Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Das Bewusstsein

Spiegel der Wirklichkeit

Unsere letzten Betrachtungen dürften, so gut begründet sie vielleicht waren, zunächst nicht allzu viele überzeugt haben. Sätze wie die, dass wir mit unserer Person dem Wesen nach nicht identisch sind, dass wir uns täuschen, wenn wir persönlich fortdauern zu wollen glauben, dass auch der, beschränkteste Egoist nicht sich selbst, sondern einer Idee lebt, klingen trotz aller Begründung paradox. Wenn ich es nicht bin, um den es sich bei der Unsterblichkeit handelt, was soll mir die Ewigkeit? wird mancher mir einwerfen; und wenn ich einer Idee lebe, so ist’s doch um meinetwillen, weil sie meine persönliche Überzeugung ist. Es scheint nicht leicht zu sein, im eigensten Ich ein Überpersönliches zu erkennen; wer, objektiv betrachtet, noch so überzeugend argumentiert, braucht seine Leser doch nicht zu überzeugen: gegen geglaubte Voraussetzungen hilft kein Verstandesbeweis. Doch ist unser letzter Trumpf noch nicht ausgespielt. Mit dem zwingendsten Argument habe ich bisher zurückgehalten es betrifft das Bewusstsein.

Unter Leben versteht der normale Mensch immer nur das bewusste Leben. An diesem allein liegt ihm, nur auf dieses bezieht sich sein Unsterblichkeits­bedürfnis. Denn Bewusstsein und Person scheinen Wechselbegriffe, eine unbewusste Person wäre keine mehr. Kein Mensch hofft auf persönliche Fortdauer, der nicht voraussetzte, dass er sie auch spüren wird; niemand hängt geizig an seiner irdischen Existenz, der nicht deren bewussten Genuss im Sinne hätte. Wovon wir nicht wissen, das berührt uns nicht. Wie aber, wenn das Bewusstsein kein wesentliches wäre? Wenn es sich herausstellte, dass der Selbsterhaltungstrieb nicht aufs Bewusstsein geht? — Dann wäre der Schluss unabweislich, dass die skizzierten Gedankengänge, die sich samt und sonders auf das bewusste Leben beziehen, die von dieser Voraussetzung aus unsere kritischen Erkenntnisse zu bekämpfen suchen, einer Selbsttäuschung entspringen. Ist das Bewusstsein kein notwendiges Attribut des Lebens, bedeutet auch innerhalb der individuellen Existenz das Wissen um sie kein wesentliches, dann ist die Voraussetzung, dass die bewusste Person die letztmögliche Synthese verkörpert, als falsch erwiesen. Das Argument wäre entscheidend. Und ist die bewusste Person das Letzte nicht, dann ist zugleich den Thesen des vorigen Kapitels der letzte Schein von Paradoxie genommen; sie wären auch aus subjektivem Blickpunkt unerschütterlich.

