Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Individuelle Unsterblichkeit

Der Glaube ist wesentlich alogisch: nichts dürfte drastischer diese Wahrheit illustrieren, als die Vorstellung einer selektiven Unsterblichkeit. Man sollte doch meinen, dass die Seele entweder unsterblich ist oder nicht, dass es hier keine individuellen Unterschiede geben könne: dennoch bedeutet der Glaube einer allgemeinen Fortdauer nach dem Tode ethnologisch die Ausnahme. Fast überall, wo der Unsterblichkeitsgedanke im Volksbewusstsein Fuß gefasst hat und theoretische Erwägungen den naiven Glauben nicht umgestalten, herrscht die Auffassung, wie sie die Chorführerin aus Goethes Helena ausspricht:

Wer keinen Namen sich erwarb, noch Edles will,
Gehört den Elementen an —;

nur der Hervorragende gilt für unsterblich; der gemeine Mann höchstens, insofern er zu diesem in naher Beziehung steht:

Nicht nur Verdienst, auch Treue wahrt uns die Person.

So dachten die Griechen, die Ägypter, die alten Peruaner; so denken viele Indianer, Polynesier, die meisten kriegerischen Stämme; die Grundidee wenigstens schimmert durch alle Eschatologien hindurch. Sogar der fanatische Christ, dessen Religion von allen, den Buddhismus ausgenommen, die weitherzigste ist, erkennt in seinem for intérieur nur Glaubensgenossen Unsterblichkeit zu; der Zustand der Nichtchristen nach ihrem Hinscheiden wird gleichsam totgeschwiegen.

Diese philosophisch höchst sonderbare Vorstellung ist psychologisch wiederum leicht zu verstehen; des Menschen Vorstellungen richten sich nicht nach dem, was ist, sondern nach dem, was ihm auffällt, was seine Einbildungskraft frappiert. Und dem Durchschnittsmenschen fällt überraschend wenig auf1. Einen erhabenen Geist, einen Häuptling vernichtet zu denken, scheint unmöglich: eben noch war er schier allmächtig, wie sollte er plötzlich gar nicht mehr sein? Daher die Kyffhäusersage, das zuversichtliche Erwarten der Wiederkehr des Messias, die zahlreichen falschen Demetriusse usw. Wogegen nichts plausibler erscheint, als die gänzliche Vernichtung eines Wesens, das schon bei Lebzeiten kaum bemerkt wurde2. Auch dem Weibe haben die wenigsten Völker Unsterblichkeit zugesprochen — galt es ihnen doch kaum als Mensch! Allenfalls als Begleiterin des Mannes, als Dienerin im Jenseits durfte es auf Fortdauer rechnen; der alten Jungfer Unsterblichkeit dürfte kein nichtwissenschaftlich denkendes Volk für wahrscheinlich halten. Sogar die christliche Kirche hat lange geschwankt, ob dem Weib eine unvergängliche Seele zuzusprechen sei oder nicht; erst auf dem Konzil von Mâcon im Jahre 585 ward diese Frage in positivem Sinn entschieden. — So sind denn die Grenzen postulierter Unsterblichkeit Geschöpfe der Konvention, hängen von der Weite des Horizonts, von irrationellen Glaubensgründen ab. Der Durchschnittschrist spricht dem Tier keine unsterbliche Seele zu, weil das Christentum die Kluft zwischen Tier und Mensch unerhört weit gespannt hat; kein Geringerer als Descartes hielt alle Organismen, außer der spezies homo, für bloße Automaten. Demgegenüber erkennen die sogenannten rohen Völker — zu welchen in dieser Hinsicht freilich die hochzivilisierten Ägypter und die weisen Inder gehörten — ebensowenig wie die moderne Naturwissenschaft einen prinzipiellen Unterschied zwischen an Mensch und Tier3. Sie sind im Gegenteil geneigt, das Tier für höherstehend zu halten, als den Menschen (daher die häufige Identifizierung der Gottheit mit einer bestimmten Tierart, der Ehrgeiz, den Ursprung seines Geschlechtes auf Tiere zurückführen zu können usw.), weil es ihnen unverständlich ist. Die Abwesenheit einer Sprache deuten sie, im Gegensatz zu uns, vermutlich als Vorzug, als Zeichen beängstigender Schlauheit: dem ewig schwätzenden Neger erscheint das Tier beneidenswert diskret.

Die Vorstellung einer selektiven Unsterblichkeit scheint also nahezuliegen. Wahrscheinlich huldigt ihr sogar der Instinkt vieler gläubiger Christen, wie unsinnig sie dem wissenschaftlichen Denken immer vorkommen mag: denn der Vergeltungsglaube impliziert eigentlich schon den Gedanken einer gradweise verschiedenen Unsterblichkeit. Natürlich aber kann der gleiche Instinkt sehr verschieden ausgelegt und ausgestaltet werden: die meisten Völker glauben an die Unvergänglichkeit des Mächtigen; bei anderen dauert bloß der Gläubige fort, während der Zweifler spurlos zergeht.

Goethe war überzeugt von der Unzerstörbarkeit aller Entelechie, postulierte aber Entelechien verschiedenen Grades:

Wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muss man auch eine sein.

Den Unterschied zwischen Stümper und Genie hielt er für in alle Ewigkeit fortwirkend. In diesem Zusammenhang begegnen wir mitunter den allerseltsamsten Vorstellungen: die Ägypter, jene abenteuerliche, subtil-barbarische Nation, sprachen, gleich den meisten aristokratisch gesinnten Völkern, nur den höheren Ständen Unsterblichkeit zu; aber warum? —Weil sie gebildeter sind! Zwar pilgert jeder Verstorbene nach den Gärten von Jaloù; doch gehen die Meisten unterwegs an den endlosen Gefahren zugrunde, welche die Seele von allen Seiten bedrängen und die bloß durch bestimmte Formeln zu beschwören sind. Gegen jeden Feind — und ihre Zahl ist Legion — besitzt bloß ein Spruch Wirksamkeit. Wie sollte nun ein armer Teufel Gelegenheit und Zeit finden, alles Wissen in sich aufzunehmen, dessen er nach seinem Tode bedarf! Dem Vornehmen ist dies ein Leichtes. Und auch das äußerste Mittel, zu dem die pietätvollen Hinterbliebenen griffen, um dem Verhängnis zu steuern — nämlich dem Toten eine umfangreiche Bücherei mit auf die Fahrt zu geben, der er die Regeln für sein Verhalten entnehmen konnte —, galt leider für keineswegs sicher4.

Die Seele, welche den Leib überdauert, ist nämlich ihrerseits sterblich: diese Vorstellung des zweiten Todes beweist vielleicht am Deutlichsten, wie wenig das begriffliche Denken bei der Mythenbildung mitwirkt. Die individuelle Unsterblichkeit hängt, wie schon bemerkt, zum größten Teil davon ab, wie weit das Individuum bei Leibzeiten auffiel. Dieselbe Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit der Anderen bleibt auch posthum in Kraft: gleich nach dem Tode ist niemand gänzlich tot — das beweisen schon die häufigen Traumerscheinungen der Verstorbenen. Sogar die modernen Ostasiaten, die der individuellen Fortdauer sonst skeptisch gegenüberstehen, glauben nicht an ein zeitliches Zusammenfallen des Seelentodes mit dem leiblichen; der Geist des Verblichenen lebt zunächst fort. Aber wenn die Erinnerung zu verblassen beginnt — warum sollte dann nicht gänzliche Vernichtung eintreten? Vater und Großvater dauern sicher fort — der jeweilig blühenden Generation stehen sie noch in lebendigem Gedächtnis; mit dem Urgroßvater, den kaum ein Lebender mehr gekannt, wird die Sache schon zweifelhaft. Die Chinesen sprechen bloß der kaiserlichen Ahnenreihe en bloc Unsterblichkeit zu. Der Glaube projiziert eben das Diesseits ins Jenseits hinüber: was wir vergessen haben, das ist für uns nicht mehr. So verglimmen die Toten zu gleich mit ihrem Ruhm. Die Ahnen, denen kein pietätvoller Nachkomme mehr opferte, starben nach antiker Vorstellung aus. Bei den Griechen, deren edler Sinn überhaupt mehr auf die μνήμη ἀϑάνατος als auf materielle Fortdauer bedacht war, gewann diese eigentümliche Theorie von der selektiven Unsterblichkeit und dem zweiten Tod den schönsten, den rührendsten Ausdruck: der Ruhm war die Unsterblichkeit. Der Namenlose zerfiel gar bald, der Heros nie; denn solange das Griechenvolk lebte, vergaß es seine Helden nicht. Die Fortdauer derer aber, an denen die Nation kein Interesse hatte, hing von ihren Nachkommen ab. Solange man sie verehrte, lebten die Ahnen fort; opferte niemand mehr, so zerschwanden sie, als wären sie nie gewesen. Ist das nicht der großartigste Unsterblichkeitsgedanke, den je die Menschheit gefasst? — Die Toten hängen von den Lebenden ab; mit dem letzten kinderlosen Spross verblüht das gesamte Geschlecht; am Tag der Menschheitsdämmerung ists auch mit Adam zu Ende. Die Welt existiert für den Menschen nur, insofern er von ihr weiß: mehr als der hellenische Mythos kann auch kritische Philosophie nicht offenbaren.

1 Hierzu dürfte folgende Bemerkung am Platze sein: die tiefsten Gedanken, von einem Unbekannten geäußert, gleiten am Publikum meist spurlos vorüber; es merkt nicht auf. Wogegen das Piedestal der Berühmtheit die Aufmerksamkeit der Menge auf die Äußerungen des Autors lenkt, so dass alles Bedeutende gehört und das Unbedeutende gewöhnlich überwertet wird. Einem Worte Goethes wird gern gelauscht, selbst wo es eine Banalität besagt; bedeutende Aussprüche des Unberühmten werden auch dort schwer gewürdigt, wo sie bemerkt werden. Auf diesem Umstande beruht die eigentlich paradoxe Möglichkeit, einen Autor, der noch so viel publiziert, erst nach Jahrzehnten oder gar posthum zu entdecken. — Übrigens haben wirklich bedeutende, aber allzu praktisch orientierte Geister aus diesem Verhältnisse nicht selten großen Vorteil gezogen: ihnen entging das Bedeutende des Unbekannten nicht; sie übernahmen es sofort, oft sogar die stilistische Umgestaltung verschmähend. Da die Menge nur dem Berühmten das Große zutraut, fühlen sie sich sicher vor jeder Entlarvung; der arme Unbekannte aber war durch das Plagiat ermordet!
2 Ich kann mir nicht versagen, an dieser Stelle eine überaus graziöse Satire auf den Glauben an unterschiedlose Unsterblichkeit aus der Feder Paul Mongrés, eines der geistvollsten und anmutigsten Stilisten unserer Tage, der leider noch gar nicht nach Gebühr gewürdigt wird, anzuführen:
So ein Menschlein, zu dürr für das höllische Feuer, zu erbärmlich für Gottes Erbarmen, zu kurzatmig für die Ewigkeit — wie muss so einem ἀνϑϱώπιον der Gedanke von der Auferstehung aller Toten den Kopf verdrehen und den Kamm schwellen machen! Wie? wird er sich sagen, ich bin wieder da? Man hat nicht vergessen, mich zu wecken? Man will noch etwas von mir? Man braucht mich noch im großen fünften Akt der Weltkomödie? Man wird mich gar verewigen, mich nicht davonkommen lassen: unentbehrlich bin ich für die letzten Zwecke des Daseins! Wer hätte das wohl gedacht, dass ich noch einmal so schwer ins Gewicht fallen würde: auf Erden machte man nicht so viel Aufheben mit mir! Dort musste ich zahlen, um in die Zeitung zu kommen, und hier werde ich samt Lebenslauf und species facti meiner dummen Streiche umsonst gebucht, eingetragen, katalogisiert! Kein Kaiser und König kann jetzt mehr in Betracht kommen als ich, Herr Quidam und Quilibet: wahrlich, das Reich der Gerechtigkeit ist erschienen! (Saint’ Ilario, Leipzig 1897, S. 305).
3 Vgl. Tylor, Primitive Culture I, 423.
4 Vgl. Maspero, Bibliothèque Egyptologique, Paris 1893, I, 347.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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