wichtiger als alles andere. Wenn die Problematik englischer Romane auf Kontinentale wie Kinderproblematik wirkt mit ihren Grundnormen des Bravseins, des richtig Handelns, des Courage Beweisens und auf andere Rücksicht Nehmens, so liegt dies daran, dass das englische Leben insofern tatsächlich durchaus ein Kinderleben ist. Wie Galsworthy Bernard Shaw einmal vorstellte, wenn er so fortführe, werde er bald keinen Freund mehr besitzen, gab dieser ihm zurück: und wenn Sie auf die bisherige Weise weitermachen, so haben Sie bald keinen einzigen Feind. Das ist das Kinderideal. Für Kinder gibt es kein Höheres als gutes Zusammenleben schlechthin. Allein Kinder sind in dieser Sphäre weiser als Erwachsene; alles gute Zusammenleben beruht tatsächlich auf der Befolgung der für sie gültigen Normen. So erwächst aus der Wurzel des Primitiven die höchste Blüte englischen Soziallebens. Dem Engländer ist Leben und Lebenlassen selbstverständlicher Leitspruch. Für ihn versteht sich von selbst, dass auch der Gegner mit zur Gemeinschaft gehört. Denn unter individualisierten Wesen kann diese unmöglich auf Gesinnungsgleichheit beruhen, wie dies der Deutsche meint, wodurch allein er schon seine vollendete soziale Unbegabung beweist, sondern einzig auf dem Grundsatz let’s agree to differ. Daher die Möglichkeit eines produktiven Parlamentarismus in England gegenüber der Unmöglichkeit eines solchen in Deutschland, weil dort jeder den Andersdenkenden und Gegner in erster Instanz als zu sich gehörig anerkennt. Daher der Mangel an Bitterkeit und Gehässigkeit in Englands sozialen Kämpfen. Gekämpft wird gegebenenfalls so hart wie nur irgendwo, doch immer wie unter gleichberechtigten Gegnern. Jeder Konservative findet es selbstverständlich, dass die Arbeiterpartei auch ihre Chance haben will, und gönnt sie ihr. Zur Zeit des großen Streiks von 1926 steuerte der Prinz von Wales zur Versorgungskasse der Streikenden persönlich bei und zu bestimmten Stunden spielten Arbeiter und Polizisten friedlich miteinander Fußball. Ebendeshalb können in England noch Kastenunterschiede fortbestehen, wie es sie in Europa nirgends mehr gibt. Was als Hochmut gegenüber dem foreigner oder native unerträglich wirkt, weil das primäre Gemeinschaftsbewusstsein des Briten nur die eigene Rasse umschließt, erscheint daheim nicht als Hochmut, sondern als unbefangene Bejahung der Wirklichkeit. Die verschiedenen Schichten sind etwas jeweils anderes; wo nun jedem auf seiner Stufe volle Menschenwürde zuerkannt wird, hat der Geringste keine Veranlassung, darstellen zu wollen, was er nicht ist. Ein guter Butler führt ein Leben strikt für sich, nur im Dienst an dem seiner Herrschaft teilnehmend, und nimmt es beinahe übel, wenn diese sich nach seinem Privatleben, ja auch nur nach seinem Befinden erkundigt: das geht sie doch nichts an. Und so weiß ich von einem Fall, wo ein konservativer Peer seine Schwester, die Suffragette war, als solche ins Gefängnis kam und einen Hungerstreik inszenierte, moralisch unterstützte: was sie dachte und tat, war ihre Sache; sie war ein anderes als er. Aber sie tat es den gleichen moralischen Normen gemäß, die auch er anerkannte, und damit war alles gut. In England wird das Polaritätsverhältnis von Ich und Du in allen Hinsichten vollkommen richtig berücksichtigt und gehandhabt. Für sich soll jeder denken und tun, was er will. Kein Mensch wagt es auch nur, ihn in seinem Da- und Sosein zu kritisieren. Er darf auch exzentrisch sein. Im Londoner Hyde-Park wird den unwahrscheinlichsten Rednern höflich gelauscht. Niemand bleibt dort auf der Straße vor einem ungewöhnlichen Schauspiel gaffend stehen. Ja, ich erinnere mich, in London einmal einem Dichter begegnet zu sein, der zum Prinzip hatte, zum Frack mit nackten Füßen zu gehen. Das war schließlich seine Sache. War er auch im guten anders als der Durchschnitt und überschritt er gewisse Grenzen des Dezenz nicht, so konnte man mit ihm verkehren.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
England
© 1998- Schule des Rades
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