Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Mensch und Menschheit

Immoralisten

Eine wichtige Einsicht bescherten uns die letzten Kapitel: dass das Ich, auf welches Selbsterhaltungstrieb wie Unsterblichkeitsbedürfnis sich beziehen, mit der bewussten Person nicht zusammenfällt. Auch für den einzelnen Menschen, in seinem Wollen und Streben, bedeutet diese nicht die letztmögliche Synthese, ebensowenig wie für die Natur. Das Leben dauert auf Kosten des Lebendigen, es durchschreitet die Individuen; und so dauert der einzelne Mensch auf Kosten seiner Zustände, die er unaufhaltsam hinter sich begräbt. Das beharrende Selbst ist ein Unpersönliches, ein Überpersönliches; es wirkt fort, ungeachtet seines Bewusstwerdens, und ohne Bewusstsein kein persönliches Dasein. So spiegelt das Leben des Individuums die Geschichte des Geschlechts; jedes endliche Dasein ist ein Gleichnis des Unendlichen.

Die gewonnenen Erkenntnisse beziehen sich auf den zeitlichen Verlauf des Lebens, und in der Tat kommt nur dieser für das Unsterblichkeitsproblem unmittelbar in Betracht. Aber die Einheit des Lebens äußert sich nicht nur in der Folge, sondern auch im Zusammenbestehen; wie jeder Organismus einen Punkt einer endlosen, stetig verlaufenden Zeitreihe darstellt, ebenso hängt er allseitig von seinen Zeitgenossen im Raume ab. Das Leben ist in jeder Hinsicht, nach jeder Dimension hin eine Einheit. Deswegen dürfen wir uns auf die einseitig-zeitliche Betrachtung nicht beschränken; wir müssen das in der Sukzession erwiesene Verhältnis nun auch im Gleichzeitigen nachzuweisen trachten. Ist es wahr, dass das tiefste Selbstbewusstsein ursprünglich einem Überpersönlichen gilt, dann wird sich das auch in dieser Sphäre feststellen lassen. Und diese Sphäre ist keine andere als die des Sittlichen.

Als Max Stirner nach der Blütezeit der Fichte-Hegelschen Begriffsromantik das konkrete Ich dem absoluten gegenüber zu schützen unternahm (irgendwo schreibt er überaus artig: ich meine gar nicht das Ich, sondern nur mich), erweckte er zunächst kein stärkeres Echo, als dies zu ihrer Zeit den griechischen Sophisten gelang. Was Stirner vor 60 Jahren erstrebte, hatten schon jene bezweckt: den üppig wuchernden Abstraktionen einen sozusagen kategorischen Empirismus entgegenzusetzen. Aber die hellenische Welt hatte wenig Verständnis für individualistische Tendenzen, und nicht viel anders war es zu Stirners Lebzeiten bestellt. Indessen wandelte sich der Geist der Zeit; ein bald extrem werdender Individualismus begann sich zu entfalten, die sittliche Gebundenheit früher Tage schlug in Immoralismus um, und so steht die jüngste Epoche ohne Frage im Zeichen der Stirnerschen Ideale. Dass der Immoralismus keine sehr tiefe Weltanschauung bezeichnet, liegt nun freilich auf der Hand; wer das Bestehende, bisher Anerkannte dogmatisch verneint, ist deshalb noch kein freier Geist. Seine positiven Behauptungen sind meistens seicht, wer ihn zu Ende dachte, versank gewöhnlich in bodenlosem Nihilismus. Trotzdem ist an dieser Weltanschauung eines unsterblich: die intellektuelle Gebärde. Sie hat Dinge in Frage gestellt, die ehedem für selbstverständlich galten, und damit war eine weltgeschichtliche Tat vollbracht.

Aller geistige Fortschritt beruht nämlich ausschließlich darauf, dass das Gebiet des Selbstverständlichen an Umfang verliert. Der Dummkopf wundert sich über nichts, das Befremdlichste leuchtet ihm ein; der Weise kommt aus dem Staunen gar nicht heraus. Noch kein Problem ward durch Verkennung seiner problematischen Natur gelöst; was nie in Frage gestellt ward, bleibt auf immer dunkel. Nur Zweifel führt zur vollen Erkenntnis. Wer zweifelte vor Hume, dass das Transzendente erreichbar sei? Wer vor Kant, dass sich das Dasein Gottes beweisen lasse? — Die Atmosphäre der dumpfen Masse ist das Selbstverständliche, und die großen Geister gleichen gewaltigen Fragezeichen, welche einsam ins Ungewisse hinausragen.

Selbstverständlich war der Menschheit bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts, dass es höhere und reale Synthesen oberhalb des Individuums gibt: die Familie, die Gesellschaft, den Staat, die Menschheit. Niemand — die spärlichen Ausnahmen kommen kulturhistorisch nicht in Betracht, da sie wirkungslos blieben — dachte daran, diese Voraussetzung anzufechten. Auch Kant nicht, der große Kritiker; über diese Prämisse dachte er nicht weiter nach. Daher war es allerdings ein wichtigstes Ereignis, dass sich Männer fanden, die das bisherige Axiom bestritten und behaupteten: es gäbe nichts außer und über dem Einzelnen. Damit war die Ethik für immer aus ihrem dogmatischen Schlummer erweckt.

