Schule des Rades
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit
Vorwort
Zur dritten Auflage
Der Spiralweg der inneren Entwicklung, der mich 1910 von dem Zustand, aus dem heraus die Unsterblichkeit entstand, soweit abgeführt hatte, dass ich diesem Werk kaum mehr Verständnis entgegenbringen konnte, hat mich ihm heute wieder ganz nahegebracht. Ich übersehe genau, was ich damals wollte sowohl, als was ich erreicht habe; ich übersehe besser, als damals, was ich hätte erreichen sollen. So ist es mir nicht schwer gefallen, mich in der Phantasie, bei Gelegenheit dieser Neuausgabe, auf meinen Standpunkt vom Jahre 1907 zurückzuversetzen; so habe ich es mit gutem Gewissen übernehmen können, von diesem aus vieles nachzubessern und einiges umzugestalten. Von diesem aus: dies bitte ich nie zu vergessen. Nichts habe ich in die Unsterblichkeit hineingearbeitet, was ich nicht schon vor 13 Jahren hätte ausführen können und sollen.
Also bringt das Werk, trotz seiner Neubearbeitung, meine heutige Erkenntnisstufe doch nicht zum Ausdruck? Diese Frage schließt ein Missverständnis ein. Heute hätte ich es nicht mehr schreiben können, denn die Probleme stellen sich mir nicht mehr in gleicher Gestalt. Aber von meinem damaligen Standpunkt gibt es, so urteile ich noch heute, die angemessene Antwort, und dieser Standpunkt war nicht allein damals berechtigt, weil er einem wirklichen Zustande entsprach: er wird es immer bleiben, weil die Problemstellung der Unsterblichkeit eine an sich fruchtbare ist. Sie ist die notwendige Problemstellung jedes, der von außen her nach innen zu vordringt und das metaphysisch Wirkliche schaut, aber noch nicht innerlich ergriffen hat. Ohne bei dieser Aussicht haltgemacht zu haben, wäre ich selbst niemals weiter und tiefer in die Wesensprobleme vorgedrungen; und wer immer den Weg von außen nach innen zu einschlägt, wird das Lebensproblem zeitweilig so anschauen müssen, wie es hier geschieht. Also darf die Unsterblichkeit als Wegweiser gelten. Wegweiser sind der Allgemeinheit aber nützlicher als die leuchtendsten Signale eines fernen, ihr noch unbekannten Ziels, denn die Meisten sind unterwegs.
Es können nämlich die Wenigsten ungestraft eine Etappe in der Erkenntnis überspringen; tun sie letzteres, so bleibt das volle Verständnis aus. Verstehen heißt assimilieren, organisch einbeziehen, und gelingt nur, wo die nötigen Organe vorhanden sind; diese aber bestehen in vorgebildeten Erkenntnismitteln, welche aus dem, und dem allein erwachsen, was man verstanden hat. Deshalb erweist es sich überall als unumgänglich, das Neue auf Bekanntes zurückzuführen. Hieraus nun ergibt sich die Notwendigkeit, auch in Erkenntnisfragen, der Tradition. Aus diesem Sachverhalte folgt vor allem, dass nur der Neuerer wesentlich fördert, der es vermag, die höhere Wahrheit nicht allein an sich zu erkennen und auszusprechen, sondern dieselbe dem Verständnis seiner Zeitgenossen zuzuführen. Dank diesem Umstand gibt es für jeden Ort und jede Zeit eine besondere Gerade gleichsam, welche zur Einsicht hinleitet. Und für die Meisten, die in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren wurden, nimmt diese bei der Naturwissenschaft ihren Ausgang.
Ich selbst war Naturforscher. Von der äußeren Wirklichkeit habe ich allmählich den Weg zur inneren gefunden; von der Natur her gelangte ich schließlich zur Realisierung des metaphysischen Selbst. Auf diesem Weg umschließt die Unsterblichkeit eine wichtige Etappe: sie zeigt, inwieweit der Naturforscher eine übersinnliche Wirklichkeit anerkennen muss. Dank dem dürfte sie den Vielen, welche grundsätzlich die gleiche Richtung einhalten müssen, wie ich es getan, im gleichen Sinn zum organischen Verstehen verhelfen, wie sie mir dazu verholfen hat. Das Geistig-Wirkliche wird ihnen unter dem Grenzbegriff des Überpersönlichen eher einleuchten, als unter einer anderen Form. Sie werden so leichter als sonst zu einer Umbildung ihrer Verständnisorgane gelangen, die ihnen jenes assimilierbar macht. Endlich werden sie so, und so allein, zu einem Begriff desselben im Zusammenhang mit allem Übrigen gelangen, denn zunächst klafft zwischen äußerlich und innerlich Erfahrbarem für das Verständnis ein Bruch. Nichts scheint schwerer zu fassen, als dass es sich beim Psychischen um ein genau so Objektives, in seinem Dasein vom Bewusstwerden Unabhängiges handelt, wie beim Materiellen, dass also auch das Geistige zur weit genug gefassten Natur gehört. — Über das An-sich
der übersinnlichen Wirklichkeit bringt die Unsterblichkeit natürlich nichts, und kann es nicht tun. Sie will nicht mehr sein als eine kritische Phänomenologie, ausdrücklich beschränkt aufs Gebiet des wissenschaftlich Erfahrbaren; von allen rein-metaphysischen und etwaigen okkulten Erkenntnismöglichkeiten sieht sie grundsätzlich ab. Und wenn sie trotzdem zur Feststellung überempirischer Realitäten gelangt, wenn ihr trotzdem den tiefsten Sinn des Unsterblichkeitsgedankens zu fassen gelingt, so dürfte sie zur faktischen Hineinbeziehung des Hintersinnlichen in das normale Erkenntnis- und Verständnisleben mehr beitragen, als eine Geheimforschung, die wohl mehr mitteilt, als hier geschieht, aber keinen Weg weist, um das von ihr Erschaute in dieser Sphäre fasslich zu machen.
Von dem, dessen Dasein die Unsterblichkeit äußerlich festsstellt und abgrenzt, habe ich erst im Reisetagebuch unmittelbar zu künden begonnen. Wer mehr erfahren will, der schreite mit mir fort. Meine Lebensaufgabe sehe ich ja gerade darin, das volle Verständnis dessen zu vermitteln, was der Erscheinung als Wesen zugrunde liegt, also dieses Bewusstsein zu erweitern und zu vertiefen bis zu dem Grad, dass es für das Wesenhafte unmittelbar aufnahmefähig wird. Es soll nicht mehr beim Glauben eines Transzendenten bleiben; das Wissen um dieses darf nicht dauerndes Vorrecht exzentrischer Geister sein: wie es praktisch unsere Höchstaufgabe bedeutet, nicht zum Himmel aufzusteigen, sondern das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, so dürfen wir als Erkenner nicht ruhen, bevor unser Bewusstsein nicht die Totalität der Wirklichkeit, von deren Wesensgrund her, zu spiegeln fähig geworden ist.