Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Europa
Stileinheit
Inwiefern gibt es ein Europa
, das es unzweifelhaft in einem anderen als geographischen Verstände kürzlich noch nicht gab? Es gibt es insofern, als die weiteren Zusammenhänge innerhalb der Menschheit, die neuerdings in Erscheinung treten, von sich aus neue Differenzierungen bedingen. Und zwar handelt es sich dabei um innerliche, um psychologisch bedingte Zusammenhänge. Keine bloß äußerliche Einheit hatte je Bestand. Die früheren Versuche, Europa zu vereinheitlichen, wie sie, mehr oder weniger bewusst, Julius Cäsar, Karl der Große und Napoleon unternahmen, scheiterten, weil die Unterschiede zwischen den verschiedenen Völkern Europas damals mehr bedeuteten als das, was sie gemein hatten. Überdies hatten sie damals wirklich nur wenig gemein. Vom Standpunkt möglichen Erlebens war die Entfernung zwischen Paris und Köln noch zu Napoleons I. Zeiten beinahe so groß wie heute die zwischen Sidney und Berlin; der psychische wie der physische Organismus gestaltete sich, in seiner Weite und Enge, korrelativ zur Umwelt. So war der Berliner vom Pariser damals wirklich mehr unterschieden als heute vom Australier. Heute nun ist der Raum als Bedeutsamkeit überwunden. Die Wissenschaft hat allgemeine Verständigung ermöglicht. Auf Grund der Verlegung des Bedeutsamkeitsakzents im Seelengefüge vom Unübertragbaren auf das Übertragbare (vgl. die Ausführungen in der Neuentstehenden Welt) ist der ökumenische Zustand werdende Wirklichkeit. Und damit ist eine neue, sehr weite Ganzheit da. Aber diese bedingt doch mitnichten Uniformierung: insofern sie eine lebendige Ganzheit ist, bedingt sie, im Gegenteil, von sich aus neue Differenzierung, so wie jedes vielzellige Wesen gegenüber dem Einzeller in neuem Sinn differenziert erscheint. Dieser ist in seiner Winzigkeit, das wissen wir heute, gleichfalls hochdifferenziert; so waren es einstmals die Sippen und Stämme. Aber das Große ist eben in neuem und anderem Sinn gegliedert. So bedeutet es einen Denkfehler, aus der Überwindung des Raums und der Verständigungsschranken auf tiefergehende Angleichung zu schließen. Und die Erfahrung hat ihn auch schon als solchen erwiesen. Frankreich und England haben seit 1914 in hohem Grade in Symbiose gelebt, und nie waren beide Völker verschiedener, noch ihrer Verschiedenheit stärker bewusst als seither; so hat die Berührung des Ostens mit der europäischen Zivilisation gerade den asiatischen Nationalismus ausgelöst. Wohl aber bedingt jede vorherbestehende Ganzheit, noch einmal, von sich aus eine gegenüber der früher bestehenden andersartige Differenzierung. Wie einstmals Sippen mehr bedeuteten als Nationen, ja wie es solche bis zur Französischen Revolution im heutigen Sinn überhaupt nicht gab, so artikulieren sich heute, vom innerlich vorherbestehenden ökumenischen Zustand aus, neue lebendige Einheiten. Eine von diesen ist nun Europa. Europa entsteht nicht von wegen der paneuropäischen oder irgendeiner ähnlichen Bewegung, sondern diese wie jede andere gleichsinnige Bewegung ist nur möglich, weil sie unter anderen eine von sich aus lebendige und primär wirkende Tendenz vertritt. Europa entsteht, weil das allen Europäern Gemeinsame angesichts des nahegerückten und Übermächtigen nichteuropäischen Menschentums an Bedeutung gewinnt gegenüber dem, was sie trennt, und damit neue Faktoren, gegenüber früheren, im Bewusstsein vorzuherrschen beginnen. Dieses primäre Europäer-Bewusstsein ist es denn, was uns ermöglichte, die einzelnen Völker vom Standpunkt ihrer Sendung aus zu beurteilen: besteht ein primäres Europäerbewusstsein, dann ist solche Beurteilung ebenso selbstverständlich möglich, wie im physischen Körper Lunge und Leber auf ihren Sinn hin zu bestimmen sind.
