Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Individuum und Leben

Der Tod ist überwunden

Wie erscheint das Unsterblichkeitsproblem im Licht unserer jüngsten Erkenntnisse? — Wie der Lichtstrahl in alle Ewigkeit durch den Weltraum schießt und fortleuchtet, wenn das Gestirn, das ihn entsandte, schon längst verloschen ist, so ist keine Macht imstande, das Leben, das uns beseelt, zu vernichten. Je näher wir dem Sinn des Einzelwesens kamen, je deutlicher wir seinen transitorischen Charakter erfassten, desto lebendiger ward uns zugleich die Erkenntnis, dass sein Wesen unzerstörbar ist.

Und diese Wahrheit ist uns keine antithetische mehr. Wir scheiden nicht mehr schroff zwischen Idee und Erscheinung, zwischen unsterblichem Funken und zerfallendem Staub. Aus der ursprünglichen Antithese sind wir zur Synthese emporgestiegen: wir fühlen uns ewig, weil wir sterblich sind. Gerade in der Vergänglichkeit beweist sich die Unzerstörbarkeit; drohte uns nicht der Tod, wir könnten nicht ewig sein; denn nur dem, was vorübergeht, ist Dauer beschieden. Das Sein des Lebens äußert sich eben im Wandel, in der Bewegung, im Vergehen. Wie die Musik nur ist, sofern sie verklingt, so blüht das Leben nur im Schwinden auf. Hier fällt jeder Stillstand, jede fortdauernde Identität mit dem Nicht-Sein zusammen.

Wir fühlen uns ewig, weil wir sterblich sind. Von Stunde zu Stunde wandeln wir uns; ein Zustand stirbt in den andern hinüber. Das konkrete Leben löst sich beim Einzelnen nicht weniger hastig ab, als in der Folge der Geschlechter. Wir staunen über die Metamorphosen, die verschwimmenden Übergänge der aufeinander folgenden Lebensverkörperungen in der niederen Tierwelt: unsere eigene Dauer bietet das gleiche Schauspiel dar. Nur insofern wir dem Grabe zusteuern, leben wir; nur insofern die Gegenwart uns schwindet, dauern wir; nur insofern wir uns verändern, beharren wir. Nur in diesem fließenden Werden offenbart sich das beständige Sein.

Daher deckt sich die Fortdauer mit dem Vergehen. Ein Leben, das nicht von Augenblick zu Augenblick stürbe, ist gar nicht auszudenken; ersehne ich ein anderes, so wend’ ich mich vom Leben ab. Denn der einzig mögliche Sinn aller Individualität, sei sie ausgesprochen oder kaum angedeutet, zugleich ihr Ewigkeitswert, liegt gerade in ihrer Relativität; nur insofern sie ein Stadium ist, ist sie zugleich ein letzter Zweck. Man ersinne eine Kraft, die nicht Bewegung, nicht Wandel, die als Ruhe greifbar wäre: sie wäre auf alle Fälle keine Kraft. Sie wäre dann nicht unzerstörbar, nicht unendlich; sie wäre überhaupt nicht. Gerade so steht es mit den einzelnen Menschen. Man nehme ihnen den transitorischen Charakter: zugleich raubt man ihnen die Unsterblichkeit.

Will ich leben, so heißt das: ich strebe nach dem Grab. Je länger oder je intensiver ich lebe, desto mehr schwinde ich zugleich. Ich sterbe jeden Augenblick, meine letzte Stunde wiederholt nur die erste. Will ich unendlich leben, so bedeutet das: mein Wille weist über mich hinaus. Will ich die Ewigkeit, so verneine ich meine Grenzen. Und wenn ich erfahre und fühle, dass ich ewig bin, so bekenne ich damit, dass die Schranken der Individualität mein Wesen nicht beschränken.

So ist denn der Wille zum ewigen Leben im tiefsten Grunde identisch mit dem Willen zum zeitlichen Tod. Das Ich, auf das der Selbsterhaltungstrieb, auf welches das Unsterblichkeitsbedürfnis sich bezieht, ist ein Überpersönliches. Der letzte Sinn, der höchste Wert der Person liegt in ihrer Sterblichkeit.

Welchen Abgrund kleinlichster Bescheidenheit bedeutet nicht die Todesfurcht! Das Leben rollt durch uns hindurch, brandet gegen seine Schranken; alle Triebe der Seele weisen ins Grenzenlose hinaus: und das Bewusstsein sollte gerade an den Grenzen hängen? — Das Bewusstsein täuscht sich nur zu oft über seine tiefsten Beweggründe, steht der Natur nicht selten im Wege; es vermisst sich zu gebieten, wo es nur folgen kann.

Ich sagte: der Wille zur Ewigkeit impliziere den Willen zum Tod. Denken wir an die höchsten, die ewigen Augenblicke des Lebens — die Augenblicke der Liebe, der Begeisterung, der gottgegebenen Inspiration; was bedeuteten sie, wenn sie nicht flüchtig wären? Welches Glück beglückte uns wohl, wenn ihm kein Ende bevorstände? Welchen Wert hätte das Einzeldasein, wenn es nicht einzig wäre? Nur deshalb gibt es ein Glück, weil es zur Neige geht. Was nicht vergeht, wir können’s nicht erleben, was uns nicht flieht, das können wir nicht halten; nur das Verfließende gehört uns ganz.

Schauen wir dem Tode kühn und gelassen ins Antlitz. Er vollendet das Leben nicht nur den Tatsachen, nein auch der Bedeutung nach; er beschließt unser Dasein nicht nur, er krönt es zugleich. Er verhilft dem Einzelleben zur absoluten Wirklichkeit; er verleiht ihm unbedingten Wert. Wie seine Grenzen den Gedanken verwirklichen, so realisiert der Tod allererst das Leben. Das Nicht-Sein schenkt dem Sein die Ewigkeit. Darum seien wir stolz genug, das Ende zu wollen. Dieser Entschluss enthebt uns unserer Grenzen. Der Tod ist überwunden.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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