Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Mensch und Menschheit

Selbstbewusstsein

Die Immoralisten haben, wie gesagt, die genannte Beziehung geleugnet. Rein logisch betrachtet waren sie berechtigt dazu, denn empirisch gegeben sind uns wirklich nur Individuen, und die höheren Synthesen scheinen zunächst Begriffe und Ideen zu bezeichnen, denen keine Wirklichkeit zu entsprechen braucht. Aber die Logik ist keine unbedingte Autorität der Natur gegenüber; was einer Definition widerspricht, kann trotzdem existieren. Deshalb wollen wir uns vorläufig ohne Hintergedanken mit dem Tatsächlichen vertraut machen, um es erst späterhin kritisch zu interpretieren.

Suchen wir weiten Blicks die Lebensformen der verschiedenen Völker, die sich im Raum und in der Zeit entwickelt haben, zu überschauen, so gewahren wir, dass Zustände, in welchen das Individuum als solches eine Rolle spielt — die selbstverständliche Prämisse des modernen Europäers — zu den seltensten Ausnahmen gehören. Die Regel bezeichnen vielmehr solche, wo das eigene Wesen des Menschen ganz in der Gruppe aufgeht, wo diese die Voraussetzung des persönlichen Selbstbewusstseins bildet. Die Gruppe denkt und fühlt; sie urteilt und bestimmt; und der Einzelne bäumt sich gegen ihre Tyrannei nicht auf, weil er von seiner Autonomie nichts weiß; er fühlt sich ursprünglich verschmolzen mit der Gesamtheit. Und so verhält es sich nicht allein bei primitiven, anscheinend kulturunfähigen Völkern1: gerade so lagen die Dinge in den frühesten Zuständen späterer Kulturnationen, so in der Urzeit der Hellenen und der Römer. Man lese die Darstellung von Fustel de Coulanges (La cité antique, 19. éd. Paris 1905). Der Urgrieche lebte und fühlte sich ursprünglich nicht als einzelner Mensch, sondern als Glied der Familie. Wo der Moderne von seiner Person als letzter Prämisse ausgeht, fühlte jener seinen Seinsgrund im Geschlechte, dem er angehörte; sein Wesen war Pietät. Unmittelbar spürte er seinen lebendigen Zusammenhang mit den lebendigen Stammesgenossen sowohl als mit den toten. Seine Ahnen lebten in ihm fort; in jedem Augenblick seines Daseins empfand er sich als ihr Geschöpf, ihr Werk. In seinem persönlichen Dasein das Letzte zu erblicken, diese Zumutung hätte er kaum verstanden. Auch als Toter dauerte er ja fort — dafür leistete die Pietät seiner Nachkommen Gewähr; und in seinen Kindern fühlte er sich recht eigentlich fortleben. Er lebte bewusst als Glied der Familie; sie bestimmte; sie war die einzige juristische Person. Keinem Einzelnen kam es in den Sinn, sich selbständig zu betätigen. Es war kein Verzicht seinerseits zugunsten der Gesamtheit aus reflektierter Einsicht oder im Überschwang generöser Impulse, wie bei uns wohl zu Kriegszeiten oder sonst bei gemeinnützigen Unternehmungen: es war ursprüngliches Gefühl, ganz naiv; keinem fiel ein, dass es auch anders sein könnte. Die Persönlichkeit als selbständiges, empirisches Faktum kannten jene Zeiten nicht. Wo sie auftrat, ward sie sofort symbolisch gedeutet: der Älteste als Haupt des Clan, der Held als Vertreter des Stammes. Damals gab es noch keine einsamen Menschen, die hierzu erforderlichen lebendigen Voraussetzungen waren noch nicht geboren. Die Volksseele umspannte das Einzelbewusstsein mit eisernen Klammern, die Gruppe regierte des Einzelnen Wollen.