Es entsteht also heute ein lebendiges Europa
als Glied der Menschheitsökumene. In allen führenden Geistern ist es als psychologische Wirklichkeit schon da. Das ganz bestimmte Unbewusste, das seine sonderliche Geschichte bedingt, welches Sosein über die Stellung zur Außenwelt letztinstanzlich entscheidet, beginnt sich im Bewusstsein auszuwirken. Es beginnt sich auszuwirken, weil der Mensch ein Unterschiedswesen ist und sich je nach seiner gegebenen Relation zum Du so oder anders entwickelt. Früher konnte der Unterschied zwischen deutschem und französischem Wesen als primär bedeutsam gelten. Heute wiegt das Unterschiedsbewusstsein gegenüber dem russischen und erst recht dem asiatischen Wesen vor und dies wird immer mehr der Fall werden, je mehr die Stimmungen und Verstimmungen des Weltkriegs abklingen. Und ebenso akzentuiert sich das Unterschiedsbewusstsein gegenüber der Neuen Welt. Vor gar nicht langer Zeit noch gehörten gebildete Nordamerikaner selbstverständlich zu uns. Heute verkörpert zum mindesten die jüngere Generation buchstäblich eine neue Welt1. Mochte nun das Gemeinschaftsbewusstsein aller Westländer bisher trotz allem vorherrschen: bei den heutigen psychologischen Verhältnissen muss das Unterschiedsbewusstsein dominieren. Wenn die Amerikaner zunächst, kulturell beurteilt, immer jünger werden müssen, bis dass eine eigene amerikanische Kulturseele sich bildet, werden wir uns zwangsläufig, in Relation zu ihnen, immer älter Vorkommen. Immer weniger kann davon die Rede sein, dass wir uns amerikanisieren
; wir werden bald frenetische Nur-Europäer sein. Wir werden uns, bis auf individuelle Ausnahmen, nicht besser, sondern schlechter als ehedem verstehen. Und dies, so paradox dies klinge, gerade deshalb, weil Verstehen
an sich in Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird. Je dümmer ein Mensch, desto mehr erscheint ihm selbstverständlich; das Staunen ist des Weisen Privileg. So muss das Unverständliche als solches immer mehr auffallen, je mehr verstanden wird. Und tatsächlich kann niemand einen anderen verstehen, dessen Unbewusstes zu sehr vom seinen abweicht. Nicht nur die verschiedene Seelen-Struktur, auch das historische Alter der Seelen schafft unüberbrückbare Differenzen. Andererseits aber wird aus dem gleichen Grunde das Gleiche und Ähnliche schärfer als ehedem als solches erkannt. So wird den Bewohnern Europas unaufhaltsam bewusst, dass oberhalb der einzelnen Völker und Kulturen in Europa eine neue lebendige Wirklichkeit besteht: die des Europäers.
Um welche Art Wirklichkeit kann es sich nun beim Europäer
handeln — denn nur er, nicht die höhere Einheit des ökumenischen Menschen geht uns hier an —? Wird er eine neue Rasse darstellen? ein neues Volk? O nein: sondern eine neue Stileinheit. Die Stileinheit und nichts anderes ist es, was überhaupt lebendige Gemeinschaften schafft. Das biologische Material war, im großen betrachtet, von je das gleiche. Was für Völker daraus wurden, was für Kulturen, hing einzig davon ab, ob ein Geist und welcher sie beseelte. Er gab dem Urstoff jedesmal die ihm entsprechende Gestalt und damit zugleich die Seele. Hier liegen die Dinge nicht anders wie bei Gemälden. Farben, Formen und deren Gesetze liegen jedermann vor; doch ein Rembrandt schafft Einziges vermittels ihrer. Mit dem gleichen Einzigkeitscharakter steht und fällt bedeutsames nationales Dasein. Tausende und Abertausende von Völkern sind, aus gleichem oder doch nahverwandtem Urstoff gebildet, über die Erde gewandelt. Doch nur wenige unter ihnen gewannen jemals wirkliche Gestalt, nur ganz wenige unter diesen behaupteten sich für die Dauer. Das waren dann allemal die, welche sich so zu den anderen verhielten wie die Werke eines Rembrandt zu denen eines geringen Malers. Gewiss verkörpern auch diese einen besonderen Stil; es ist unmöglich zu leben, ohne irgendeinen Stil zu haben. Das Wort Buffons le style c’est l’homme même gilt für alle Bereiche des Lebens insofern, als der Stil die letzte unzurückführbare Synthese von rational und irrational verkörpert, als welches alles Lebendige ist.2 Aber es gibt großen und kleinen Stil; es gibt überzeugende und nicht überzeugende; es gibt übertragbare und nicht übertragbare3. Von Dauer ist eine Volkheit immer nur dann, wenn sie einen Menschheitswert verkörpert und insofern allen einleuchtet, und wenn dieser Wert kein Miniatur-Wert ist, der sich nur unter der Lupe offenbart, sondern ein weithin sichtbarer und ausstrahlender. Weil dem so ist, deshalb trauern die heutigen Franzosen der Entnationalisierung ihrer gallischen Vorfahren nicht nach, sie sind vielmehr stolz auf sie. Und so leben auch nur die Völker und Kulturen, die eine hohe Stileinheit verkörperten, als Gene im Menschheitserbe fort. Es sind dies in erster Linie die Ägypter, Juden, die Griechen, Römer, Inder und Chinesen. Sie leben persönlich fort, genau wie die Gene in jeder neuen Lebenseinheit der Einzelzelle. Ebendeshalb lernt man Latein und Griechisch bei uns, oder Sanskrit in Indien, um dem modernen Leben gewachsen zu werden: es gilt das eigene lebendige Erbe zu vitalisieren. Ein Volk ohne eigene Seele, d. h. ohne eigene Stileinheit, ist nur Material.
Der Wechsel und Wandel der auf Erden vorherrschenden Völker ist also in Wahrheit ein Wechsel und Wandel der Stile, nicht der Völker. Die pflanzen sich seit Adam als Urstoff fort; die Form gibt ihnen der jeweils herrschende Geist. Zweifelsohne ist dieser seinerseits, in seiner Manifestation, an bestimmtes Blut mehr oder weniger gebunden. Aber auf diese Bindung den Hauptnachdruck zu legen, ist dennoch immer falsch. Was hat der heutige Amerikaner rein angelsächsischen Bluts mit dem Engländer gemein? Er ist psychologisch von ihm viel mehr verschieden als der Franzose vom Deutschen. So ist der Ost-Jude chazarischer Abstammung nichtsdestoweniger durchaus Jude. Und die eingewanderten Germanen sind überall in den ursprünglich besiegten Völkern untergegangen. Was von der Natur her letztendlich bestimmt, ist die Landschaft im paideumatischen Verstand. Der Geist ist nie naturgeboren. Und die Synthese von Landschaft und Geist kann allein für sich einen so mächtigen Faktor bedeuten, dass es auf die Blutkomponente kaum ankommt. Die heutigen Griechen sind immer noch durchaus Griechen, obschon nur verschwindend wenig althellenisches Blut in ihren Adern rollt. Die Franzosen naturalisieren ohne weiteres jeden Fremden, weil sie sich stark genug wissen, jeden zu assimilieren. Aber wir wissen nicht, was Paideuma, Kulturseele oder psychische Atmosphäre letztlich bedeuten. Demgegenüber ist die Stileinheit, in der dieses Unverständliche sich überall manifestiert, wo vorhanden, ein Begriff sowohl als eine Anschauung.
Der Stil macht ebenso das Volk wie den Einzelmenschen. Sind nun die Betrachtungen dieses Buches nicht ein einziger Beweis dafür? Überall erwies sich das Psychologische als erste und letzte Instanz. Alle Unterschiede erwiesen sich als letztlich auf Einstellungsunterschieden beruhend — Einstellung ist aber nichts anderes wie künstlerische Form. Der Deutsche beurteilt alles von der Sache, der Italiener vom Menschen her; beim Engländer liegt der Bedeutungsakzent im Unbewussten, beim Franzosen am hellstbeschienenen Ort des Tagesbewusstseins. Die bestimmende Gestalt, die Stileinheit braucht nun durchaus nicht national
zu sein. Auf die Frage, ob er ein Engländer sei, antwortet eine der Hauptpersonen in Bernard Shaws Heiliger Johanna empört: ich bin ein Gentleman. So antworteten noch während des Weltkriegs russische Reservisten auf die Frage, was sie für Landsleute seien: wir sind Rechtgläubige. Jeder Fürst steht innerlich oberhalb der Nationen, jeder Aristokrat fühlt sich Standesgenossen anderer Nation verwandter als Volksgenossen anderen Niveaus. Wer Mönch wird, tritt bewusst aus allen natürlichen Verbänden heraus. So schafft die Internationale der Sozialdemokratie, schafft erst recht die in Moskau zentrierte eine reale und doch nicht nationale Einheit. Ja, wenn ich mein eigenes Selbstbewusstsein analysiere — als was finde ich mich? An erster Stelle als mich selbst, an zweiter als Aristokraten, an dritter als Keyserling, an vierter als Abendländer, an fünfter als Europäer, an sechster als Balten, an siebenter als Deutschen, an achter als Russen, an neunter als Franzosen — ja als Franzosen, denn die französischen Lehrjahre haben mich tief beeinflusst. Mein Fall ist vielleicht abnorm, weil ich mich eigentlich nur mit meinem geistigen Wesen identisch fühle und in meiner Körperlichkeit primär nur Material sehe. Um so besser glaube ich die wahre Bedeutung des Bluts ermessen zu können. Alles Triebhafte ist zweifelsohne blutsbedingt. Weil dem so ist, deshalb ändern sich die Völker als biologische Einheiten im Lauf der Jahrtausende so wenig — das meiste Leben der Menschen wird genau so von primitiven Trieben bestimmt wie das der Tiere. Doch der Geist eines Volks ist demgegenüber ein qualitativ Verschiedenes. Den Zimbern und Teutonen wird der fanatischste Alldeutsche nicht nachsagen wollen, dass sie deutschen Geist
