Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Individuum und Leben

Vernunft der Natur

Wahrhaft erschütternd wirkt der Gedanke, dass der Einzelne nur ein belangloses Glied überindividueller Synthesen sein sollte. Ursprünglicher Trieb jagt die Menschen für Ideen in den Tod; und wo der Instinkt versagt, tritt bewusste Einsicht an seine Stelle. In der Tat ist das Unerklärliche zu allen Zeiten begründet worden. Kein Weiser hat gezweifelt, dass es ein Höheres als das individuelle Dasein gibt, der bewusste Geist folgt willig dem Weltprozesse.

Der Mensch weiß meistens, was er tut, wenn er sein Leben zum Opfer bringt; das Tier weiß es sicherlich nicht, und doch verfährt es nicht anders. Mich dünkt: in diesem Nicht-Wissen liegt noch größeres Pathos beschlossen, als in der Kraft bewusster Selbstverleugnung.

Der Bienenstaat! Hier bedeutet der Einzelne nichts, die Gesamtheit alles; solche Opferfreudigkeit, solches Pflichtgefühl findet sich nirgends unter Menschen. Das Leben der Biene ist Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Kaum je ein Augenblick der Ruhe. Sie schafft und schafft und schafft weiter … und doch nie für sich selbst. Es gilt, die Königin zu hüten, die Brut zu ernähren, den müßigen Drohnen zu wehren. Unbedenklich opfert sich die Arbeiterin dem Gesamtwohl. Auch die Königin ist sich selbst nicht Zweck: sie ist der Hort der Zukunft, sie muss für die Gesamtheit gebären. Ihr Leben verzehrt sich in ihrem Beruf.

Und die Gesamtheit ist unerbittlich gegen das Individuum. Die unfruchtbare oder allzubetagte Königin wird abgetan, die sieche, arbeitsunfähige Arbeiterin ausgewiesen, wenn nicht gar hingerichtet; und ist die Königin befruchtet, dann müssen die Drohnen sterben. Ein ehernes, unpersönliches, drakonisches Gesetz beherrscht den Bienenstaat. Das jeweilige Leben erscheint als bloße Etappe, als Etappe zur Zukunft.

Dabei wissen die Bienen schwerlich, was sie tun. Nein, sicher nicht: denn je bewusster die Menschheit wird, desto milder erscheint sie. Kein europäischer Herrscher wagte es mehr, auch das erbärmlichste Menschenleben als bloßes Mittel zu betrachten; je mehr bei uns das Denken überwiegt, desto humaner empfinden wir. Die höchste Einsicht ist der Güte vermählt. Und doch ist das grause Gesetz des Bienenstaats erschreckend vernünftig; es ist vielleicht die Vernunft, die souveräne, unerbittliche Vernunft der Natur.

Die Gesamtheit des Menschendaseins ist den Tatsachen nach nicht weniger grausam, nicht weniger rücksichtslos gegen den Einzelnen als das Leben des Bienenstaates. Überschauen wir aus ferner, verkürzter Perspektive die Geschehnisse der menschlichsten Epochen, die Taten des sublimsten Idealismus, so ist das Bild, das sich vor uns entrollt, nicht tröstlicher, als das des Immenlebens. Wird hier der Einzelne aus blinder Notwendigkeit geopfert, geschieht es dort aus Gründen der Menschlichkeit. Die ewige Liebe, der Christen Leitmotiv, hat nur zu oft das Schwert aus der Scheide gerissen, den Scheiterhaufen entzündet; die Menschenrechte äußerten sich zunächst in der Gleichheit vor dem Beil; die Menschenliebe hat die Folter der lebenslänglichen Haft erfunden, und das sozialistische Gesellschaftsideal, das die Natur zu überwinden, jedem Einzelnen das absolute Glück zu bringen verheißt, beginnt seinen Einzug mit Umsturzplänen, welche diejenigen Attilas an Milde nicht wesentlich übertreffen. Was die Menschen auch denken und wollen und glauben mögen: ihr tatsächliches Verhalten bleibt in den Grundzügen das gleiche.

Wie steht es da mit der bewussten Einsicht? — Soviel sie zu leisten vermöchte, noch hat sie wenig vollbracht. Noch sind die Urgewalten der Psyche im Ganzen mächtiger als die lichten Götter. Noch werden wir von unserer Natur mehr gelebt, als dass wir selber leben. Aber das Bewusstsein ist doch ein köstlich Geschenk: es ermöglicht uns, das Grausige freundlich zu verstehen, zum Verderblichen wenigstens edle Motive zu ersinnen. Wohl opfern auch wir das Individuum der Gesamtheit: doch tun wir es zu seinem Wohl. Wohl strebt auch der Mensch unaufhaltsam der Vernichtung entgegen: doch nennt er’s die Fahrt nach dem Glück. So mag auch die Biene in ihrem unpersönlichen, selbstlosen Verhalten ihre höchste Befriedigung finden. Gegen unsere Deutung ihres Lebens erhöbe sie vielleicht empörten Widerspruch.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME