Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Europa

Solidaritätsprinzip

Der Europäer und mit ihm Europa entsteht zwangsläufig aus der innerlich erlebten vorherbestehenden Menschheitsganzheit heraus, als spezifisches Differentiationsprodukt. Er entsteht aus dem Unterschiedsbewusstsein gegenüber Ost und West, welches das Gemeinschaftsbewusstsein der Europäer gegenüber dem Bewusstsein dessen, was sie trennt, immer mehr überwiegen lässt. Unsere geistige Reise durch Europa lehrte uns nun, wenn irgend etwas, dies, um ein wie ungeheuer mannigfaltiges, zerklüftetes Gebilde es sich bei Europa handelt; der Balkan ist recht eigentlich sein Prototyp. Deshalb kann von Vereinheitlichung im Sinn von Unterschiedsverwischung im Fall Europas in Gutem keine Rede sein. Ihm zuzumuten, dass es sich wie Amerika oder Russland vereinheitlichte, heißt es vollkommen verkennen, soweit Theorie in Frage steht, und praktisch seinen Untergang wollen. Geht alles gut, dann wird sich eine neue höhere Einheit oberhalb der im übrigen in alter Kraft fortbestehenden Nationen bilden. Geht es schlecht, so muss es sich vollständig zersetzen. Für diesen Prozess, im Guten wie im Schlimmen, gibt es nun eine historische Analogie, die nicht ernst genug beherzigt werden kann: das Gebiet des vorherrschenden Islam im Nahen Osten. Nie hat der Islam die Völker- und Kulturunterschiede verwischt. Trotzdem fühlten sich alle Muslim, solange die Religion lebendig war, an erster Stelle als Brüder; und als solche waren sie bestimmte, sehr starke Charaktere. Wo nun aber, im Nahen Osten, das Nationale seine letzte Bedeutung verlor, ohne dass eine andere positive Macht an seine Stelle trat, da entstand unmittelbar Levantinertum, d. h. das Charakterloseste, was es auf Erden gibt. Nichts ist lehrreicher in diesem Sinn als der Vergleich zweier Bewohner Konstantinopels, die augenscheinlich die gleiche Rassenmischung darstellen, aber von denen der eine ein Türke ist, der andere nicht. Dieser ist wesentlich Herr, wesentlich Charakter; jener gesinnungsloser Schieber. Europa droht nun zweifellos entsprechende Gefahr, wenn nicht die höhere Einheit des lebendigen Europäertums bewusst wird und zu besonderer neuer Stileinheit führt. Denn nationale Abschließung im früheren Sinn ist wohl noch politisch, nicht aber mehr psychologisch möglich.

Dies nun führt uns zu einer im ersten Augenblick überraschenden Konsequenz: gerade um Europas willen darf der internationale Gedanke in Europa nicht siegen. Die tiefste Ursache dieses Verhältnisses bestimmten implizite bereits die Eingangsbetrachtungen dieses Kapitels. Völker sind nie mehr als Material zur Selbstverwirklichung des Einzigen. Um nun das einzige metaphysische Wesen zu manifestieren, bedarf es auf dieser Erde der Akzentlegung auch auf Empirisch-Einziges. Das ist zunächst die empirische Individualität. Aber auf der Ebene der Gattung, des Typus, die jeder auch persönlich verkörpert, ist es die Volkheit. Hier nun kommt auf richtige Akzentlegung alles an. Versteht einer seine Einzigkeit in Form des banalen Egoismus, so verliert er seine Seele, anstatt sie zu gewinnen, denn dann hat er seinen Mittelpunkt im Nicht-Selbst. Dies gilt in noch höherem Grade, wenn er Nationalgefühl nicht in Funktion seiner persönlichen Einzigkeit pflegt, sondern in der seiner Beziehung zum Mitmenschen: jede Relation innerhalb des äußerlich gegebenen ist äußerlich. Legt der Mensch nun den Akzent auf die Internationale, d. h. eine abstrakte Beziehung zwischen allen Menschen, dann muss er ganz veräußerlichen, denn eine internationale Menschheit gibt es nicht. Nun ist die Macht des internationalen Gedankens in der neuentstehenden Welt über alle Begriffe groß. Wo einmal das Übertragbare über dem Unübertragbaren dominiert, wo die Raumgrenzen illusorisch geworden, wo alle Rechtsbegriffe, alle Wissenschaft, alle Geschäftsinteressen internationale Verständigung verlangen, sind entsprechende Internationalen nicht nur Wirklichkeiten, sondern Notwendigkeiten. Aber deren Vertreter dürfen, sofern sie an ihrer Seele nicht Schaden nehmen wollen, nur gleichsam Funktionäre sein. Hier erscheinen denn die Juden vorbildlich. Sie waren von jeher Internationalisten, doch immer von der Basis extrem betonten jüdischen Volkstums her. Der jüdische Internationalismus bedeutet nicht das gleiche wie der anderer Völker: er ist einfach Ausdruck des Interesses der parasitären Existenz daran, dass alle hemmenden Schranken im Wirtskörper schwinden1. Die Juden können die bodenständigen Nationen nicht als letzte Werte anerkennen, sie müssen die Verflüssigung alles Festen, die Verwischung aller Grenzen wollen bis auf die eine zwischen Jude und Goi; daher das jüdische Revolutionärtum, an sich eine Paradoxie bei diesem konservativsten aller Völker, die jemals lebten. Aber ihr Internationalismus ist nichts anderes als der weltanschauliche Exponent eines für sich äußerst stark betonten Volkstums. Deshalb schadet er dem echten Juden nicht.

