Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Todesgedanken

Endlichkeit

Wenn wir zu einer über- oder außerzeitlichen Welt gehören, so muss dies unabhängig vom zeitlichen Geschehen der Fall sein: philosophisch ist dieser Satz evident, bedarf keiner näheren Begründung. Doch pflegen erkenntniskritische Erwägungen nur in seltenen Fällen das menschliche Denken zu leiten. So finden wir das Ewigkeitsproblem überall mit einem anderen verknüpft, das mit ihm dem Wesen nach gar nichts gemein hat: mit dem Problem des Sterbens. Der Tod ist eine empirische Tatsache, ein zeitliches Ereignis; als solches kann er zur Ewigkeit in keiner unmittelbareren Beziehung stehen, als die Geburt, der Stoffwechsel oder das Altern. Sind wir von Grund aus unvergänglich, so kann uns der Tod nichts anhaben. Allein zur Erlangung dieser Einsicht bedarf es der kritischen Besinnung. Ja, die Wenigsten sind sich auch nur des Einen bewusst, dass der Tod ein natürliches Phänomen bedeutet: dem unphilosophischen Menschen erscheint er vielmehr als etwas Unnatürliches, Willkürliches; als etwas, das ebensogut nicht da sein könnte und jedenfalls besser nicht da wäre.

Dies hängt zunächst damit zusammen, dass der Begriff des Notwendigen in seiner kritischen Bedeutung dem primitiven Denken kaum überhaupt verständlich ist. Wo immer eine Erscheinung für uns den Charakter gesetzlicher Notwendigkeit trägt, erscheint sie dem Primitiven als willkürlich. Am Allerwenigsten eignet diesem der Begriff des Natürlichen: er kennt nur das Selbstverständliche, d. h. das, worüber er gar nicht nachdenkt, und dann gleich das Wunder. So denkt nicht nur der Wilde, sondern (unbewusst) wohl jeder Naive und überaus häufig das Weib. Jener zieht angesichts schwerverständlicher Erscheinungen am Liebsten sofort das Mirakel zur Begründung herbei: denn an diesem besitzt er eine präzise, verständliche, erschöpfende und letztmögliche Erklärung, die durch nichts widerlegt werden kann; während ihm naturgemäße Interpretationen immer zweifelhaft bleiben. Beim Phänomen des Todes ist nun eine solche wirklich unmöglich, solange das Sterben aus Vernunftgründen erklärt, nicht aus dem Gegebenen heraus begriffen werden soll. Denke ich a priori, rein logisch, ohne Berücksichtigung der Erfahrung über den Tod nach, so leuchtet seine Notwendigkeit nicht ein. Es wäre entschieden vernünftiger, wenn es keinen Tod gäbe. So müssen denn die abenteuerlichsten Mythen über das Vernunftwidrige hinweghelfen: der Mensch sei ursprünglich unsterblich gewesen, heißt es, und der Tod sei der Sünde Sold; Gott habe ihn als Strafe der Menschheit auferlegt. Wie der Psalmist sich großartig ausdrückt:

Das macht Dein Zorn, dass wir so vergehen, und
Dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen
(Psalm 90, 7).

Ja, die Mythologie verstieg sich gelegentlich so weit, eine Erlösung vom Tode zu verkündigen, die durch die Tat eines einzelnen Helden bewirkt werden würde. Das Natürliche muss eben, da kein Vernunftgrund zureicht, wenigstens moralisch gerechtfertigt werden. Und moralische Begründungen auch des Schlimmsten gelingen, da des Menschen Gewissen gemeinhin ein schlechtes ist, verhältnismäßig leicht.

Das philosophische Denken verfährt vorsichtiger. Es weiß aus bitterer Erfahrung, dass die Natur aus Vernunftgründen nicht erklärt, sondern nur aus den Bedingungen ihrer Erfahrbarkeit heraus begriffen werden kann. Die Frage, warum die Welt so und nicht anders sei, ist unbeantwortbar. Der kritische Philosoph ist wesentlich bescheiden. Er sucht kein einzelnes Phänomen zu rechtfertigen, erkennt vielmehr alle rückhaltlos an. Er macht sich mit dem Faktischen vertraut und forscht fortan nach dem Sinn des Geschehens, nach den Gesetzen, die dasselbe lenken. Mehr vermag er nicht. Und wer von diesem Standpunkt aus an das Todesproblem herantritt, der könnte, weit entfernt davon, sich über den Tod zu wundern oder dessen Dasein zu missbilligen, eher geneigt werden, ein bekanntes Voltaire’sches Witzwort für diesen Fall umzuprägen:

Si la mort n’existait pas, il faudrait l’inventer.

