Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Europa

Verjüngung

Der Europäer kann mehr sein als irgendein früherer Bewohner Europas. Hier geht denn die notwendige Entwicklung in Funktion des Fatums in die nur mögliche in Funktion der Freiheit über. Dieses Problem habe ich in seiner Grundsätzlichkeit in der Neuentstehenden Welt ausführlich behandelt. Hier bedarf es nur der Bestimmung des speziell Europäischen. Wann kann der Europäer mehr werden als jeder frühere Eingeborene unseres Erdteils? Wenn jeder als besondere Nation die anderen bewusst als Ergänzungen seiner im Rahmen Europas bejahen lernt. Dann, aber nur dann. Denn dann, aber nur dann, würde die Idee des den Anderen-gleichtun-Wollens, diese unglückselige Idee, die vor allen am Selbstmordversuch Europas schuld ist, der einer neuen Arbeitsteilung unter den Völkern Platz machen. Denn dann allein würde die psychologische Voraussetzung solcher Arbeitsteilung organische Wirklichkeit: eine molekulare Umlagerung des Selbstbewusstseins dahin, dass aller Nachdruck bei der Liebe zum eigenen Volk darauf zu ruhen käme, was dieses allein kann oder was es am besten kann. Denn damit würde aus dem, was bisher Prinzip der Eitelkeit, des Neids, des Zurückseins und -bleibens, des Statismus war, ganz von selbst ein prospektives Prinzip: die eigene Nation würde allgemein als das erkannt, was sie jedem Großen von jeher war: als Aufgabe. Es gilt — so würde dann jeder Volksvertreter fühlen — das beste und das allein aus jedem Volk zu machen, wozu in ihm die Möglichkeit liegt. Und nicht mehr zur ausschließlichen Selbsterhöhung, sondern zum besten eines Höheren; nicht auf Kosten der anderen, sondern zum besten aller. Und damit wäre das bisherige Volksbewusstsein von innen her überstiegen.