Wir müssen auf die Judenfrage an dieser Stelle noch etwas näher eingehen, denn von ihr aus ist der Sinn der Unterscheidung zwischen Über- und Internationalismus am schnellsten einzusehen. Der Jude ist, vom Standpunkt der anderen und in bezug auf die anderen beurteilt, ein funktionell-parasitärer Typus; so hat es seine seltsame Geschichte bewirkt. Die Juden allein waren im naturalwirtschaftlichen Mittelalter überall die Händler und Geldmenschen. Und als dann der intellektuelle Fortschritt kam und mit ihm die Verflüssigung des Besitzes; als ferner das internationale Moment im Geschäftsverkehr, dank der Verbesserung der Verbindungen im Raume, dominierend ward, da erlebten die Juden immer mehr eine Hochkonjunktur für ihre angeborene Art, die sich entsprechend potenzierte. Und sie wird sich weiter potenzieren, denn noch ist diese Hochkonjunktur im Wachsen, nicht im Niedergang. Gerade jetzt, wo infolge des allgemeinen Substanzverlusts der nationalen Wirtschaften auf internationale Beziehungen alles ankommt; gerade jetzt, wo der innerlich Internationale die Situation am ehesten instinktiv erfasst; gerade jetzt, wo die durch Weltkrieg und Versailler Vertrag eingeleitete neue Ära der Gewalt mit ihrem Korrelat, der Notwendigkeit für die Schwächeren, sich abzufinden, dem, der mit Übermacht zu rechnen, ja von ihr Vorteil zu ziehen gewohnt ist, die natürliche Vorzugsstellung gewährt, ist es lächerlich, mit einer Erledigung der Juden zu rechnen. Solange sie Juden bleiben und sich bewusst zu ihrem Volkstum bekennen, werden sie sich vielmehr immer mehr zu der internationalen Nation konsolidieren. Und da es freilich internationale Werte zu vertreten gibt, so können sie vielleicht noch einmal eine rein segensreiche Rolle spielen. Aber nur, sofern sie andererseits Juden bleiben. Sobald sie ihr Judentum preisgeben, müssen auch sie als Internationalisten verderben, wie es so viele liberale Juden schon heute tun. — Für Nicht-Juden nun gibt es vom Bekenntnis zur Internationale kein mögliches Heil. Jeder muss sich zunächst zu seinem Volkstum bekennen, wie dies in höchstem Grad gerade die Juden tun. Und wer kein Parasit ist, sondern Wirtskörper, der muss sich eben zu diesem bekennen, d. h. zur Einheit von Landschaft und Volk.