vertraten, noch wird er es dem reinrassigen Juden Gundolf abstreiten, dass er einer seiner typischsten modernen Repräsentanten ist. Die Verknüpfung geschieht hier mittels des Jungschen kollektiven Unbewussten. Doch nie ist sie unlöslich. Einen Geist kann ein Volk genau so verlieren, wie der Einzelne den seinen sterbend aufgibt; nur dass das Volk als biologische Einheit weiterlebt. Auf den Geist nun bezieht sich aller kulturelle Wert, auf ihn allein bezieht sich Wert überhaupt. Freilich muss dem Blute zugestanden werden, was des Blutes ist; da erst physische Abstammung und Tradition zusammen beim Menschen den eigentlichen Vererbungsfaktor ausmachen4 und das Blut allein irdisch fixiert, so ist es ausgeschlossen, einen Geist ohne Blut zu perpetuieren; auch in Klöstern geschieht dies ja auf besondere Art. Doch der Nachdruck ruht immer und überall auf dem Geist. Und dessen einer Exponent ist der Stil.
Deshalb kann von einer Gleichwertigkeit aller Völker bloß als Völker keine Rede sein. Völker als solche haben überhaupt keinen Wert, sie sind nur Urstoff. Alles kommt darauf an, ob eines einen besonderen Stil hat und was dieser an sich wert sei. Hieraus erklärt sich denn manches. Warum kann man in Europa füglich nur von französischem und deutschem Geiste reden? Weil nur bei Franzosen und Deutschen der Akzent überhaupt auf dem Geiste ruht. So selbständig die anderen Völker seien: begeben sie sich auf die Ebene des Geists, so sind sie Provinzen entweder von Deutschland oder von Frankreich. England hat dafür ein Ethos von großer Werbekraft, eine vorbildliche Gemeinschaftskultur und eine höchst übertragbare äußere Zivilisation. Russlands Stil wurzelt in der Spannung zwischen seiner Naturnähe und seiner Spiritualität, derjenige Spaniens in der zwischen dem Urbewusstsein des Fleisches und durchgebildeter Haltung. So dürfen wir denn die Gegenwart, wenn wir verstehen wollen, trotz aller herrschenden Vorurteile, nicht anders betrachten, wie wir die Geschichte sehen. Abertausende von Völkern sind da untergegangen, und wir trauern ihnen nicht nach. Und damit tun wir recht, denn das Menschengeschlecht bleibt auf alle Fälle bestehen; desgleichen lebt Kultur, wo es sie gibt, durch das Leben und Sterben der Völkerschaften hindurch. Da stellt sich denn die Frage: was kann, was wird die Geburt des Europäertums bedeuten? Welche Veränderungen wird sie bedingen? Welche Aufgabe hat es in der Welt? Kann freier Wille hier mithelfen, auf dass Gutes werde? Diesen Fragen müssen wir uns nunmehr, zum Abschluss, zuwenden.
1 | Vgl. meine genaue Behandlung dieses Problems in Amerika, der Aufgang einer neuen Welt. |
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2 | Vgl. die genaue Ausführung der hier nur skizzierten Gedankengänge in den Kapiteln Jesus der Magiervon Menschen als Sinnbilder und Geisteskindschaftvon Wiedergeburt. |
3 | Über letzteres Problem lese man meine Studie Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformennach in Philosophie als Kunst. |
4 | Vgl. die genaue Behandlung dieses Tatbestandes im Kapitel Der Sinn des ökumenischen Zustandsder Neuentstehenden Welt. |