Dieser Zustand, der im Westen in der Urzeit der Griechen und Römer seinen klassischen Ausdruck fand, herrscht im Orient in sehr ähnlicher Form noch heut. Die Ostasiaten muten den Europäer als beängstigend unpersönlich an2: die Distanz zwischen hoch und niedrig ist in Japan z. B. unglaublich gering. Einerseits ist das Durchschnittsniveau ein höheres als im Westen — so roh, wie unser Proletarier, ist keiner seiner östlichen Genossen —; andererseits halten ihre großen Männer den Vergleich mit den unserigen nicht aus. Das Ergebnis ist Gleichförmigkeit. Die Familie, der Clan, die gesellschaftliche Konvention beherrscht den Japaner dermaßen, schreibt ihm so erschöpfend sein Verhalten vor, dass für selbständige Betätigung kein Raum übrigbleibt. Dem gewaltigsten Samurai wie dem ärmsten Arbeiter scheint es undenkbar, anders zu leben und zu handeln, als sein Vater gelebt hatte, als die Gesamtheit von ihm erwartet. Jedem ist seine Stellung, seine Tätigkeit wie sein gesamter Lebensgang von Geburt an vorgezeichnet. Die Freiheit, wie der Europäer sie versteht, begreift er entweder gar nicht, oder aber er verabscheut sie als etwas Barbarisches: er vergleicht sie dem Zustand der Reptilien und der Vögel, die keine Gesetze kennen3. Von der Wiege bis zur Bahre ist sein Leben streng vorausbestimmt; das Sollen erdrückt alles nur mögliche Wollen.

Es gilt zu begreifen, dass diese Lebensanschauung nicht in reflektierter Theorie, sondern im ursprünglichen Bewusstsein wurzelt. Der Japaner empfindet ursprünglich als Glied der Gesellschaft, dieses Verhältnis ist ihm die natürliche Bewusstseinsvoraussetzung. Auch der Japaner fühlt den lebendigen Zusammenhang mit seinen Vorfahren, ganz wie der Urgrieche; auch er ist kein einsamer Mensch. Nur ist er sozialer und weniger metaphysisch veranlagt, als der Hellene, weshalb das Gefühl des sukzessiven Zusammenhangs (mit den Ahnen und Nachkommen) im Verhältnis zum simultanen (mit den lebenden Verwandten und Stammesgenossen) etwas zurücktritt. Er wirkt dementsprechend sozialer, politischer, umgänglicher. Die antike Familie war etwas Finster-Abgeschlossenes; der Japaner ist der rücksichtsvollste aller Menschen, jederzeit und jedermann gegenüber bereit, sein Ich hintanzusetzen. Dies verleiht ihm im Frieden die unvergleichliche Anmut, im Krieg das furchtbare Pathos. Mit einer uns unbegreiflichen Selbstverständlichkeit geht er in den Tod. Er kämpft eben nicht als Individuum für ein mehr oder minder abstraktes Vaterland, sondern als Japaner für Japan. Ihm ist die Heimat kein Begriff, sondern ebenso lebendiges Erlebnis, wie dem Westländer sein Ich. So vollbringt er, ohne mit der Wimper zu zucken, Großtaten, die das individualistische Europa in verständnislose Bewunderung versetzen.

Gerade so unpersönlich fühlt der Chinese; auch ihm geht die Familie über die Person, auch er strebt von Natur aus nach keiner unbedingten Selbstbestimmung. Ja das Gleiche scheint, wenn auch in noch so abweichender Erscheinungsform, von den meisten Orientalen zu gelten: auch beim Araber überwiegt das Rassengefühl das persönliche Bewusstsein, auch des Juden Familiensinn erweist sich oft stärker als sein persönlicher Ehrgeiz; und sogar das arische Indien der Vedenzeit scheint keine Individualitäten in unserem Sinn hervorgebracht zu haben. Es dachte eigentlich nicht der einzelne Philosoph, sondern der große indische Volksgeist. Hermann Oldenberg schreibt:

Überall wirkt ein unpersönlich Allgemeines, und der Einzelne trägt nur die Züge, die der Gemeingeist ihm aufgeprägt hat.4

Zweifellos sind die Völker des Westens individualisierter als die des Ostens — aber auch sie waren es nicht immer. So ist es sehr fraglich, ob die Griechen vor der Zeit ihres Verfalls der Individualität je große Bedeutung beigemessen haben: ein großer Athener war zunächst Athener, Bürger seiner Stadt; als solcher dachte und fühlte er. Sogar die Philosophen, Platon inbegriffen, sahen in der Selbstbestimmung der Persönlichkeit keine Notwendigkeit.