Der internationale Gedanke darf also nicht siegen. Das ist, so paradox dies klinge, die erste Voraussetzung dessen, dass Europa keine Totgeburt darstelle. Dagegen muss, wieder um Europas willen, der übernationale über den nationalen den Sieg davontragen, denn nur so kann sich Europa als Ganzes gegenüber den Übermächten im Osten und Westen halten; der übernationale Gedanke im Sinn eines ebenso positiven Europäertums von gleichem Einzigkeitsbewusstsein, wie es das Einzigkeitsbewusstsein des Einzigen als Selbst oder Volkszugehörigkeit je war. Erwächst nun der lebendige Europäer als neue Stileinheit, dann wird dies eine weitere scheinbare Paradoxie ergeben: die Nationen werden sich nicht weniger, sondern eher mehr als früher im Verhältnis zueinander akzentuieren. Bei vielen Gelegenheiten habe ich gezeigt, dass das neue Zeitalter eine Synthese darstellt von extremem Universalismus und ebenso extremem Partikularismus: das muss in Europa am stärksten in Erscheinung treten. Gedenken wir wiederum Indiens, des einen sonstigen Erdteils gleicher Buntheit: dort handelt es sich um ein wie zufälliges Nebeneinander, denn der Grundton liegt dort auf dem Irrationalen. Im rationalen Europa hingegen bedingt ein Verschiedensein das andere; dort herrscht Korrelation innerhalb eines vorherbestehenden Ganzen. Wird also Europa seiner selbst als einer ausschließlichen Stileinheit gegenüber Ost und West bewusst, dann muss dies ebenfalls von den echten Stileinheiten gelten, die es zusammensetzen. Und damit gelangen wir zur genaueren Bestimmung Europas im Unterschied von allen anderen Kollektivgebilden der neuentstehenden Welt; ich rede hier, wohlgemerkt, nicht von dem, was werden soll, sondern von dem, was unaufhaltsam wird. Die Nationen akzentuieren sich tatsächlich immer mehr. Ihr Einzigkeitsbewusstsein wird tatsächlich immer größer. Dies ergibt denn einen allgemeinen Gespanntheitszustand höheren Grades, als er je früher vorlag. Epimetheische Geister befürchten eben deshalb von Tag zu Tag einen Neuausbruch des Weltkriegs. Der kann sich aber gar nicht wiederholen, denn die Spannungen sind schon heute in letzter Instanz dem Prinzip der Solidarität und nicht dem des Daseinskampfes unterstellt.

Dies ist so, weil in der Tiefe des Unbewussten das Europäertum schon lebt. Aus diesem Grunde erscheint denn die Ära des Nachkriegsnationalismus, im Gegensatz zu dem der Vorkriegszeit, als eine Ära nie dagewesener gegenseitiger Befruchtung. Man gedenke des ungeheuren Einflusses, welchen die russische Emigration, d. h. der europäisch verbliebene Teil der russischen Geistigen, auf ganz Europa ausübt. Man gedenke des geistigen Austausches zwischen Frankreichs und Deutschlands besten Geistern, eines Austausches, wie er nie intensiver war, weniger als zehn Jahre nach dem Krieg. Man gedenke der neuentstehenden europäischen Bedeutung Spaniens, der Durch-Säuerung ganz Europas durch den neu-italienischen Gedanken, der zeugenden Wirkung, die sogar Ungarn und die moderne Türkei beweisen, der zwar widerwilligen, aber nicht weniger unaufhaltsamen geistigen Kontinentalisierung Englands: wenn das nicht Gemeinschaft bedeutet, dann gab es solche nie. Denn wahre Gemeinschaft ist immer ein Gespanntheitszustand, analog dem von Liebe und Ehe. Das einzigartig Produktive der Nachkriegs-Gemeinschaftsbildung beruht nun allein darauf, dass überall und in allen Hinsichten sich just die Ausschließlichkeit des Eigenen als für die anderen bedeutsam erweist; der Nationalismus, bisher Funktion des Prinzips des Daseinskampfes, wird nunmehr zur Funktion des Solidaritätsprinzips. Damit erfahren denn alle Verhältnisse eine Verschiebung. Die Verherrlichung der eigenen Nation auf Kosten der anderen, bisher selbstverständliches Gebot, erscheint auf einmal absurd. Es wird auf einmal wieder begriffen, was Dr. Johnson meinte mit seinem harten Wort: patriotism is the last refuge of a scoundrel, und Grillparzer mit seinem Satz, dass der Weg von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität führe. Es wird primäres Erleben, dass sich die verschiedenen Völker untereinander ergänzen. Und so lesen und hören die, in deren Seele der zukünftige Zustand schon Wirklichkeit geworden, schon heute die Tiraden, in denen ein europäisches Volk über andere hinausgehoben wird, mit ähnlichen Gefühlen, mit denen sie von assyrischen Sklavenfoltern lesen. Dieses Buch hat nun, so hoffe ich, klar gemacht, inwiefern die nationalen Unterschiede in erster Linie auf Einstellungsunterschieden beruhen. Es müsste ferner einleuchtend gemacht haben, inwiefern jede bestimmte Einstellung eben dadurch bestimmte Möglichkeiten ausschließt. Von jedem Blickpunkt ist nicht alles zu überblicken. Der Deutsche ist vom Standpunkt des Briten beschränkt, der Franzose vom Standpunkt des Deutschen, und so ist es jeder vom Standpunkt irgendeiner Nation. Aber ebenso hat jede relative Vorzüge vor allen anderen. Und alle zusammen ergänzen sich im Rahmen der höheren Synthese des Europäertums. Ist nun der Europäer der höchste Mensch schlechthin? Sicher wird es bald einen entsprechenden Übernationalismus geben, der zeitweilig ebenso virulent werden muss, als es irgendein Nationalismus je war; das wäre dann das europäische Äquivalent des messianischen Amerikanismus. Aber auch der Europäer ist natürlich nicht der Idealmensch; seine Grenzen gegenüber dem Osten habe ich bereits im Reisetagebuch abgesteckt. Wohl aber kann er mehr sein als irgendein früherer Bewohner Europas, weil er der Weitere ist. Alle Überlegenheit beruht auf Integration des sich auf seiner Ebene Ausschließenden zu höherer Einheit.

