Schule des Rades
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit
Das Problem des Glaubens
Kritik des Glaubens
Die Phänomenologie des Glaubens ist dank den Forschungen berufener Psychologen kein unbekanntes Gebiet mehr. William James, Walter Bagehot, Camille Bos — ich begnüge mich mit der Aufzählung dieser Namen, denen sich viele andere anschließen ließen — haben scharf zu beobachten und das Beobachtete kritisch zu verarbeiten gewusst. Wir besitzen also eine Psychologie des Glaubens, die, obschon gewiss nicht vollständig, dennoch hinreicht, uns schon jetzt einen großzügigen Überblick über die mannigfaltigen Erscheinungsformen der Glaubensfunktion nebst ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen zu gewähren. Was mir aber noch nirgends begegnete, ist eine eigentliche Kritik des Glaubens — ich verstehe das Wort Kritik im Kantischen Sinn. Keinem der großen Philosophen scheint der innerste Gehalt des Problems aufgegangen zu sein; weder Kant noch Fichte noch Hegel. Und die Mystiker, Theologen und sonstigen Denker, denen das tiefste Leben und Weben der Seele zum Gegenstand des Sinnes ward, haben des Glaubens Wesen zwar oft genug richtig erkannt, doch lag es ihrer mehr intuitiven als diskursiven Erkenntnisart meist fern, das Erschaute und Erlebte systematisch zu verarbeiten. Ausnahmen in dieser Hinsicht bezeichnen meines Wissens bloß Schleiermacher, Ulrich und Carl Schwarz; zumal des letzteren Wesen der Religion (Halle 1847) ist eine kritische Tat in des Ausdrucks eigentlicher Bedeutung. Nur lag das Schwergewicht von Schwarzens Interesse so sehr auf rein-religiösem Gebiet, dass der ganze Gehalt des Glaubensproblems, dessen Bereich über das Religiöse weit hinausgeht, auch ihm nicht aufgehen konnte.
Zwei Missverständnisse gibt es nämlich, denen bisher die Wenigsten entgangen sind: das eine besteht darin, im Glauben bloß ein Nichtwissen oder Nochnichtwissen zu erblicken — es ist das typische Missverständnis des spezifischen Denkers. Wessen ganzes Streben auf begriffliche Erkenntnis, auf kritische Begründung geht, der ist nur allzuleicht geneigt, alles Glauben im Sinn von Meinen zu verstehen und es infolgedessen entweder, als nicht in sein Forschungsgebiet gehörig, beiseite zu schieben, oder aber als bloße Vorstufe des Wissens anzusprechen. Die erstere Stellungnahme war diejenige Kants — d. h. sie war überhaupt keine positive Stellungnahme. Kant konnte seiner Natur nach zum Glauben kein richtiges Verhältnis gewinnen; daher begnügte er sich bei einer gleichsam programmatischen Scheidung zwischen Wissen und Glauben und überließ das eigentliche Problem sich selbst, um sich kongenialeren Aufgaben zuzuwenden. Die zweite Stellungnahme eignete Hegel; ihm bedeutete das Glauben die Vorstufe des Wissens im geistigen Prozess. Tatsächlich liegt aber die Sache anders: der Glaube ist der äußerste Ausdruck des Wissens, die Glaubensfunktion die zentrale, keiner Vermittlung überhaupt fähige Lebensform des Menschengeistes, wie Carl Schwarz dies richtig erkannt hat. Über ihr gibt es keine Instanz. Søren Kierkegaard, der es wissen konnte, schreibt:
Der Glaube ist die höchste Leidenschaft in einem Menschen. Es gibt vielleicht in jeder Generation viele, welche nicht einmal bis zu diesem gelangen, weiter gelangt jedenfalls niemand.1
Das zweite Missverständnis besteht in der Identifizierung des Glaubens mit der Glaubensvorstellung oder dem Glaubensinhalt. Diesen Fehler haben meines Wissens nur die Psychologen, denen ich auch David Hume zuzähle, vermieden; alle anderen sind ihm anheimgefallen. Zwar polemisiert Schwarz gegen die Verwechslung der religiösen Funktion mit der religiösen Vorstellung, doch versteht auch er unter Glauben etwas nicht rein Formales. Wohl ist er sich dessen bewusst, dass es in bezug auf das religiöse Problem bloß darauf ankommt, dass, nicht was geglaubt wird; dass der Glaubensinhalt gleichgültig ist. Doch versteht auch er, gleich allen anderen, unter Glauben allein den religiösen Glauben. Und in dieser Bestimmung liegt schon eine Beschränkung, bedeutend und tiefgreifend genug, um das Problem zu vergewaltigen.
Dadurch nämlich, dass der Glaube von Anfang an als religiöser bestimmt wird, erhält er bereits einen Inhalt. Mag ich noch so sehr von der Glaubensvorstellung, der religiösen Mythenbildung absehen — als religiöser ist er schon qualifiziert; ja mehr noch: eindeutig definiert. Denn das Wort Religion bedeutet eine einzigartige, mit keiner anderen zu vergleichenden Beziehung des Menschen zur Welt, eine Beziehung, die sein Endlich-Zeitliches unmittelbar mit dem Absoluten verknüpft. Insofern bedeutet sie allerdings die oberste, nicht weiter zurückführbare Lebensfunktion des Geistes, die Voraussetzung aller Vermittlungen; doch ist es nicht dasselbe, ob mein Augenmerk auf die Totalität des Verhältnisses des Geistes zur Welt oder auf das Verhältnis der verschiedenen geistigen Funktionen zueinander gerichtet ist; die Perspektive ist in jedem der Fälle eine andere. Für die ontologische Betrachtung gibt es über der Religion keine Instanz. Treibe ich hingegen Erkenntniskritik, so untersteht der religiöse Glaube als Spezialfall dem Glauben im Allgemeinen, einer Geistesfunktion ebenso rein formalen Charakters wie das Denken, dessen Wesen doch unabhängig von aller Denkrichtung und allen Denkinhalten definiert werden kann. Das Problem des Glaubens ist also mit dem religiösen Problem nicht identisch, obschon der Glaube in der Religion seinen vollsten, umfassendsten Ausdruck findet. Ja, es ist möglich, gegenständlich über den Glauben zu reden, ohne das Gebiet des Religiösen überhaupt zu berühren.
1 | Furcht und Zittern, deutsche Ausgabe. Erlangen 1882, S. 117 |
---|