Schule des Rades
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit
Vorwort
Vorrede
Suchen wir uns darüber Rechenschaft abzulegen, worin die Unsterblichkeit unsterblicher Geister besteht, so gelangen wir zu merkwürdigen, der ersten Erwartung widersprechenden Ergebnissen. Fast scheint die Behauptung gerechtfertigt, der Wert großer Männer beruhe darauf, dass sie gelebt, nicht auf dem, was sie getan haben; denn alle positiven Leistungen tragen den Stempel der Vergänglichkeit. Und solches gilt nicht allein von politischen Größen, es gilt nicht weniger von den Helden des Gedankens. Auch deren Taten werden überholt, werden zugedeckt.
Denken wir an Plato; keiner wird dessen Unsterblichkeit bestreiten wollen. Und doch: die spezifisch platonischen Wahrheiten, sofern Wahrheit ein Endgültiges, Abgeschlossenes bezeichnen soll, sind längst ins Grab gesunken. Man lasse sich durch die modernen Interpretationen des Platonismus nicht täuschen: Philo gelang es sogar, zwischen der mosaischen Religion und der alexandrinischen Philosophie eine Art Gleichung herzustellen; eine Tatsache lässt sich auf unendlich viele Weisen deuten — nur ändert die Deutung nichts am Charakter der Tatsache selbst. Und die platonische Philosophie, wie ihr Urheber sie verstand, ist mit unseren heutigen Anschauungen unvereinbar. Platos Voraussetzungen wurzelten in seiner Zeit, in der griechischen Sprache, den griechischen Begriffen; und diese vermögen wir kaum mehr zu denken. Platos Idee
war für ihn selbst ganz gewiss nicht das Gesetz
, als welches viele sie heute auffassen; dessen Begriff war damals noch nicht geboren, noch nicht möglich. Warum ist Plato unter solchen Umständen unsterblich, eine noch heute lebendige Kraft? — Nicht deswegen, weil er zu seiner Zeit groß war; das geht uns heute nicht das Mindeste mehr an. Rein-historische Werte gibt es nur für die Bücherweisheit, nicht für das Leben; was nicht lebendig fortwirkt, ist für dieses tot. Die Vergangenheit an sich ist etwas gänzlich Gleichgültiges, sie entwertet sich in direktem Verhältnis zur Entfernung. Und wenn wir nun zugestehen müssen, dass die platonische Philosophie, so wie Plato sie verstand, für uns wirklich keinen unmittelbaren Lebenswert mehr besitzt: woran liegt dann, noch einmal, ihre Unsterblichkeit? — Sie bezieht sich nicht auf das, was Plato abschloss, sondern nur darauf, was er ins Leben rief; auf die Fragen, die er aufwarf, nicht auf die Antworten, die er für sie fand; sie liegt an den Richtungen, die er wies, nicht an den Grenzen, die er setzte. Richtungen sind ihrem Wesen nach unbegrenzt, münden im Unendlichen; alle Grenzen aber sind endlich und gelten letzthin nur für den, der sie absteckte. So sind die Schranken, bei welchen Platos Denken haltmachen musste — d. h. die Ergebnisse, die er für endgültig hielt — heute überstiegen.
Wie sollte es auch anders sein? Ein jeder vermag nur das zu erfüllen, wessen Voraussetzungen seine Zeit enthält; wir sind vom Zeitgeist allseitig bedingt, und dieser wandelt sich von Epoche zu Epoche. Im perikleischen Athen hätte Kant seine Kritiken nicht schreiben können, und heute wiederum hätte er manches anders gefasst, als am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Epoche bedingt die Ergebnisse, zu denen wir gelangen, d. h. die Grenzen, bei welchen wir uns bescheiden müssen. Gegen diese äußere Macht hilft kein Genie. An der üblichen Redensart, große Männer eilten ihrer Zeit voraus, ist gewiss etwas Wahres, doch ist sie nicht durchaus richtig: große Männer eilen nicht ihrer Zeit, sondern nur ihren Zeitgenossen voran. Sie können in Wahrheit nicht einen Schritt weiter gelangen, als die Voraussetzungen des Zeitgeistes dies verstatten; sie vermögen nur das zu verwirklichen, was in diesen schon vorgebildet war. Die tiefste Originalität sowie der eigentliche Ewigkeitswert genialer Denker beruht daher nicht auf den Zielen, die sie erreichten, sondern auf den Wegen, die sie betraten, den Richtungen, die sie einschlugen.
Verweilen wir einen Augenblick bei dem Richtungsbegriff, wie ihn die Kristallographie etwa verwendet. Man kann einer Geraden beliebige Grenzen stecken, ohne etwas an ihrem Wesen zu ändern; ob die Kraftrichtungen, welche die Gestalt des Kristalls bestimmen, von den Begrenzungsflächen in kleiner oder großer, endlicher oder unendlicher Entfernung abgeschnitten werden, ändert nichts am Charakter des Körpers. Die Richtungen bleiben die gleichen, wie immer sie beschränkt werden; sie bleiben ihrem eigenen Wesen nach grenzenlos, obzwar der Körper begrenzt ist; ihr Sinn ist unabhängig von aller Außenwelt. Umgekehrt steht es mit den Grenzen: diese sind rein äußerlich bedingt; sie hängen vom Material ab, das zum Wachstum zur Verfügung stand, vom mehr oder weniger freien Raume, in welchem es vor sich gehen konnte. Daher kann von ihnen aus auf das spezifische Wesen des Kristalls nicht unmittelbar geschlossen werden; dessen Symmetriegrad ist prinzipiell unabhängig von der Art der Begrenzungsflächen. — Das gleiche Verhältnis begegnet uns auf geistigem Gebiet: die Form des Denkens (d. h. die Art der Problemstellung, der Gesichtspunkt, von dem es ausgeht) hängt mit dem Material, das es betrifft, der Sphäre, die es beherrscht, nicht wesentlich zusammen; die materialen Grenzen tangieren die eigentliche Geistesrichtung nicht. Plato hätte auch zu Ödipus’ Zeiten platonisch gedacht, nur hätte diese virtuelle Form unter den damaligen Umständen sehr anderen aktuellen Ausdruck gewonnen, als in der Ära des Verfalles der Republik — ebenso wie der Krystall innerhalb der engen Grenzen des Mineralgangs anders wächst, als in freier, gesättigter Lösung. Und im gleichen Sinne wäre Plato, als Nachfolger Kants geboren, bei den Ergebnissen nicht stehengeblieben, bei denen sich die Erkenntniskritik des Sokrates-Schülers bescheiden musste. Denken wir uns den gleichen Plato zu den genannten drei so sehr verschiedenen Epochen tätig — es ist sicher, dass er in jedem der Fälle zu anderen Schlüssen gelangt wäre; und doch läge den dreien, dem äußeren Ausdruck nach beinahe unvergleichbaren Philosophien eine identische Geistesform zugrunde. Diese allein aber ist es, auf die sich Platos Unsterblichkeit bezieht. Alle Grenzen, alle Ergebnisse sind zeitlich, können durch die Folgezeit aufgehoben werden. So ist es dem großen Athener ergangen, so wird es jedem künftigen Denker ergehen; es ist ganz unmöglich, endgültige Schlüsse zu ziehen. Aber wie die Kraftrichtungen, die das Wesen des Kristalls bezeichnen, unendlich sind, obgleich sie endlichen Ausdruck gewinnen, gerade so ist die Denkart eines Platon ewig, trotzdem die Grenzen, in welchen sie sich verkörperte, d. h. die Ergebnisse, zu denen sie gelangte, zeitlich und vergänglich sind. Die Unsterblichkeit großer Denker betrifft allezeit nur die Art ihres Denkens, nicht ihre Gedanken.
Wer sich dieser Wahrheit bewusst geworden ist, wird zunächst einmal gerechter gegen die Vergangenheit sein, als dies heutzutage üblich ist. Moderne Naturforscher verkünden frohlockend: Cuvier oder Lavoisier sind überholt! Moderne Philosophen: Platos Philosophie ist heute nicht mehr zu halten! Wie kann es denn anders sein, einmal gesetzt, dass die Wissenschaft fortschreitet? Sollen wir uns damit brüsten, dass zwei mal zwei vier ergeben? Erbauen wir uns lieber, demütig staunend, an den unendlichen Aussichten, die uns Platos Genius eröffnet hat: die wird keiner überschreiten, keiner je erschöpfen! — Die wichtigste Folge der genannten Erkenntnis wird aber die sein, dass der, dem sie wirklich aufging, in der Bewertung eigener Leistungen um ein Erkleckliches bescheidener werden dürfte. Er wird sich nicht mehr einbilden, ein ewiges Problem aus der Welt geschafft, ein Welträtsel für immer gelöst zu haben. Er wird sich sagen: wenn schon Plato und Kant und alle Größten die letzten Dinge nicht zu ergründen vermochten, wie sollte mir das gelingen? Er wird jeden Anspruch auf Endgültigkeit im Vornhinein aufgeben, sich darein bescheiden, ein Kind seiner Zeit zu sein. Ferner aber wird er sich sagen — und das ist das positive Moment —: sollte es nicht möglich sein, gerade durch den Verzicht auf unumstößliche Ergebnisse dauernde Werte zu schaffen? Die Nachwelt entkleidet die Philosophien schnell genug und unerbittlich des zeitlichen Gewandes, lässt bloß ihren nackten Ewigkeitswert bestehen: wie, wenn der Autor hierin der Zukunft vorgriffe? — Dies ist kein unmögliches Beginnen. Gewiss wird kein Denker selbst zu entscheiden wagen, ob sein Gesichtspunkt der Ewigkeit würdig sei; dieses äußerste Urteil darf nur die Nachwelt fällen. Doch steht es allerdings in seiner Macht, seine Gedanken so vorzutragen, dass sie, im Fall sie von Wert sind, auch unverändert fortleben können.
Umfriedigen wir das Problem durch das Aufstellen einiger Axiome. Was von den großen Geistern geblieben ist, sind die Richtungen, die sie wiesen, nicht die Grenzen, die sie steckten. Der Wert einer Wahrheit liegt einzig und allein in ihrer Produktivität; nur was fortzuwirken vermag, ist wertvoll, nur das Ende ist berechtigt, das in sich den Keim zu neuen Anfängen birgt —: folglich kommt es auch im geistigen Schaffen, gerade wie im persönlichen Leben, nur auf das Eine an: allezeit ein anhebender
Mensch zu sein, wie Meister Eckhart sich ausdrückt. Was ich aufrühre, kann durch Äonen nachzittern, was ich niederschlage, ist schon heute tot. Wer da denkt, soll die Probleme zu ewigem Leben erwecken, nicht sie aus der Welt zu schaffen suchen. Der Denker sei ein Lebenspender, kein Mörder; und wer die Welt endgültig zu erklären unternimmt, trachtet der Menschheit nach dem Leben.
Was also sollen wir tun? — Erinnern wir uns der wenigen unbedingt unsterblichen Gedankengestalten, die es gibt; es sind ihrer nicht eben viele: die Fragmente des Heraklit, einige Worte Christi, ein paar indische Sprüche, etliche Sätze Goethes und weniges mehr. Was zeichnet diese Urworte aus? Nichts anderes, als dass die begrenzte Form einen unbegrenzten Gehalt birgt, dass sie offene Richtungen weist, nichts innerlich abschließt; es sind gleichsam reine, nackte Gesichtspunkte, unberührt und unbeengt durch materielle Schranken. Darum vermögen sie in allen Grenzen zu leben, überall konkrete Gestalt zu gewinnen. Jedes Zeitalter wird über die Tiefe des Weisen von Ephesos staunen, und jedes wird sich seine dunklen Worte anders deuten. — Sie alle aber werden recht behalten: der Gesichtspunkt, die geistige Form, hängt mit den Grenzen, die sie verwirklichen, nicht wesentlich zusammen; zusammen; deshalb können Gedanken, die nichts als Gesichtspunkte sind, sich für keinerlei Deutung entscheiden. Sie geben sich allen hin, überdauern alles Verständnis; ihr Wesen ist Ewigkeit. Wenn es möglich ist, die Grundideen Platos auch modern zu verstehen und die Lehren Jesu Christi sie zu deuten, dass sie unseren jüngsten Anschauungen gerecht werden, so liegt das an der gleichen Ursache. Ja — wo es sich um die letzten Tiefen handelt, da ist es vielleicht unmöglich, eindeutig zu sein. Die Schlussverse des Faust, deren unermeßliche Bedeutung jeder ahnt, hat Goethe wohl selbst nicht verstanden. Sie mögen sich ihm nach reinen Klangassoziationen gebildet haben, sie kamen ihm wie Musik, gesetzmäßig und geheimnisvoll. Angesichts der äußersten Tiefen bleibt diese allein noch ausdrucksfähig; das Denken wankt, das Wort verstummt,
Und das Gefühl wird zum Gedanken1.
Und der Gedanke zum Gefühl
Das Tiefste ist immer das, was man verschweigt; und die größten Gedanken sind die, welche schwindelnd an der Grenze des Unbegreiflichen stehen und der Seele die Ahnung ungeheurer Rätsel vermitteln.
Diese Erwägungen sind es, welche ich jedem Denker zur Beherzigung empfehlen möchte, an dem die Grundfragen des Daseins zehren, und der durch sie leben, nicht an ihnen sterben will; sie waren es, die mich bei der Behandlung des Unsterblichkeitsproblems geleitet haben. Ich habe versucht, möglichst viele und hochragende Gesichtspunkte auf zuzeigen, möglichst wenige Grenzen zu stecken. Vielleicht weisen einige Richtungen ins Unendliche hinaus? Zu hoffen ist jedermann erlaubt. Gewiss aber weiß ich, dass die Grenzen, bei denen ich notgedrungen haltmachen musste, bald genug überschritten sein werden.
1 | Benno Geiger, Lieblose Gesänge, Ausgang. |
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