1Überdies hat es auch tief-weltanschauliche Gründe, die wiederum in lebendigstem Volkstum wurzeln. Über den letzteren Punkt sei an dieser Stelle nur soviel gesagt: Die jüdische Ethik operiert ausschließlich mit absoluten Werten; sie verlangt unmittelbar die Begründung des Gottesreichs, eines Reichs absoluter Gerechtigkeit. Moralischer Relativismus ist dem Juden physiologisch unverständlich. Im Ethos des nordischen Menschen, zumal des Engländers, sieht er ein wesentlich Un-Ernstes: Spielregeln sind ihm unsere Normen, nicht mehr. (Dies hat der Zionist Maurice Samuel in seinem Buch You Gentiles [Harcourt, Brace & Co., New York] so deutlich gemacht, dass ich alles Nähere betreffend auf ihn verweise.) Dieses Reich des Spiels will er instinktiv im Namen Gottes zerstören. Hieraus, und nicht etwa aus der Rache über säkulare Bedrückung — kein Volk revoltierte je weniger gegen solche, denn seit Jahrtausenden ist sie der Juden Lebenselement — erklärt sich der jüdische Ursprung der meisten subversiven Theorien sowohl als der meisten ihrer tatkräftigsten Vertreter und Verwirklicher: jede Naturkraft wirkt zerstörerisch, wo sie außer Zusammenhang schafft. Eben hier wurzelt das meiste dessen, was dem praktischen Antisemitismus immer wieder Nahrung gibt. Der Sinn des Alten Testamentes ist reines Ethos, in unerhörter Einseitigkeit. Aber Geist überhaupt ist, praktisch beurteilt, in erster Linie Ethos, denn daran hängt seine Fähigkeit zur Initiative. Wirkt er im Zusammenhang mit allen Kräften der Seele und des Bluts, dann baut er auf; wirkt er außer Zusammenhang, dann muss er zersetzen. Das bekannte Zersetzende des jüdischen Geistes rührt nun daher, dass zwischen dem, was sein Ethos den Juden selbst und dem, was es den Wirtsvölkern bedeutet, Diskrepanz herrscht. Die Juden selbst verdanken eben ihm ihre ungeschwächte Erhaltung durch so viele Jahrtausende. Doch auf die Artfremden wirkt es zerstörerisch, denn nicht allein entspricht er diesen nicht, es ist in vielen tiefsten Hinsichten gegen sie gerichtet.
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Europa
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