Der Nachweis nun, dass das Bewusstsein nicht das Wesentliche am Leben bedeutet, ist so leicht, dass es mir beinahe schwer fällt, ihn ernstlich in Angriff zu nehmen. Um so mehr, als ich ihn an anderer Stelle und in anderem Zusammenhang schon erbracht zu haben glaube. In meinem Gefüge der Welt habe ich gezeigt, dass das Ich mit dem Bewusstsein nicht zusammenfällt, dass eine Gleichung zwischen beiden nur auf Kosten der Wahrheit aufzustellen ist. Das Bewusstsein ist wesentlich unstetig, die Ichfunktion wirkt stetig fort; durch den Zustandswechsel, ja durch das Schwinden des Bewusstseins wird das Ich überhaupt nicht berührt. Ob der Mensch schlummert oder wacht, ob er von sich weiß oder von dauernder Ohnmacht umfangen ist, ob die Erinnerung das Vergangene lückenlos umspannt oder durch lange Perioden unbewusster Existenz unterbrochen ist: das Leben dauert fort. Und dessen Prinzip ist eben das Ich. Ich mag mich nicht wiederholen, man lese den betreffenden Abschnitt nach1. — Unter solchen Umständen geht es wohl nicht an, des Lebens Wesen im Bewusstsein zu suchen: was da sein kann oder fehlen, ohne dass der Tatbestand sich darum wesentlich änderte, kann nicht das Wesen bedeuten. Schwindet das Leben, so ist damit alle Bewusstseins­möglichkeit aufgehoben. Das Umgekehrte gilt aber nicht; schon aus diesem Grunde bezieht sich der Selbsterhaltungstrieb seinem tiefsten Sinne nach sicher nicht auf das Wissen um das Leben. Hinge der Mensch ursprünglich und wesentlich an seiner bewussten Existenz, er müsste den Schlaf kaum weniger fürchten, als den Tod. Die erfahrungsmäßige Notwendigkeit jenes, die Gewissheit, nach kurzer Frist zu erwachen — sogar die Wahrscheinlichkeit einer gestärkten Wiedergeburt könnte die Verneinung des Daseins, die unter der genannten Voraussetzung im Schlaf beschlossen läge, nicht aufheben. Schon allein der Zeitverlust erschiene in Anbetracht der Kürze des Lebens unerhört und unverhältnismäßig, durch keinerlei Überlegung zu rechtfertigen. Wenn der Mensch achtzig Jahre lebt, verschläft er davon, knapp gerechnet, volle dreißig. Dreißig Jahre einer unbewussten Existenz — wie widersinnig! Und doch leidet keiner unter diesem Gedanken, im Gegenteil: nicht wenige erblicken im Schlaf die bestverbrachte Zeit. Wie wäre dies möglich, wenn es uns ursprünglich ums bewusste Leben zu tun wäre! Weiter fällt die Geburt des eigentlichen Bewusstseins — ich meine der Bewusstseinsart, auf die sich der philosophische Begriff bezieht — mit der Geburt des Menschen nicht zusammen. Gewiss fühlt sich der Säugling in irgendeiner Form; aber er weiß nicht von seiner Existenz2. Dieses Wissen setzt einen Differenziationsgrad des Gehirns voraus, der beim Menschen verhältnismäßig spät eintritt und von den meisten Tieren, deren Leben im Übrigen den gleichen Sinn hat, wie das unserige, wohl nie erreicht wird. Lebt der Säugling darum weniger, als der erwachsene Mensch? Leben die Wesen etwa nicht, die, wie alle Pflanzen und weitaus die meisten Tiere, kein dem menschlichen vergleichbares Bewusstsein besitzen, die vielleicht nicht einmal fühlen, dass sie sind, deren lichteste Existenzform dem Zustande des traumlos Schlafenden gleicht? — Mit der Theorie, die im Bewusstsein des Lebens Wesen sieht, ist es ähnlich bestellt, wie mit nur allzu vielen der Weltanschauungen, die den Menschengeist jahrhundertelang beherrscht haben: sie übersieht die Hauptsache. Zeitweilig hieß es: der Sinn des Daseins liege im Denken. Und die Verfechter dieser Meinung merkten nicht, dass sie durch die schlichte Tatsache, dass es für die weitaus meisten Menschen überhaupt keine Erkenntnisprobleme gibt, schon ad absurdum geführt ist.

Welchen Wert kann eine theoretische Lebensansicht haben, die beinahe die Totalität des Lebens ausschließt? Ist der denn kein Mensch, dessen Gesichtskreis über sein leibliches Dasein nicht hinausreicht? — Zu praktischen Zwecken ist es freilich ratsam, möglichst ausschließlich zu sein; die soziale Moral darf nur das Zweckmäßigste, das Höchste gelten lassen; verfährt sie anders, dann ist sie überflüssig. Desgleichen ist der Philosoph, der seinen Beruf nicht im Begreifen des Vorhandenen, sondern, gleich Nietzsche, im selbstherrlichen Erschaffen von Werten erblickt, berechtigt, seine Ideale unabhängig, ja im Gegensatze zur Tatsächlichkeit der Welt zu gestalten. Anders liegen die Dinge für den, dem es ausschließlich ums Erkennen zu tun ist. Dieser hat sich vorurteils- und absichtslos ans Gegebene zu halten. Er darf überhaupt keine Werte voraussetzen, darf keine Grenzen stecken, von denen die Natur nichts weiß. Sobald es sich erweist, dass seine Voraussetzungen der Totalität des Daseins nicht gerecht werden, muss er sie fallen lassen. Aber die Philosophen sind meist unbesonnener zu Werke gegangen. Willkürlich wurde der Mensch einst als das vernünftige Wesen definiert. Aus diesem Begriffe folgte dann, logisch genug, die Nichtigkeit aller nicht-vernünftigen Lebensäußerungen, und — da diese bei der Mehrzahl überwiegen — mit gleicher Unwiderleglichkeit die Sinnlosigkeit der meisten Existenzen überhaupt. Nun war die Verlegenheit groß: welcher Art konnte angesichts der Tatsache, dass die der Bestimmung entsprechenden Menschen zu den seltensten Ausnahmen gehören, der Sinn des Daseins sein? Durch die mannigfaltigsten Theorien suchte man sich zu helfen; zuletzt durch die des Fortschritts. Aber der Fortschritt der Menschheit nützt den Individuen nichts; diese erscheinen da als bloße Durchgangspunkte. Die Entwicklungstheorie nimmt ihnen jeden Eigenwert, sie sind keine Zwecke, sondern bloße Mittel. Und doch hatte dieselbe Anthropologie, die den Begriff des vernünftigen Wesens erfand, zugleich mit feierlicher Gebärde verkündet, jede einzelne Seele verkörpere einen letzten, höchsten Zweck. So erschien das Dasein immer widersinniger. Gleichwohl verfiel kaum einer darauf, dass die Voraussetzungen falsch sein könnten, dass der Widersinn vielleicht nur ihnen zuzuschreiben wäre.

