Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Dauer und Ewigkeit

Tod und Geburt

Wir schlossen mit der Feststellung der Tatsache, dass unser innerstes Selbstbewusstsein von einem fortwirkenden Prinzip in uns zeugt, das ins Unendliche hinausweist. Jetzt gilt es, diesem Faktum kritisch näherzutreten. Wir wollen nicht spekulieren, keine Möglichkeiten aus dem Tatsächlichen ableiten; wir müssen so exakt vorgehen, dass kein denkender Antimetaphysiker uns zu widerlegen vermöchte. Nun ist die Unsterblichkeit kein Inhalt möglicher Erfahrung, ein aktuelles Unendliches kann in der Zeit nicht gegeben werden. Auch zu denken ist es nicht, da die Begriffe von Zeit und Ewigkeit verschiedenen Sphären angehören und auf der gleichen Ebene nicht zur Deckung zu bringen sind. Was unaufhaltsam wird, kann nicht in der gleichen Hinsicht ewig sein. — Anders steht es mit dem potentiellen Unendlichen; dieses lässt sich, abgesehen von seiner Verwirklichung und trotz der aktuellen Endlichkeit, seinem Wesen nach begreifen. Denn es drückt keine abgeschlossene Wirklichkeit, sondern eine fortwirkende, grenzenlose Möglichkeit aus, die Möglichkeit dauernden Werdens; und was in alle Ewigkeit wird, braucht doch in keinem Augenblick zu sein. Dieser Art ist das Unendliche der Analysis; der gleiche Charakter eignet, wie wir erkannten, dem menschlichen Ich; es ist eine fortwirkende Funktion, die ins Unendliche hinausweist. Folglich ist sein Verständnis an seine Verwirklichung nicht gebunden, kann sein Sinn innerhalb des Endlichen begriffen werden. Deshalb muss es möglich sein, innerhalb der zeitlichen Dauer, wie sie der Erfahrung vorliegt, den Sinn der Ewigkeit zu erfassen, im Fall es eine gibt.

Unser nächstes Problem bedeutet somit die Dauer des Lebens. Leben ist nun eine Idee, kein empirisches Phänomen; es liegt jenseits aller Beobachtung, darf daher den Ausgangspunkt einer kritischen Untersuchung nicht bilden. Der Weg der Exaktheit führt vom Besonderen zum Allgemeinen, nicht umgekehrt. Deshalb wollen wir uns zuvörderst der Dauer des Individuums zuwenden zwischen den festen Grenzen des Todes und der Geburt.

Mein Leben äußert sich in zeitlicher, einsinnig gerichteter Dauer. Diese Dauer ist aber keine homogene, besteht nicht aus gleichwertigen Elementen, die sich addieren ließen: jeder Augenblick meiner Existenz ist vom vorhergehenden wie vom folgenden qualitativ verschieden; es ist ein ständiger Wechsel. Mein Leben bedeutet kein statisches, beharrliches Sein, sondern ein Werden, einen Wandel von Verschiedenem zu Verschiedenem. Ich bin ausschließlich in der Gegenwart; sie ist die Form meines Daseins; in der Vergangenheit bleibt bloß mein Schatten zurück. Und wenn dieser mir manchmal gegenwärtiger und greifbarer erscheint als der konkrete, jeweilige Moment, so liegt das an dem, dass mein Bewusstsein mit dem Leben nicht Schritt zu halten weiß: so haftet das Auge an der feurigen Spur des fallenden Meteors, weil es dem Fluge des Sternes nicht folgen kann. Und existiert die Vergangenheit im eigentlichen Sinne nicht, so gilt dies erst recht von der Zukunft. In dauernder Gegenwart schreitet das Leben fort, von Augenblick zu Augenblick; und keiner dieser Augenblicke gleicht dem anderen. Jedes Erlebnis ist einzig, in jedem Moment begrabe ich den vorhergehenden; das Leben wiederholt sich nie. Wo ich dauernd in einem Zustand zu verharren wähne, täusche ich mich; wo ich den Augenblick festzuhalten strebe, will ich das Unmögliche. Eher als dass man sagen könnte, der Mensch lebe unverändert fort, ließe sich behaupten: er sterbe von einer Stunde in die andere. Das Leben steht nicht still.

Die Dauer besteht in stetem Wandel. Wäre unserem Erdenlauf kein zeitliches Ende gesetzt, wir dürften dennoch nicht sagen, das Leben sei ewiges Sein: es wäre ein fortschreitendes Werden. Und zwar ein Werden, dessen quantitativen Etappen Qualitätsunterschiede entsprechen. Die lebendige Zeit ist keiner homogenen Zahlenreihe vergleichbar, wie die mathematische, sie besteht in der Ablösung unvertauschbarer und ungleichartiger Augenblicke, welche sich nicht addieren lassen. Der Ablauf eines Zeitabschnittes bedeutet für den Organismus den Ablauf einer bestimmten Anzahl von Lebensprozessen in seinem Innern. Keiner ist rückgängig zu machen, spurlos vorübergegangen; was einmal geschehen ist, wirkt fort.

Es wirkt in dem Sinne fort, dass der Organismus älter wird. Das Altern — sei es im Sinne des Fortschreitens oder des Verfallens — beweist am Deutlichsten, ein wie wesentlich anderes die Zeit innerhalb des Lebens bedeutet, als draußen in der anorganischen Natur, der wir unseren Zeitbegriff entnehmen, nachdem wir ihn willkürlich in sie hineingetragen. Wohl dauern auch die Sonnen: doch werden sie darum nicht älter; sie sind bloß lange da. Auch ein Stern mag zuletzt zerschellen, nachdem er sich äonenlang durch den Weltraum gewälzt: doch geht er nicht aus innerer Notwendigkeit zugrunde. Ihrem eigenen Wesen nach ist die Materie zeitlos; ein Kristall währt ewig und unveränderlich, falls äußere Einflüsse ihn nicht vernichten. Der Organismus hingegen altert unabhängig vom Charakter der äußeren Bedingungen, es liegt in seiner Natur. Sofern er dauert, muss er sich verändern, nur das Leblose kann wandlungslos beharren.

Über das Wesen des Älterwerdens herrschen immer noch dunkle Vorstellungen; vielleicht, weil gar Wenige sich gemüßigt fühlen, darüber nachzudenken. Der Tatbestand wird als selbstverständlich hingenommen, erscheint den Wenigsten als Problem. Und doch ist es etwas Ungeheures, dass das jubelnde Kind von heute dereinst als enttäuschter Greis in die Welt hinausblicken wird, dass derartige Veränderungen überhaupt möglich sind. Wie kann es nur sein, dass man älter wird? Warum ist es so? Solche Fragen werden selten gestellt. Der Mensch begnügt sich damit, den Naturprozess mit Gefühlen zu begleiten, seine Wegstrecken mit übernommenen Werten zu assoziieren. Es wird nicht gedacht, sondern beurteilt. Die hierbei befolgte Methode ist in den meisten Fällen einfach genug. Vom Knaben heißt es: der ist noch zu jung, warten wir, bis er zur Reife gelangt; vom Greise: nun ist er schon zu alt, bei dem ist nichts mehr zu wollen. Die besten Jahre allein seien das eigentliche; die übrige Lebenszeit gilt teils als Vorbereitung, teils als bedauerlicher Abfall. Alle Entwicklung wird als quantitativer Fortschritt aufgefasst. Mit dreißig Jahren sei man mehr als mit zwanzig, unbedingt; der gereifte Mann verkörpere dank der bloßen Anzahl seiner Jahre einen höheren Wert, als der jugendliche Stürmer. Steht aber die Entwicklung still, wird sie durch langsames Sterben abgelöst — nun, dann sei es eben aus; Resignation sei des Alters unvermeidlich Los. So verwirken nur zu viele ihre Jugend zugunsten des konventionell anerkannten Stadiums, leben auf die Zukunft hin, werden der göttlichen Gegenwart kaum gewahr, da sie ihr nie ins Antlitz blicken. Ist aber das eigentliche Alter überschritten, so grämen sie sich in wehmutsvoller Erinnerung, verscherzen wiederum den goldenen Augenblick. Das Mädchen schaut zur Ehefrau empor, der Student beneidet den Doktor. Und der Schriftsteller glaubt in jedem folgenden Werk über die früheren hinausgestiegen zu sein.

Und doch: über Werther ist Goethe nie hinausgelangt. Wohl hat er später Weiteres, Tieferes, Erhabeneres geschaffen: die verzehrende Glut des Jugendwerkes, die schmerzgeprägte Kraft des ersten Ausdrucks hat er nie wiedergefunden. Und er wusste es wohl. Anstatt, gleich den anderen, von unbedingtem Fortschreiten zu reden, sprach er von seinen verschiedenen Zuständen. Freilich strebte er bis zum letzten Atemzuge, vorwärts zu kommen; er wurde tiefer an Einsicht, reicher an Erfahrung; er fühlte sich im Alter selbstherrlich Situationen und Aufgaben gegenüber, denen er früher unterlegen wäre. Und doch vergaß er zu keiner Zeit, dass dieses Fortschreiten nur in bedingtem Sinne statthätte: in bezug auf gewisse Zwecke, bestimmte Anforderungen. Wie ein Bildnis von Meisterhand in jedem Stadium vollendet ist, als Skizze nicht weniger denn als ausgeführtes Gemälde, und wie es unmöglich ist, die jeweilige Vollendung zu steigern (sie kann bloß einer anderen Art der Vollkommenheit Platz machen): so strebte Goethe in der Lebensepoche nach der Vollkommenheit, zu der sie die Möglichkeit bot, und verkannte nie, dass dieser Vollendungsgrad durch keinen anderen und späteren überschritten und widerlegt zu werden vermöchte. Nichts war ihm Vorbereitung, alles Endzweck. Sein Erdengang erschien ihm als unaufhaltsamer Wandel, als Ablösung gleichwertiger Zustände, wie verschieden ihr Wert aus dem Gesichtswinkel versteinerter Ideale auch erscheinen mochte. Und jedem Zustande gab er sich ganz hin; er erschöpfte sich in der Gegenwart.

Goethe wusste eben, was den Meisten fremd zu sein scheint: dass der Summierung der Jahre keine quantitative Zunahme des Lebenswertes entspricht, sondern eine Folge qualitativ verschiedener Zustände. Deswegen war die Grundstimmung seines Lebens eine so heitere: wer überall am Ende ist, wird im Tode nichts Außerordentliches sehen. Wie vermögen die Gläubigen des absoluten Fortschritts den Gedanken des Sterbens nur zu ertragen? Wer der Meinung ist, mit den Jahren unbedingt weiterzukommen, wer in der Jugend bloß die Vorstufe des Mannesalters, im abgeklärten Greise die höchste Vollendung des ganzen Lebens erblickt, dem muss der Tod als furchtbare Ungerechtigkeit erscheinen, als jäher Absturz vom Gipfel. Das Leben wäre dann wirklich nur eine Vorbereitung zum Tod, und dieser Gedanke ist entsetzlich. Wer hingegen den absoluten Wert der jeweiligen Gegenwart mit seinem ganzen Wesen ergriffen hat, fürchtet das Ende nicht, sieht in seiner Unvermeidlichkeit kein moralisches Absurdum. Und dieser allein begreift das Leben. Das Leben äußert sich in stetem, unaufhaltsamem Wandel, ohne Stillstand noch Endziel. Alles ist Durchgang, nichts beharrt. Kein lebendiger Zustand kann als der endgültige bezeichnet werden; jeder Geburt ist das Sterben eingeboren. Darum ist es ebenso willkürlich als sinnlos, irgendein Stadium als Absolutum hinzustellen, als das einzig gültige anzusehen. Wer dergestalt denkt, der kann sich seiner selbst im tiefsten Sinne nie bewusst geworden sein. Wie das stetig-zahlenmäßige Wachstum der Ätherwellen dem Auge immer neue, unvergleichliche Farben vorzaubert, so erscheint des Lebens ununterbrochener Verlauf in jedem Stadium als neue, einzige Gestalt. Jedes Stadium aber enthält und bedeutet das ganze Leben. Daher kann keines verleugnet werden, wird keines durch spätere dem Werte nach aufgehoben. Ist rot mehr als grün? Welch’ lächerliche Frage! Sie ist aber nicht törichter, als die übliche, und fast immer in bejahendem Sinn entschiedene, ob der Erwachsene mehr sei als das Kind. Er ist anders — weniger oder mehr, je nach den Zwecken, die wir beim Werten im Auge haben. Der absolute Unterschied ist ein qualitativer, kein quantitativer.

Alle Stadien sind an sich von gleichem, unendlichem Wert. Von unendlichem, weil die Unendlichkeit die einzige Dimension der Gegenwart ist. Wie schwer wir an manchen Perioden immer leiden mögen — Perioden der Gärung, der chaotischen Umwälzung, der Undeutlichkeit und Unzulänglichkeit; wie sehr wir geneigt sein mögen, sie rein negativ zu bewerten, sie aus unserer Geschichte zu streichen wir müssen sie bejahen, und zwar unbedingt. Wer irgendeinen Zustand verleugnet, negiert das Leben überhaupt: denn nur die Gegenwart ist. Sie erschöpft die lebendige Wirklichkeit; sie umschließt das ganze Sein. Ihr Charakter aber ist unaufhaltsamer Fluss. Vom Augenblick seiner Geburt bis zur Todesstunde ist der Mensch in Wandlung begriffen; in jedem folgenden Zustande sieht er die Welt anders. Besser? Wer wollte die unschuldige Ekstase des Kindes, das die strahlende Sonne mit seinen Händchen greifen will, durch die Einsichten des gereiften Astronomen widerlegen! Schlechter? Wer wollte die Urteilsklarheit des kühl abwägenden Fünfzigers um der schwülen Jugendträume willen missen? Alle Stadien sind wertvoll, denn jedes von ihnen birgt das ganze Leben, in ewig neuer Gestalt. Der Jüngling ist nicht weitergekommen, wenn er zum Ernst des Lebens erwacht: er ist ein anderer geworden. Und so erscheint der Mensch und mit ihm die Welt fortwährend anders, so lange er sich entwickelt; was war, kehrt nicht wieder, was ist, war noch nie. Ist sein Lebenstempo ein langsames, so gehen die verschiedenen Zustände unmerklich ineinander über, ist es ein schnelles, so grenzen sie schroff gegeneinander ab. In jedem Falle aber ist’s ein anderer, der einst als Kind, nun als Mann, dereinst als Greis in die Natur hinausblickt: so will es der Rhythmus des Lebens.

Das Leben deckt sich nicht mit seinem konventionellen Begriff. Wir wähnen als die Gleichen zu dauern — in Wahrheit wandeln wir uns. Wir glauben fortzuschreiten — der ans Ziel Gelangte ist der nicht mehr, der zuerst nach ihm ausschaute. Das einzig Beharrende ist der jeweilige Augenblick; in der Zeit wird er begraben. Wo wir zu verharren meinen, schreiten wir über unsere eigene Leiche fort.

Media in vita nos in morte sumus;
in jedem Augenblicke sind wir dem Tode gleich nahe.

Dieser Satz ist keine Binsenwahrheit aus dem Treibhause der Wahrscheinlichkeitsrechnung, eine kritische Erkenntnis spricht er aus. Nicht in dem Sinne ist er zu verstehen, dass uns zu jeder Zeit ein Unglück zustoßen kann, sondern dahin, dass jeder Augenblick ein unendliches Leben abschließt, und dass der Tod nur das vollendet, was allezeit geschieht. Man lebt nur einmal in der Welt: von der Sekunde gilt das nicht weniger, als von der gesamten Lebensdauer. Im Jüngling ist das Kind erstorben, im Greise der gereifte Mann. Und stirbt zuletzt der ganze Mensch, so bedeutet das nicht mehr als ein Fermate auf dem Akkord, mit dem sein Leben anhob und welcher der ganzen Symphonie gedämpft zum Grundton diente.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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