Man verstehe mich recht: die Bedeutung der Einzigkeitsmoral ist nicht positiven Charakters, sie liegt in dem negativen Umstande beschlossen, dass es ihr gelang, die Selbständigkeit des Individuums gegenüber der Menschheit mit Erfolg zu behaupten. Früher hatte diese These, so oft sie aufgestellt war, niemals ein dauerndes Echo hervorgerufen; sie hatte es nicht vermocht, in die Reihe der Ideen einzutreten, welche, ob anerkannt oder bekämpft, ein für alle Male da sind und die Welt oft wirksamer beherrschen, als Mammon und Schwert; vorher aber existiert eine Idee nicht für die Kulturgeschichte. Wer sich zu Kants Zeiten als Immoralist betätigte, wurde zwar insofern berücksichtigt, als man ihn unschädlich zu machen suchte, doch kam er für die Theorie nicht in Betracht. Jetzt, wo die altgewohnte Prämisse zu wanken begann, veränderte sich das Zeitbild; das bis dahin als selbstverständlich Hingenommene und Geleistete erwachte zum Problem. Wie kommen wir darauf, für Staat und Menschheit zu leben, da es doch in Wirklichkeit nur einzelne Menschen gibt? Wie gelangen wir dazu, unser einziges Leben einem Begriff zu opfern? Es ist in der Tat sonderbar — um so sonderbarer, als die Erfahrung die Begriffe zu rechtfertigen scheint. Völker, denen die Pflicht über den Individualwillen geht, sind nachweislich die starken; aber was heißt sollen, da es nur Einzelwesen gibt, deren jedes nur wollen kann? Wir schätzen den, der sein Leben einer Sache opfert, instinktiv höher, als den Egoisten, aber warum? Schließlich ist jeder sich selbst der Nächste. Bestreite ich letzteres, so bekenne ich mich damit zu einem Dogma, das der Menschheit seit je vortreffliche Dienste geleistet hat, doch wird meine Erkenntnis nicht tiefer darum. Eine Behauptung ist noch keine Erklärung, und bei Postulaten beruhigt sich auf die Dauer kein denkender Mensch.

Die Immoralisten haben also ganz richtig geurteilt, als sie die Paradoxie der klassischen Ethik hervorhoben; diese ist, vom Verstande her beurteilt, alles eher als evident. Damit, dass sie den selbstverständlichen Charakter der sozialen Moral verneinten, haben sie sich ein unbestreitbares Verdienst erworben. Nur machten sie sich das Problem zu leicht: sie wähnten, mit der Negation sei es getan. Sobald sie des problematischen Charakters des Pflichtbegriffes gewahr wurden, riefen sie: es gibt keine Pflicht! Sobald sie entdeckten, dass es in concreto nur Menschen, aber keine Menschheit gibt, verkündeten sie: es gibt keine Synthese oberhalb des Individuums! Und so setzten sie der alten Dogmatik eine neue entgegen, dem Gebot der Entsagung das Postulat des Sich-Auslebens, der Philister­moral die Moral der Anarchie, welche im Grunde nur eine Spielart des Philister­tums bedeutet. Durch solche Behauptungen ist wenig gewonnen, das wahre Verhältnis des Individuums zur Gesamtheit bleibt so dunkel wie zuvor. Der Zweifel bedeutet zwar keine Lösung des Problems, immerhin aber den ersten Schritt zu einer solchen: so bezeichnete Humes Skepsis die notwendige Vorstufe zur Kantischen Kritik. Die negative Dogmatik ist aber nicht besser als die positive, eher schlimmer, und der Immoralismus bedeutet eine schlechthin dogmatische Weltanschauung. Er leugnet jedes Band zwischen Mensch und Menschheit: dadurch wird jedoch die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, dass die Menschen zu allen Zeiten an die Existenz eines solchen Zusammenhangs geglaubt haben, welcher Glaube seinerseits natürlich begründet sein muss. Die Immoralisten sind als Kritiker auf halbem Wege stehen geblieben: sie gingen über den Zweifel, das Infragestellen nicht hinaus. Als Dogmatiker aber haben sie, wie üblich, nur ein Bruchteil der Erfahrung berücksichtigt. Tatsache ist, dass es in concreto nur Individuen gibt, gewiss: ihr steht aber das nicht minder gewisse Faktum gegenüber, dass alle edleren Triebe des Menschen über die Person hinausweisen. Diese Fakta scheinen sich zu widersprechen, doch lässt sich keines durch das andere aufheben. Auch die klassische Moral fußt auf sicherer empirischer Grundlage, ja die Grundtriebe der Seele sprechen zu ihren Gunsten, von welchen der Immoralismus aus guten Gründen schweigt. Somit hat die Ethik der letzten Jahrzehnte wohl Fragen aufgeworfen, aber keine haltbaren Antworten für sie gefunden. Das eigentliche Problem des Moralkritikers ist ihr nicht einmal aufgegangen: es besteht darin, die Beziehung zu entdecken, die auf notwendige Weise den Menschen mit der Menschheit verknüpft. Denn dass eine solche in irgendeiner Form besteht, unterliegt keinem Zweifel.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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