Wie wäre in der Tat eine todlose Weltordnung denkbar, einmal gesetzt, dass es stetig neu entstehende Individuen gibt? In einer endlichen Welt, ohne das Regulativ des Todes, hätten Adam und Eva kinderlos bleiben müssen. So ist es der Biologie leicht genug gefallen, im Tode ein Hilfsmittel des Lebens nachzuweisen, anstatt seinen erbittertsten Feind1. Aber es ist nicht einmal nötig, biologisch gebildet zu sein, um die Zweckmäßigkeit des Sterbens einzusehen — es genügt, die Augen zu öffnen, sich auf sich selbst und seine Erlebnisse zu besinnen: Kinder und Eltern missverstehen einander, geraten gewöhnlich in Gegensatz; alte Künstler finden kein Verhältnis zu den jungen und umgekehrt; Sitten und Anschauungen veralten so eigentümlich schnell, dass die Meisten sich schon ihrer Großeltern Jugendzeit kaum ohne Lächeln zu vergegenwärtigen vermögen; in die Denkweise verflossener Jahrhunderte können wir uns nicht zurückversetzen, während umgekehrt keine Koryphäe der Aufklärungszeit das Leben unserer Epoche aushielte; die meisten Greise sind missvergnügt, fühlen sich fremd in einer neuen Zeit, die grausame Jugend jedoch, ob sie sich’s eingesteht oder nicht, wartet mit wachsender Ungeduld darauf, dass die Alten ihr Platz machen, fühlt sich im tiefsten Sinn berechtigt dazu, ihre Stelle einzunehmen, empfindet es instinktiv als Unrecht, wenn jene zu lange säumen —: schon diese rein sachlichen, jedermann zugänglichen Erwägungen beweisen, wie streng alles Leben an die Zeit gebunden ist; und wer Zeit sagt, meint zeitliche Grenzen. Aber besinnen wir uns auf uns selbst, auf unsere ursprüngliche Lebensauffassung: dünkt dieser das Sterben wirklich ein Unnatürliches? Freilich: dem kritischen Augenblicke selbst jauchzt wohl keiner entgegen; auch möchte mancher seine mutmaßliche Dauer beträchtlich verlängert wissen. Doch ein Ende überhaupt wünscht jeder, der sich nicht absichtlich täuscht. Rein abstrakt betrachtet, oder nach astronomischem Maß gemessen, bedeuten siebzig Jahre nicht viel; aber wie lang kann uns schon ein einziges scheinen! Ich selbst — im Augenblicke, da ich dieses schreibe, kaum dem ersten Vierteljahrhundert entwachsen — habe das Gefühl, schon unendlich lange dagewesen zu sein; und oft schaudert mir bei der Möglichkeit, mein Leben könne noch vierzig Jahre dauern. Jedenfalls käme mir schon jetzt, wenn der Tod mich überraschte, keinesfalls der Gedanke, ich müsste zu früh von hinnen. Und doch lebe ich so gern als nur irgendeiner.

Die Endlichkeit liegt uns im Blut, ist die Voraussetzung auch des Unsterblichkeitsbedürfnisses. Unser Zeitgefühl ist nicht mathematischen, sondern lebendigen Ursprungs, richtet sich nach dem eigentümlichen Charakter des Lebensprozesses, nicht nach objektiven Normen. Wer schnell lebt, dem können vierzig Jahre eine Ewigkeit dünken; wessen Blut langsam rinnt, der hat an achtzig kaum genug. Aber einmal schlägt jedem die Stunde, da er sich nach dem Ende sehnt. Seine Spannkraft ist erschöpft; er kann sich den neuen Verhältnissen nicht mehr anpassen; im Ewig-Menschlichen sieht er nur Wiederholungen, eine unfruchtbare Tautologie — nun, dann kommt der Tod als Erlöser. Auch das vollkommenste Schauspiel muss ein Ende haben. — So wünschen wir alle instinktiv den Tod, ob das Bewusstsein auch anders urteilen mag. Die Erde wäre unbewohnbar, wenn es kein Sterben gäbe. Dieses ist, wie die Dinge einmal liegen, eine der Hauptbedingungen des Lebens, wie der Mensch es liebt.

Doch zu dieser Einsicht, aus welcher logisch die weitere folgt, dass der Sinn des Lebens sich im einzig konkret Gegebenen, in der Person, nicht erschöpfen kann, gehören eine Abstraktionskraft und eine Vorurteilslosigkeit, die das naive Denken nicht besitzt. Und die σωφϱοσύνη gar, die dazu gehört, die Frage: wie entsteht Erfahrung? in die bescheidenere: was enthält sie? umzuwandeln, war überall das reifste Produkt einer reifen Kultur. Das germanische Europa ist erst mit Kant dahin gelangt. Nur von diesem zweiten Standpunkte aus ist Wissenschaft möglich. Die erste Fragestellung muss, da sie auf Unergründliches geht, zu Mythenbildung führen.

1 Vgl. von älteren Werken namentlich die Arbeiten Bichat’s und Claude Bernard’s; sodann Weismann’s berühmte Abhandlung Über die Dauer des Lebens (1881) und von neueren Schriften Dastre, La vie et la mort (Paris 1904). Eine vortreffliche Zusammenfassung der modernsten Todesansichten bietet ein Vortrag Richard Hertwigs Über die Ursache des Todes, abgedruckt in der Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung vom 12. und 13. Dezember 1906.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME