Schule des Rades
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit
Das Problem des Glaubens
Ein Rätsel
Es hat an Versuchen nicht gefehlt, den Unsterblichkeitsglauben psychologisch zu erklären. Georg Runze z. B. meint, ihn aus vier Wurzeln erschöpfend ableiten zu können: der Todesfurcht mit ihrer Kehrseite, dem Lebenswunsch; dem Traumleben; dem Verstandesrätsel des Todes und der unbekannten Zukunft, und endlich der dem Selbstgefühl entstammenden, im Gewissen sich ankündigenden Vergeltungsforderung mit ihrem Korrelat, dem sittlichen Vervollkommnungsstreben. Andere wollen diesen Glauben, summarischer, auf das ethnologische Faktotum Animismus
zurückführen; wieder andere sind der Ansicht, der Ahnenkult allein sei das Ursprüngliche
und folglich das zu aller Erklärung allein Genügende. Kennte ich die gesamte Literatur, so ließen sich wahrscheinlich noch viele weitere Erklärungsversuche aufzählen; die Frage nach der Ursache hat hier, wie Überall, eine Legion verschieden gerichteter Geister in Bewegung gesetzt. Trotzdem wollte es noch nie gelingen, den Unsterblichkeitsglauben aus psychologischen Gründen restlos zu begreifen. Ja mir scheint, dass, selbst wenn sämtliche — und das will heißen: unendlich viele — Glaubensmotive zusammengestellt werden könnten, die Hauptsache nach wie vor ein Rätsel bliebe: nämlich der Glaube selbst.
Hier nämlich, wie so häufig, verhält sich der psychische Tatbestand gerade umgekehrt, als der Mensch ihn sich vorzustellen geneigt ist. Einige einführende Beispiele: jene Frau liebt diesen Mann nicht, weil er gut ist, sondern sie hält ihn für gut, weil sie ihn liebt; ich erwarte jenes Ereignis nicht, weil es möglich ist, sondern ich bin überzeugt von seinem Eintreten, weil ich es wünsche; jener Satz ist nicht meine Überzeugung, weil er wahr ist, sondern er ist wahr, weil ich es so will. In den meisten Fällen glauben wir nicht aus Gründen, sondern wir suchen vielmehr nach Gründen, weil wir glauben. Und was bei zufälligen Zusammenhängen in der Regel
der Fall ist, gilt bei wesentlichen unbedingt. Ein lebendiger, wesentlicher Glaube lässt sich überhaupt nicht aus Motiven ableiten: er ist selber vielmehr die Voraussetzung aller nur möglichen Motive. Und an letzte Voraussetzungen reicht keine Psychologie hinan.
Gehört der Unsterblichkeitsglaube nun wirklich zu diesen letzten, unzurückführbaren Motiven der Menschheit? — Mir scheint, allerdings. Doch bevor wir darangehen, diese Frage zu entscheiden, müssen wir uns darüber klar werden, worin denn das Wesen des Glaubens im Unterschied vom Erkennen besteht. Wenn so viele scharfsinnige Geister bei der Deutung und Kritik der Glaubensvorstellungen in die Irre gegangen sind, so liegt dies zumeist bloß daran, dass sie sich den wahren Sinn der Glaubensfunktion nicht verdeutlicht hatten. Wir müssen diesem Fehler vorbeugen. Aller Kritik des Unsterblichkeitsglaubens hat eine Kritik des Glaubens überhaupt vorauszugehen, soweit solcher einer Erkenntniseinstellung entspringt oder mit dieser zusammenhängt. Denn glauben kann überdies noch anderes sein und bedeuten1; dieses andere aber schalten wir im Folgenden grundsätzlich aus. Nur um die Bedeutung des Glaubens als Grenze oder Sonderform des Erkennens ist es uns zu tun.
1 | Vgl. hierzu mein Reisetagebuch; man schlage im Register unter Glaubennach. |
---|