Die Philosophie hat es bisher kaum besser getrieben, als die Theologie: auch sie ist der Totalität des Daseins nie gerecht geworden; auch sie vergewaltigt die Natur durch willkürlich vorausgesetzte Werte; auch sie besitzt (wenn auch diskrete) Äquivalente für Himmel und Hölle. Liegt der Sinn der Welt in der Liebe, dann sind die Lieblosen kosmisch heimatlos; ist’s der Glaube, so kommen die Zweifler in die Hölle. Beruht der Weltzweck auf Erkenntnis, so ist den Dummen jeder Sinn genommen; erschöpft er sich im Genius, so erscheint der Philister gerichtet. Ist der Menschheitsfortschritt Ziel des Weltprozesses, dann sind die Einzelexistenzen als wertlos hingestellt, und ist der Sinn des Lebens Leiden, so ist damit die ganze Welt verurteilt. Hält die Einsicht dessen denn gar so schwer, dass der Sinn des Lebens nur in ihm selbst liegen kann? Und dass deshalb keiner Existenzform ein absoluter Vorzug innewohnt? Das Genie wie der Idiot, der Heilige wie die Bestie: sie alle sind berechtigte Naturzwecke. — Genau in der gleichen Richtung liegt der Fehler der Theorie, die im Bewusstsein des Lebens Wesen erblickt: sie schließt einen Hauptteil aus. Zunächst wahrscheinlich die gesamte Pflanzen- und vielleicht die Mehrheit der Tierwelt, dann aber auch kaum weniger als die Hälfte der menschlichen Existenz. Ist es denn nicht lächerlich, über das Absurdum den Kopf zu schütteln, dass die Natur ihren offenbaren Zweck — das bewusste Leben — so mangel- und lückenhaft verwirklicht, anstatt zu begreifen, dass, wenn die Natur uns widersinnig scheint, die Schuld daran an unserer Vorstellung liegen wird? Es ist dies ein trauriges Thema, das man am Besten schweigend übergeht, da es leicht zu einer bitteren Satire verführen könnte. — Das Bewusstsein, wie wir es kennen und meinen, ist tatsächlich nur eines der vielen Mittel, welche das Leben zu seiner Erhaltung verwendet; zum Wesen gehört es nicht. Wo die Fortpflanzung notwendig geschieht, weil die Geschlechter nicht getrennt oder im gleichen Individuum vereinigt sind, dort fehlt die Liebessehnsucht; sind die Geschlechter räumlich geschieden, führt bewusster Trieb die Paare zusammen. Verschiedene Mittel zum gleichen Zweck. Unter einfachen Verhältnissen genügen automatische Reflexe zur Behauptung des Lebens; die Seerose braucht keine Pläne zu machen. Der Mensch könnte, bei der ungeheuren Komplikation seiner inneren und äußeren Existenzbedingungen, ohne Reflexion nicht dauern.

Doch auch bei ihm wirkt das Bewusstsein nur dort mit, wo die automatische Regulierung versagt3; alle untergeordneten Lebensvorgänge gehen unbewusst vonstatten, und die höchsten wiederum gipfeln in der Möglichkeit, ohne bewusste Leitung dennoch zweckmäßig abzulaufen. Der vollendete Fechter weiß nicht mehr, wie er ficht, der Meister des Klaviers beherrscht es auch im Schlaf; und der geniale Staatsmann reagiert mit der augenblicklichen, unfehlbaren Präzision des Automaten auf die schwierigsten Konstellationen. Beinahe könnte man sagen, das Bewusstsein bedeute ein faute de mieux, einen Umweg, um Zeit zu gewinnen; der Instinkt arbeitet schneller als die Reflexion. Ein idealer Geist müsste augenblicklich für jeden Reiz die bestmögliche Antwort bereit haben; allzu schnelle Prozesse entgehen dem trägen Bewusstsein. Und so führte die höchste Entwicklung zum Automatismus der Seerose wieder zurück.

Der Sinn des Lebens liegt eben in ihm selbst, nicht in seinen Mitteln und Faktoren. Der Sinn des Gehens liegt im Gehen, nicht im Charakter der Füße. Ob zwei Beine oder tausend, ob Hufe oder Schwimmlappen: es sind verschiedene Werkzeuge zum gleichen Zweck. So ist’s auch mit den geistigen Funktionen. Liebe, Erkenntnis, bewusste Reflexion sind Lebensmittel. Deswegen muss der, welcher im Faktor das Wesen erblickt, unabwendbar zu schiefen Vorstellungen gelangen. Auch bei dem, was uns subjektiv und insofern bewusstseinbedingt erscheint, handelt es sich tatsächlich um ein objektives, vom Bewusstwerden unabhängiges Werden. Das Bewusstsein ist nur ein Spiegel der Wirklichkeit, nirgends mehr; ein Spiegel, der sehr wohl fehlen mag, ohne dass an dieser das Mindeste dadurch geändert wäre. Freilich geht es nicht an, wie dies Eduard von Hartmann getan hat, das Unbewusste seinerseits zu hypostasieren. Aber Tatsache ist, dass nach innen zu, von unserer Vorstellung her geurteilt, eine ebenso grenzenlose objektive Wirklichkeit besteht wie nach außen zu, und dass unser seelisch-geistiges Wesen sich in dem, was wir von ihm wissen und erfahren können, auch nicht annähernd erschöpft. Wir sind in eine seelische Welt als Teile genau so eingebettet, wie in die physische, und in keinem der Fälle ist das, was wir von uns wissen oder für uns wollen, unsere eigene letzte Instanz. Wird man mir mit dem altehrwürdigen akademischen Einwande begegnen, von einem Sein ohne Bewusstsein könnten wir nichts erfahren, vom Bewusstsein ließe sich daher nicht absehen, und was der Selbstverständlichkeiten mehr sind? — Diese Überlegungen sind natürlich richtig, wie alle tautologischen Urteile, nur fördern sie die Erkenntnis nicht. Freilich könnten wir nicht erkennen, wenn dem Geist Bewusstsein fehlte; insofern bedeutet dieses zweifelsohne die letzte Instanz. Aber was beweist diese Wahrheit in bezug auf die Natur? — Gar nichts. Die conditio sine qua non aller Wissenschaft mag sehr wohl einem kosmischen Nebenumstand entsprechen.

In dieser, wie in so vielen Hinsichten, haben andere Völker tiefer als wir gedacht. Sogar die Griechen der homerischen Zeit: der Mythos des Lethetrunks, der dem Toten die Erinnerung an das Erdenleben auslöscht, drückt in wenn auch dunkler Form die Erkenntnis aus, dass die Fortdauer des Lebens keine Kontinuität des Bewusstseins impliziert. Und die Inder, die der Seele vier Zustände (das Wachen, den Traumschlaf, den Tiefschlaf und das Gestorbensein) zuschrieben, haben im Bewusstsein nie das Wesen gesehen, immer nur ein hinfälliges Attribut. Zu sich selbst, zur endgültigen Vereinigung mit Brâhman gelange die Seele erst im Tod, und diese Vereinigung hebe alle Zustände, darunter das Bewusstsein, auf. Aber auch im Tiefschlafe, wo es heißt, der Geist sei von dem erkenntnisartigen Selbste umschlungen, sei der Âtman mit dem Weltgeist eins. Das Wesen liege tiefer als alle Bewusstseins­möglichkeit. Desgleichen war es eine der vornehmsten Lehren Buddhas (wie übrigens auch der Sânkhya-Philosophie), dass man wie von keiner Körperlichkeit, so auch von keinem Empfinden, Erkennen oder Vorstellen sagen könne: das ist mein; das bin ich; das ist mein Selbst. Auch ihm lag das Ich jenseits der Bewusstseinszustände. Der abendländische Geist hat vor lauter Beobachtung der Außenwelt, vor lauter objektiver Theorie, die Grundtatsachen des Innenlebens oft übersehen. Daher kommt es, dass er den Sinn des Bewusstseins so wunderlich überschätzt, so kläglich missverstanden hat. Tatsächlich umfasst dieses nur einen geringen Bruchteil des Lebens, kennzeichnet gewisse seiner Zustände, leuchtet blitzartig in den kritischen Momenten des Daseinskampfes auf. Zum Wesen gehört es nicht. Wenn der Wille zum Leben nur das Bewusstsein beträfe, dann wäre dieser Wille unverständlich. Er wollte das Zufällige, das Unzulängliche….