Was von den Griechen mit Einschränkung gilt — mit Einschränkung, weil sie kein wesentlich politisches Volk waren —, gilt von den Römern unbedingt. Es unterliegt keinem Zweifel, dass ihnen der Begriff des Staats, der res publica, viel lebendiger war, als der des Einzelnen. Ein Cincinnatus fühlte sich sicher nur insofern als Ich, als dieses Ich zu Rom gehörte; und wenn Coriolanus anders dachte, so lag darin eine Ausnahme, die seine Zeitgenossen wie Generationen seiner Enkel als ungeheuerlich anmutete. Eine wunderbar einheitliche Atmosphäre weht uns aus jenen Jahrhunderten entgegen; niemals vielleicht im ganzen Westen hat ein Volk so sehr als Organismus, als unteilbares Individuum gelebt, wie die Römer des republikanischen Zeitalters. Erst mit den großen Revolutionen, die in der Errichtung des Imperiums mündeten, begann sich der Einzelne zu emanzipieren; erst um diese Zeit erwachte das Bewusstsein der individuellen Einzigkeit. Und da hob auch bald das Christentum das Individuum als Selbstzweck auf den Schild.

Es ist nämlich unbestreitbar, dass die Persönlichkeit (so wie wir das Wort verstehen) erst durch das Christentum ins Leben gerufen worden ist. Gewiss war ihr Begriff schon früher entdeckt. Die Sophisten hatten auf dem Weg der Negation diese Grenze erreicht, alle späteren Philosophenschulen waren kosmopolitisch gestimmt, und wenn Staat und Volksgemeinschaft an Ansehen verlieren, kommt dies notwendig dem Einzelnen zugute. Die Weltanschauung der Stoa war sogar bewusst auf das Individuum eingestellt. Aber den Schulbegriffen fehlte die lebendige Kraft, ihre Wirkung reichte nicht hinaus über einen engen Kreis, in Lebenswerte konnten sie sich nicht umsetzen. Wo das Christentum nicht gezündet hatte, glaubte keiner an einen unendlichen Wert der Menschenseele, und mochte er noch so fest von seiner Fortdauer nach dem Tode überzeugt sein. Man schätzte das Individuum als Glied der Familie, als Stammesgenossen, als Träger eines Namens oder eines Berufs, als Symbol für überindividuelle Zusammenhänge — immer also in bezug auf etwas anderes, nie an sich selbst. Dass der Mensch als Mensch schlechthin, abgesehen von seinen Eigenschaften, ein Zweck sein könne, kam niemandem in den Sinn; die bloße Zumutung, derartiges zu glauben, wäre dem besten Teil der Heidenwelt ungeheuerlich erschienen. In dieser Hinsicht bezeichnet das Auftreten Christi ohne Zweifel den wichtigsten Wendepunkt der Weltgeschichte, denn sie zog wirklich eine Umwertung aller Werte nach sich; alles spezifisch Europäische rührt, noch so indirekt, von Christus her. Um nur die jüngsten und für uns deshalb lebendigsten Folgen seines Erdenlebens anzuführen: die Erklärung der Menschenrechte, der Sozialismus5, die Philosophie, die mit dem Einzelsubjekt als letzter Voraussetzung anhebt und vor allem auch die Moral Friedrich Nietzsches, welche, weit entfernt, das Christentum aufzuheben, in Wahrheit dessen äußerste Konsequenzen gezogen hat; ohne die geheime Voraussetzung des unendlichen Werts der Menschenseele wäre nämlich die Herrenmoral, die zugunsten des Genies die übrige Menschheit mit Füßen tritt, unmöglich gewesen. Man gebe sich hierüber keinen Täuschungen hin: das europäische Denken ist durch und durch vom Christentum durchsetzt. Dessen oberster Grundsatz ist der Selbstzweck des Individuums, er aber gibt dem gesamten modernen Leben die Richtung. Wer sich im Ernst vom Christentum abwenden will, müsste zunächst auf den Individualismus verzichten. Das Heidentum wusste nichts von der Persönlichkeit in unserem Sinn, obschon es gewiss nicht geringere Menschen hervorgebracht hat, als die christliche Ära.

Man pflegt die Umänderung der Denkart, die auf den Nazarener zurückgeht, als unbedingten Fortschritt aufzufassen. Dies mag so sein: doch wo es zu begreifen gilt, ist es immer bedenklich, zu werten. Mag die absolute Autonomie der sittlichen Persönlichkeit das Ideal jeder Ethik bedeuten: wer die Wirklichkeit vom Ideal her betrachtet, wird dem Tatbestande schwer gerecht. Dem Forscher ziemt es nicht, im Phänomen eine bloße Etappe zu hypostasierten Endzwecken zu sehen; mag diese Ansicht sittlich notwendig sein, jedenfalls vergewaltigt sie die Natur. Schopenhauer hat gesagt: Die Kunst ist überall am Ziel, das Gleiche gilt vom Leben. Deshalb ist auch der scheinbar harmloseste Evolutionismus der Erkenntnis, zunächst wenigstens, verderblich. Es ist ja unbestreitbar, dass die Völker sich entwickeln, dass die ursprüngliche Gleichartigkeit sich zu immer größerer Mannigfaltigkeit differenziert. Das politisch selbständige Individuum entsteht durch Differenzierung der amorphen Gruppe, ebenso bildet sich das Einzigkeitsbewusstsein durch Differenzierung des trüben, halb sozialen, halb individuellen Selbstbewusstseins des Primitiven. Nur dürfen wir diese Tatsachen nicht ohne Weiteres in Werte umdeuten. Aus kosmischer Perspektive betrachtet, erscheint der vollentwickelte Mensch nicht als mehr denn der Embryo, sondern bloß als etwas anderes. Wir haben einfach anzuerkennen, was da ist. Darum wollen wir in der christlichen Lebensansicht nicht die Vollendung der früheren erblicken (was schon ein Werturteil bedeutete), sondern einfach feststellen, dass sie auf eine andere folgte, und ihr Verhältnis zu den sonstigen Lebensformen zu begreifen suchen.

Mit dem Christentum ward also die Persönlichkeit als Wert in die Welt gesetzt. Seitdem der Zeitgeist, in welchen der Mensch hineingeboren ward, ein christlicher war, fühlte sich jeder zunächst und ursprünglich als Einzelner, gleichviel wie seine Gefühle und Überzeugungen im Übrigen beschaffen sein mochten, ob sein Instinkt ihn zur Selbstbehauptung oder zur sachlichen Aufopferung trieb. Sogar die modernen Verächter des respect humain, die dem Menschen als solchen jede Würde absprechen, sind nur unter christlichen Voraussetzungen verständlich. Der Individualismus gehört zu den unbedingten Voraussetzungen des europäischen Denkens und Empfindens.

Aber wenn wir uns jetzt die Ergebnisse unseres flüchtigen geographisch-historischen Streifzugs auf einmal vergegenwärtigen, so können wir uns der Tatsache nicht verschließen, dass unsere Voraussetzungen nicht die einzig möglichen sind.

Es hat Zustände gegeben und gibt sie andernorts noch heute, wo dem Individuum an sich keinerlei Wert zugesprochen wird. Auch bei uns muss die Politik so verfahren, als ob das Individuum nichts, der Staat alles wäre; demgemäß wird in der Schule jedem eingebleut, dass es bloß auf die Sache ankomme, und dass nichts ehrenvoller sei, als das Sterben für eine Idee. Indes empfindet auch der gedankenärmste Europäer diese Lehre im Stillen als paradox; sie beunruhigt ihn; seine intimste Voraussetzung bleibt doch seine Person, nicht die Allgemeinheit. Bei anderen Nationen scheint gerade letztere die ursprüngliche Voraussetzung zu sein; dem Japaner steht Japan so nahe, wie dem Christen seine Seele; ihm sagt sein unmittelbares Gefühl, nicht nur die objektive Reflexion, dass es aufs Individuum nicht ankomme. Ja bei vielen Völkern scheint das Gruppengefühl das Selbstbewusstsein vollkommen zu ersticken. Und diese Erscheinung lässt sich, unbeschadet der Wahrheit, sekundär nicht erklären — durch Autoritätsglauben, Autosuggestion, reflektierte Einsicht, praktische Motive: sie bedeutet ein primäres, ursprüngliches, weiter nicht zurückführbares Bewusstseinsphänomen. Es gibt tatsächlich unpersönliche Nationen, deren Gliedern ein selbständiges Ichbewusstsein fehlt; die meisten Orientalen gehören in irgendeiner Hinsicht dazu — daher bekennen sie sich so häufig zu Religionen, welche, wie die buddhistische, die einheitliche Seele leugnen und nur von labilen Bewusstseinskomplexen wissen, oder aber jedem Einzelnen eine Reihe von Seelen zusprechen, deren jeder ein besonderes Schicksal winkt. Selbstgefühl in unserem Sinn ist jedenfalls keine Naturnotwendigkeit; es bedeutet nur eine Erscheinungsform unter anderen des menschlichen Bewusstseins.

