Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Ursprung und Wesen

Soviel von der Seele. Wie steht es nun mit der Unsterblichkeit? Haben wir wirklich ein Recht, diesem Begriff so allgemeine Gültigkeit zuzugestehen, wie dies gewöhnlich geschieht? — Auch diese Verallgemeinerung und Übertragung unserer Denkart erweist sich bei genauerem Hinsehen als hinfällig. Gedenken wir bloß der Ägypter, des Volks, das sich wohl am Gründlichsten von allen mit dem Jenseits befasst hat: sie wussten von einer Unsterblichkeit in des Wortes strenger Bedeutung nichts.

Je ne saurais dire, schreibt Maspero, que l’âme égyptienne fût immortelle. Son existence était identifiée au cours du soleil et en suivait les phases: elle naissait à la vie comme le soleil à la journée, passait, de même que le soleil, à travers les ténèbres de la nuit pour renaître au matin d’un jour nouveau. La vie terrestre n’était à proprement parler qu’un des jours de l’âme, un des devenir — c’est l’expression égyptienne — qu’elle subissait sans cesse. L’âme mourait d’une vie dans l’autre, et chacune de ces vies avait devant elle un infini de durée, comme elle avait un infini de durée derrière elle.

In ähnlichem Sinne sterblich erscheinen die Seelen allen den Völkern, die an die Metempsychose glauben; die wandernde Seele stirbt von einem Leben ins andere, erwacht jedesmal in neuer Gestalt, mit neuen Eigenschaften. Eine Kontinuität des Bewusstseins — das Hauptpostulat der christlichen Psychologie —, ja auch nur des Charakters, nimmt keine dieser Religionen an. Eine unbewusste, unpersönliche Unsterblichkeit sieht aber für christlich-europäische Augen der Sterblichkeit gar ähnlich.

Die Vorstellung, nach endlichem Erdenleben unsterblich zu werden, zeugt übrigens für unreifes Denken: denn unsterblich kann man bloß sein; die Kategorie der Ewigkeit schließt jede Zeiteinteilung aus. Darum können zeitliche Ereignisse, wie der Tod, die Ewigkeit nicht in Frage stellen. Hier hat die christliche Dogmatik nicht immer klar gesehen. Um so mehr spricht es, für die Tiefe des Griechengeistes, dass er sich ein Unsterblich-werden (das Schicksal weniger auserlesener Helden) nur so vorzustellen vermochte, dass der Tod überhaupt ausblieb; wer in die Ewigkeit einging, starb auch zeitlich nicht. Nur göttlichen Wesen kam nach hellenischer Überzeugung Unsterblichkeit zu, daher wurde der begnadete Mensch unmittelbar zum Gott erhoben. Des Menschen natürliches Wesen galt nicht für göttlich, und die Unsterblichkeit der Seele als solcher, vermöge ihrer eigenen Natur und Beschaffenheit, ist deshalb auch nie Gegenstand hellenischen Volksglaubens gewesen1. Die Athener mögen zunächst den Kopf geschüttelt haben, als Plato ihnen seine ideale Eschatologie verkündete … Ja — die Idee einer natürlichen Seelenunsterblichkeit, im Unterschied von einer Auferweckung durch Gottes Gnade, gehörte sogar zum Wesen des frühesten Christentums nicht. Bei richtiger Betonung des Gegensatzes von Natur und Gnade erscheint als paulinisch wenigstens die griechische Überzeugung, dass in Wahrheit nur Gott Unsterblichkeit zukommt2.

Wie lässt sich in der Tat der Glaube an natürliche, unvermeidliche Unsterblichkeit mit der Tatsache der wesentlichen Zeitlichkeit und Vergänglichkeit aller Kreatur vereinen? — Ohne metaphysische Voraussetzungen überhaupt nicht, wofern nicht aufs Denken verzichtet und der wundersüchtigen Phantasie nicht unbegrenzter Spielraum gelassen wird. Die Ewigkeit Gottes, die Vergänglichkeit des Menschen sind an sich unvermittelbare Gegensätze, können bloß durch übernatürliche Eingriffe gewaltsam überbrückt werden. Nur in einem Fall kann die individuelle Seele von Natur unsterblich sein: wenn sie selber göttlichen Wesens, göttlichen Ursprungs ist. Dies ist die Lehre der Mystik aller Länder und Zeiten gewesen. Indessen setzt deren volles Verständnis solche Tiefe und Denkkraft voraus, dass wir uns nicht wundern dürfen, wenn sich nur die wenigsten Kulturen und Menschen überhaupt zu ihr aufgeschwungen haben. Der schärfste Geist vermag, falls ihm die innere Anschauungskraft des Mystikers fehlt, eine göttliche Immanenz im zeitlich-sterblichen Wesen nicht zu fassen. Deswegen mussten gerade die verstandeshellsten Völker, sofern sie, wie die Griechen, amystisch waren, dem Gedanken persönlicher Unvergänglichkeit am Fremdesten bleiben; deshalb ist der Unsterblichkeitsglaube in unserem Sinn nichts weniger als ein Gemeingut der Menschheit. Zwar gibt es wohl kaum ein Volk, das im Tode ein absolutes Ende sähe. Doch ist von dieser negativen Einsicht bis zum positiven Glauben an persönliche Fortdauer im christlichen Sinn ein weiter Weg, der nicht immer betreten ward und nur selten zu dem uns natürlich scheinenden Ziele geführt hat3.

1 Vgl. Rohde, Psyche II, 378.
2 Vgl. Georg Runze, Die Psychologie des Unsterblichkeitsglaubens und der Unsterblichkeitsleugnung, Berlin 1894, S. 166; Aug. Sabatier, Mémoire sur la notion hébraïque de l’esprit, S. 33 u. a. m.
3 So bedeutet das zukünftige Leben, an das primitive Völker meistens glauben, eher eine continued existente, than immortality wie Tylor sich ausdrückt. Vgl. Primitive Culture II ch. XII.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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