Was würde sich den Völkern nunmehr als vornehmste völkische Aufgabe stellen? Die Antwort ist nicht zweifelhaft: die bisherigen zu besseren umzuschaffen. Dass in Europa ganz neue Völker entstehen sollten, ist nicht wahrscheinlich. Wohl mögen bisher zurückgebliebene sich irgendeinmal, wie über Nacht, an der Spitze befinden; Walter Scott kannte die Schotten noch als halbe Wilde, und heute stellen sie die modernen Aufgaben gewachsenste Bevölkerungsschicht des britischen Weltreichs dar; so mögen junge Völker, die ihre erste Form vom neuen Zeitgeist erhielten, manchen alten, durch Vergangenheit überbelasteten, über den Kopf wachsen. Aber da es sich bei Europa um einen wesentlich alten Erdteil handelt, insofern Indien und China ähnlich, und sein Unterschiedsbewusstsein gegenüber Amerika und Russland vor allem darauf beruht, so ist nicht anzunehmen, dass hier umwälzende Veränderungen zu gewärtigen sind. Aber die einmal vorhandenen Völker können besser werden, die gealterten können einen verjüngenden Impuls empfangen, die noch ungefügen es zu einem Stil bringen. Heute bieten fast alle ein im ganzen schlechteres Bild als in früheren Zeiten. Die Höhepunkte liegen bei den meisten weit zurück; in den alten Kulturschichten wird allenthalben Entartung merklich; die neuaufsteigenden sind noch allzuhäufig nicht mehr als Rohmaterial. Aber dergleichen geschah in Anbetracht der Endlichkeit aller Vererbungsreihen von jeher; und es wird auch immer wieder geschehen. Umgekehrt kann ein Volk sich immer wieder phönixartig erneuern oder eine höhere Stileinheit aus sich heraus schaffen oder in eine solche eingehen. Die meisten verkennen, wie sehr es mit den Völkern ähnlich steht, wie mit den Familien. In Wahrheit ist jede Familie von ausgesprochenem Typus eine richtige Nation. Je nachdem, welche Familientypen dominieren, sieht das Volk so oder anders aus. Die verschiedenen Menschenarten sind ja aus einer Wurzel, oder doch wenigen, nicht anders entstanden, wie aus dem Wolf auf die Dauer Möpse und Spitze wurden. Und wie Familien auf die Dauer aussterben, wie sich nur einige Typen weitervererben und andere nicht, so verändern sich die Völker entsprechend den jeweiligen Dominanten. Die heutigen Franzosen haben nur mehr ausnahmsweise äußere Ähnlichkeit mit denen, welche Clouet malte; der beste traditionelle Engländertyp kommt in der jungen Generation alten Kulturbluts nur mehr ausnahmsweise vor. Insofern stehen die Völker automatisch in unausgesetzter Wandlung. Diese führt von sich aus besserem zu, wo ursprüngliche Kraft, von lebendigem Stil beseelt, sich differenziert. Sie führt genau so von sich aus schlechterem zu, wo Differenziertes erstarrt oder verfault. Unter allen Umständen aber schwindet jede Fortschrittsmöglichkeit, wo alle Spannungen ausgeglichen sind. Alle Wertverwirklichung setzt als Medium irdische Spannung voraus. Die Inder wurden geistig groß, als die Mischung zwischen den Einwanderern aus dem Norden und den Urbewohnern einen bestimmten starken Spannungszustand stabilisiert hatte. Analoges gilt für Hellas. Wie aus der Plastik ersichtlich, war der eingewanderte Herrentypus rein nordisch; und er war ungeistig, problemlos, wie es der Schwede heute noch ist. Aber eben aus der Mischung entstand die unerhörte hellenische Geistigkeit, von den Hellenen selbst schon, vor aller Psychoanalyse, als Spannung zwischen Apollinischem und Dionysischem richtig gedeutet. Gleichsinnig fiel Englands Höchstzeit mit der Stabilisierung einer besonders glücklichen Mischung von romanisiertem Normannen- und rein germanischem Sachsentum zusammen. Und der Deutsche endlich ist menschheitsbedeutsam nicht als nordischer Mensch, sondern als das wesentlich geistige Wesen, als das er sich auf Grund einer sehr komplizierten keltisch-germanisch-slawischen Mischung stabilisiert. Der Urtypus des Deutschen ist schon lange nicht mehr Siegfried, sondern, in modernem Bilde — Stresemann. Ihm ähnlich waren alle deutschen Geistigen; auch der Goethe-Typus, der übrigens dinarisch sein soll, ist ihm verwandter als dem des Skandinaven.

Wenn der Europäer nun heute geringer erscheint, als er es früher war, und die neue Situation Europas andererseits von sich aus neue Möglichkeiten schafft, dann ist es klar, dass aus dem schlechter gewordenen tatsächlich besseres werden kann. In diesem Sinn ist es denn gut, dass der neue engere Zusammenhang Europas die Exogamie so sehr begünstigt. Nichts kann für alle Völker Europas günstiger sein als der Import skandinavischen Bluts. Ein Segen ist in Deutschland jede protestantisch-katholische Mischehe, denn der deutsche Katholik ist unter allen Umständen der Träger eines älteren Kulturerbes und der Protestant, umgekehrt, die stärkere und freiere Kraft. Eine wahre Gnade für die Unterschichten ist jede Zumischung von Kulturblut durch Bastardierung oder dank Frauen, welche in jene hinabtauchen. Ja, wer will sagen, ob nicht auch die Zumischung jüdischen Bluts, sofern sie nicht zum Rassentode führt, sich auf die Dauer als günstig erweisen wird? Sicher wird sie Intelligenz und Sensibilität verfeinern. Noch fehlen in Deutschland alle Anhaltspunkte zur Beurteilung dessen, was jüdische Zumischung auf die Dauer wirkt. Aber Spanien hat sie kaum geschadet. Dort fließt dieses Blut wohl in den meisten Adern, denn zur Zeit der katholischen Könige war ein sehr hoher Prozentsatz aller Bürger und Adligen jüdischen Bluts, diese wurden zwangsbekehrt, und in den ersten Zeiten wurde die Rassenfrage nicht gestellt. Im Glauben an den hohen Prozentsatz jüdischen Bluts im Spaniertum bestärkt mich der spanische Castizo, jenes extreme Nachdrucklegen aufs Blut der späteren Zeiten: dies wäre kaum erfolgt, wenn nicht die Unreinheit des Bluts die Regel gewesen wäre. Ja, wer weiß, ob sogar Negerblut für die Dauer schadet? Das so überaus häufige Wollhaar der Italiener geht gewiss auf schwarze Sklaven der Römerzeit zurück. Puschkin und Alexandre Dumas hatten beide schwarze Urgroßväter. Und was das gelbe Blut betrifft, so ist gar der Begründer der Paneuropa-Bewegung Halbblut-Japaner. Nein, gegen Mischung ist a priori nichts zu sagen, denn alles bestehende sogenannte reine Blut geht an irgendeinem Punkt auf stabilisierte Mischung zurück.

Vor allem aber gleicht sich auf die Dauer jede Spannung, die Bedingung aller Werteverwirklichung, aus, und da gilt es neue zu schaffen. Und hiermit gelangen wir zum eigentlichen Problem des Europäertums, dem Problem seines besonderen Stils. Der lebendige Europäer ist etwas anderes als der Franzose, Engländer, Deutsche usw. als sich selbst letzte Instanz, wie das Gemälde eines Rembrandt ein anderes ist gegenüber dem eines Meissonier. Und daraus folgt: nicht nur die Gesamtsynthese des Menschen, auch seine Komponenten müssen beim Europäer andere sein, als sie es bei den bisherigen Nationen waren. Jede Veränderung im Gesamtorganismus findet in der Veränderung jeder Zelle ihre Spiegelung; jeder neue Gesamtzustand schafft von sich aus andere Bestandteile. Und tatsächlich sterben die alten: wir erlebten heute keine so frenetischen Wiederbelebungsversuche seiner, vom altpreußischen Monarchismus bis zum Wotanskult, von den Ideen der Französischen Revolution bis zu Cäsars Idee von der natürlichen Grenze der lateinischen Welt, wenn dieses Alte nicht dem natürlichen Tode nahe wäre. Der ökumenische Mensch kann, in der Tat, weder Altpreuße noch Kurhesse, noch Franzose Poincaréscher Artung, noch ein John Bull sein. Seine Weite schließt von sich aus viele Gestaltungen aus. Hier ereignet sich denn das gleiche Wunder, das sich in jeder organischen Metamorphose, von der embryonalen Entwicklung bis zur Vererbung, zeigt. Gewisse Gestaltungen vergehen ganz. Andere vererben sich als unsichtbare oder latente, andere als sichtbare Gene. Zu Beginn dieses Kapitels sahen wir, wie Alt-Indien, Ägypten, China, Judentum, Hellas, Rom und europäisches Mittelalter unvermischt im Menschheitskörper fortleben. In Jesus der Magier und Geisteskindschaft habe ich gezeigt, wie im gleichen Sinne alle großen Geister persönlich fortleben, ob man sich ihrer bewusst erinnert oder nicht. Nun, ganz im gleichen Sinne werden die echten Stileinheiten des bisherigen Europas von selbständigem und allgemeinem Wert auch im neuen fortleben. Aber auch nur die werden es tun; alle bloßen Provinzialismen, erst recht natürlich alle Un-Formen, werden ganz vergehen. Und das sollen sie auch: Besseres kann an die Stelle des Früheren treten, und vom Menschen als biologischer Einheit sowohl wie als Gottes-Kind geht dabei nichts verloren.

Dies führt uns denn zur Frage der Blutmischung zurück. Selbstverständlich ist jede Stileinheit als solche eine rein geistige Einheit. Und sie ist, wo es sie gibt, das Primäre; der neue Sinn schafft einen neuen Tatbestand; ja neuer Sinn belebt neu sogar im Verstände physischer Vitalisierung; so war die Wirkung des Christentums und des Islams im Mittelmeerbecken, so ist es heute die des westlichen Geists in der östlichen Welt. Aber soll eine neue Stileinheit entstehen, dann müssen die alten Gestaltungen auch auf ihrer Ebene eingeschmolzen werden; es muss auch eine rein physische Verjüngung stattfinden. Dies ist denn der Grund, warum noch keine Kultur anders wie im Zusammenhang mit neuer Blutmischung geboren ward. Zwischen physischer und geistiger Verjüngung besteht ein Entsprechungsverhältnis: einerseits verjüngt jeder neue geistige Impuls als solcher; andererseits ist die Rezeptionsmöglichkeit neuer Geistesimpulse an physiologische Lockerung gebunden, weshalb es doch immer neue Völker sind, die die neuen Impulse übernehmen; denn recht eigentlich darum handelt es sich schon, wenn neue Schichten hochkommen oder die Angehörigen des gleichen Glaubens aus verschiedenen Stämmen untereinander freien. Ohne eine günstige neue Blutmischung ist Völkerverjüngung aus dem gleichen Grund nicht möglich, wie Verwandtenehen für die Dauer verderblich wirken. Heute nun bedarf es solcher Verjüngung wie nie seit der Völkerwanderung. Die neuentstehende Welt erscheint in bezug auf die alte dermaßen neu, die Verwandlung reicht dermaßen tief ins intimste Zellengewebe hinein, dass die alten Kristallisationen nur mehr hemmend wirken. Und schon seit lange bereitete sich die Krisis auch auf dieser Ebene vor. Es war kein Zufall, dass in den Adern so außerordentlich vieler repräsentativer Geister des letzten halben Jahrhunderts Judenblut floß; der Mischtypus des Amerikaners könnte nicht so allgemeinwerbende Kraft beweisen, wenn er nicht eben die Manifestation eines neuen Einsinnigen, Positiven, Zeitgeistgemäßen ermöglichte; schon seit längerer Zeit lassen sich bei beinahe jeder höheren Intelligenz unter Engländern irische oder wenigstens schottische Vorfahren nachweisen. Gleiches und ähnliches muss in der nächsten Zukunft immer stärker in die Erscheinung treten. Frankreichs beste Zukunftsgewähr sehe ich in diesem Sinn in der großen Anzahl russischer Emigranten, die es bevölkern; das russische Blut wirkt nämlich überall als Dissolvens; bei der großen Starrheit der heutigen französischen Seelenstruktur ist Lockerung das eine, was ihr nottut. Und so muss sich auch der Deutsche in vielen Hinsichten wandeln, wenn er als Volk europagültig werden will. Er muss sich verfeinern, sich seelisch differenzieren, höheren Formensinn ausbilden, größere Haltung gewinnen. Ja, der Deutsche muss als Nationaltypus das werden, was er als großer Einzelner immer war: mehr als Nur-Deutscher. Er muss das werden, was einmal als politisches Ungebilde eines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in die Erscheinung trat. Zu welchen großen Deutschen gehörte die romanische Form nicht notwendig hinzu? Man abstrahiere von Goethes klassischer Bildung und seiner Sehnsucht nach Klassik, und er wäre nicht da. Gleiches gilt heute von Stefan George. Gleiches gilt von Friedrich II., dem Hohenstaufen, von Friedrich dem Großen, von Bismarck, dem ersten Meister, am Hof Napoleons III., des französischen esprit. Das Gleiche galt ganz allgemein vom gesamten deutschen Adel: dessen Normen waren und sind allgemein romanischen Ursprungs, denn dem Deutschen fehlt ursprünglich der Sinn für Form. In Hölderlin war wiederum Griechentum persönlich lebendig, in Nietzsche Romanen- und Slawentum, ebenso in Leibniz. Gerade der deutsche Geist war in seinem Höchstausdruck immer mehr als deutsch; daher wohl der besondere Nationalismus der qualitätsfeindlichen deutschen Massen…

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Europa
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