Wenden wir uns jetzt zu unserem Ausgangspunkt zurück. Wenn dies bewusste Dasein nur einen Ausschnitt des Menschenlebens bezeichnet — und diese Tatsache ist unbestreitbar —, dann beruht der Nachdruck, der in der Bewertung des Diesseits wie in den Jenseitshoffnungen auf sie gelegt wird, auf einem Missverständnis. Wir hoffen und urteilen auf Grund einer Illusion; die Voraussetzung ist falsch. Der Wille zum Leben bezieht sich aufs Leben schlechthin, die Synthese oberhalb des Bewusstseins. Und wenn dem so ist: was lässt sich aus subjektiver Perspektive gegen die objektiv erwiesenen Sätze, dass wir mit unserer Person dem Wesen nach nicht identisch sind, dass auch der beschränkteste Egoist nicht sich selbst, sondern einer Idee lebt, weiter einwenden? Mit dem Bewusstsein fällt die Person; das, von dem ich nicht weiß, ist auch nicht mein; veränderte sich im Tiefschlaf meine Individualität, würde aus dem Menschen ein Tier, ich könnte es nicht spüren; und doch hätte die Ichfunktion stetig fortgewirkt. Das, was wir subjektiv als unsere Person empfinden, ist wesentlich an Bewusstsein gebunden. Eine unbewusste Person bedeutet keine erfahrbare Realität, sondern einen Begriff ohne Inhalt …. Freilich ist es nicht möglich, von diesen negativen Bestimmungen aus zum positiven Sinn des Lebens vorzudringen. Aber unsere letzten Betrachtungen beabsichtigten auch gar nicht, diesen zu fassen: sie wollten bloß die letzten Hindernisse, die der gründlichen Einsicht im Wege stehen, hinwegräumen. Und dies ist jetzt geschehen. Wenn das Bewusstsein nichts Wesentliches bedeutet, wenn es nicht, wie die Meisten noch heute glauben, den Urgrund alles Seins bezeichnet, sondern bloß ein mögliches Phänomen, welches auftreten kann oder auch nicht, ohne dass der Charakter des Lebens deshalb ein anderer würde — dann sind alle Einwände, die unter der entgegengesetzten Voraussetzung gegen unsere Auffassung vorgebracht werden können, hinfällig. Gegen den unpersönlichen Charakter des Ich, auf das der Selbsterhaltungstrieb sich bezieht, lässt sich aus subjektivem Gesichtswinkel Stichhaltiges kaum mehr einwenden.

1 Vielleicht die beste Darstellung der hierher gehörigen Tatsachen enthält das zehnte Kapitel des ersten Bandes von William James’ Principles of Psychology (The consciousness of Self). James’ scharfsinnige Auseinandersetzungen sollten meines Erachtens jeden denkenden Leser zu meiner Theorie des Verhältnisses von Bewusstsein und Ich bekehren, da diese allein der Totalität des Tatbestandes gerecht zu werden vermag. James selber hat freilich auf die gleichen Facta hin geschlossen, es gäbe überhaupt kein Ich; er erkennt nur dem Gedankenatom (thought) und dem stream of thought Existenz zu. Das liegt aber an seiner Unfähigkeit; eine andere als die analytische Fragestellung zu begreifen. In Wahrheit schlagen seine allgemeinen Folgerungen den so meisterhaft beobachteten und dargestellten Tatsachen ins Gesicht.
2 Wie wesentlich das Bewusstsein des Säuglings von dem des Erwachsenen differiert, zeigt sich besonders deutlich bei Geisteskrankheiten: da die Gehirnteile, an welche das eigentliche Geistesleben gebunden ist, bei jenem noch kaum differenziert sind, äußern sich die psychischen Störungen unmittelbar in Muskelbewegungen; der Wahnsinn des Säuglings ist sozusagen physischer Natur.
Si nous descendons au plus bas degré, de la vie humaine, au baby, schreibt Th. Ribot (Essai sur l’imagination créatrice, 2éd., Paris 1905, S. 84), nous voyons que la folie est presque tout entière dans l’activité d’un groupe musculaire agissant sur les choses extérieures. Le baby fou mord, frappe du pied, et ces symptômes sont la mesure extérieure de la folie.
3 Wie groß die Sphäre des psychischen Automatismus ist, und wie bedeutend die Erscheinungen sein können, die ohne bewusste Regulierungen vonstatten gehen, darüber gehen natürlich bloß Spezialwerke befriedigenden Aufschluss. Ich möchte von solchen besonders Pierre Janet, L’automatisme psychologique, 4. éd. Paris 1903, empfehlen, und Morton Prince, The dissociation of a personality, London 1906 (Langmans, Green & Co.).
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME