Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Der Balkan
Balkankreis
Wenden wir uns nun jetzt zum Balkan als Ganzem zurück. Er stellt das gespanntest denkbare Gebilde dar. Rumänen, Griechen, Türken haben toto genere verschiedene Substanzen, und wiederum ganz verschieden von ihnen sind Bulgaren und Serben. Und doch ist der Balkan eine Einheit, und er war es von je. Von je suchte ein Teil seiner den anderen zu erobern. Von den allerverschiedensten Zentren her ist er entsprechend beherrscht worden. Kein Gleichgewicht der selbständigen Teile erwies sich je bisher als dauerhaft, geschweige denn endgültig. Und es ist mehr als unwahrscheinlich, dass die Dynamik in absehbarer Zeit einem statischen Zustand Platz machen wird. Weit eher könnte das um das deutsch-französische Kraftfeld gravitierende Europa zu einer schweizähnlichen Friedenseinheit gelangen, als der Balkankreis. Nun kann es freilich sein, dass ebenso wie der Osmane Jahrhunderte entlang einen künstlichen Friedenszustand herstellte, äußere Machteinflüsse den Balkan auf lange hinaus, so wie er heute ist, erhalten werden. Aber ich glaube nicht, kann nicht glauben, dass irgendeine Kunst den Balkan so befrieden wird, wie es die Kanzleien der Großmächte schon heute für erreicht halten. Wirkliche Dauerfriedenszustände kamen noch nie anders denn als Ausdruck erreichter Reife nach erledigtem Sturm und Drang zustande. Und wer wollte behaupten, dass dieser jetzt schon erledigt wäre? Alle Balkanvölker sind ja heute jung. Die Rumänen konstituieren sich eben jetzt erst als die Nation, die sie einstmals sein werden. Die Türken besinnen sich gerade erst ganz auf sich selbst. Die Balkan-Slawen stehen, noch ganz am Anfang der Zivilisation. Nur die Griechen erscheinen als wesentlich altes Volk. Aber auch sie können sich vielleicht verjüngen. Wie immer es komme: es ist mehr als unwahrscheinlich, dass der Balkan für immer das bleibt, was er heute ist. Alles spricht dafür, dass das östliche Mittelmeer früher oder später wieder selbständige historische Bedeutung gewinnt. Zuviel Nationen verjüngen sich an seinen Gestaden. Dies gilt sogar von den Ägyptern und Syrern — es kann kein Zufall sein, dass sich die Syrier des Libanon besonders leicht und erfolgreich dem Rhythmus des südamerikanischen Lebens einfügen. Demgegenüber werden die letzten traditionellen Suzeräne dieser Gebiete, Frankreich und England, als solche alt. Das ist organisches Schicksal, aus dem sich sichere Schlüsse ziehen lassen, schon deshalb, weil das Erwachen junger Völker zu individueller Selbständigkeit zwangsläufig in Gegensatzstellung zum überkommenen Vormund erfolgt. Neuerdings erstrebt Italien Ausbreitung im Nahen Osten. Aber die kann ihm auf die Dauer nicht gelingen. Erstens, weil die Zeit des Kolonisierens überhaupt um ist, dann, weil es keinen größeren Gegensatz gibt, als: zwischen italienischer und Balkan-Welt: so groß ist der, dass sogar das so wunderbar einheitliche Römische Reich in zwei zerfiel, nachdem es in Konstantinopel Fuß fasste. Wohl mag Italien dort zeitweilig Eroberungen machen. Dauerhaftes werden sie nicht bedeuten. Diese neue Fremdherrschaft wird für die Dauer nur der ost-mediterraneischen Selbständigkeit zugute kommen, insofern sich die betreffenden Nationen ihrer Eigenart desto mehr bewusst werden. Ich persönlich glaube jedenfalls an ein Erwachen des östlichen Mittelmeergebiets zu neuer historischer Selbständigkeit. Schon als Nachwirkung der Emanzipierung Asiens muss es erfolgen. Dies muss dann dem Balkan eine Bedeutung neuer Art erteilen, die zugleich eine Wiedergeburt seiner antiken Bedeutung ist: des lebendigen kulturellen Vermittlers zwischen Ost und West in der Mittelmeerwelt.