Wohlgemerkt: ich konstatiere nur, erkläre nicht. Dem Begriff dieses merkwürdigen Verhältnisses sind wir noch fern. Fassen wir jetzt das labile Verhältnis des individuellen zum sozialen Bewusstsein pragmatisch, vom Standpunkte der Geschichtsphilosophie ins Auge.

Kein Zweifel: je stärker die Glieder einer Gruppe zusammenhängen, desto machtvoller ist sie; ein hochgetriebener Patriotismus, der alle persönlichen Erwägungen erstickt, hat bisher jedes Volk zur Erhöhung geführt. Die Gemeinschaft steigert die Person. Eine einmütige Menschenmenge, die nicht nur gleichnisweise, sondern tatsächlich eine Kollektivseele besitzt, und deren psychologisches Verhalten besonderen, dem Individuum oft hohnsprechenden Gesetzen folgt6, ist stärker als jede Einzelpersönlichkeit. Das große historische Geschehen war überall an die Unterordnung der persönlichen Interessen unter einen Gesamtwillen gebunden — sei es, dass die Masse blind einem Einzelnen folgte, oder dass ihr ein allgemeiner Zeitimpuls die Richtung gab. Hier ertrinkt das Individuum buchstäblich im Strom der Gemeinschaft; der Mensch vergisst, dass er ein Ich besitzt, hat nur die Sache im Auge. — Doch lassen sich große Zeiten als Paroxysmen deuten, als Perioden übermächtiger Suggestion. Wollen wir das Problem an seiner Wurzel packen, so müssen wir uns vom Superlativ dem Positiv zuwenden. Wie verhielt sich das Individuum zur Gesamtheit in den Zeiten, wo die Völker den Gipfel ihrer Macht erstiegen hatten und nun mit der Ruhe des Siegers auf Höhen wandelten? — Die Antwort scheint nicht zweifelhaft: das Individuum verlor sich zwar nicht im Volksgeist, aber es herrschte auch nicht souverän; wie manche kurzsichtige Psychologen glauben machen möchten. Das Individuum leistete sein Höchstes, aber nur als bewusstes Glied der Gesamtheit; sein Leitmotiv war Pflichtgefühl. Bei unpersönlichen Nationen, wie der japanischen, mag dieses Verhältnis nicht ganz deutlich scheinen: wo das Selbstbewusstsein an und für sich keine scharfe Grenze zwischen sich und den anderen zieht, sind Wollen und Sollen subjektiv kaum zu scheiden — ebensowenig wie sich bei den generösen Impulsen von Menschenmengen, wo sich der Einzelne freudig der Sache opfert, behaupten lässt: das Individuum handele aus Pflichtgefühl. Pflicht setzt reflektiertes Bewusstsein voraus, und in der Gemeinschaft geht dies dem Einzelnen verloren; er lebt wie im Traum, wie im Rausch. Bei persönlich zentrierten Nationen hingegen ist der Sachverhalt deutlich genug. Die Römer bieten dafür das klassische Beispiel: in ihrer Blütezeit empfanden sie durchaus nur als Bürger Roms, nie selbständig oder im Gegensatz zur symbolischen Stadt; jeder fühlte sich einem kategorischen Imperativ unterworfen. Und nicht anders waren die Deutschen gesinnt, die das Reich zur Einheit schmiedeten. Lässt sich eine selbstherrlichere Persönlichkeit erdenken, als die des Fürsten Bismarck? Und doch: seine ursprünglichste Triebfeder war nicht Eigenwille, sondern Pflichtbewusstsein. Stets fühlte er sich als Diener, der eine Aufgabe zu erfüllen hatte, niemals als Herr, welcher willkürlich handeln durfte. Die großen Zeiten eines Volkes (politisch betrachtet) waren allezeit die, in welchen das Pflichtgefühl den Eigenwillen beherrschte. Pflichtgefühl besitzen aber heißt: etwas anerkennen, das über die Person hinausweist.

Wie in gewissen Zuständen das Individuum im Organismus der Gesamtheit aufgeht, so dass auch das Subjekt keine scharfe Grenzlinie zwischen sich und den Anderes spürt, so zerfällt zu anderen Epochen die Gesamtheit in unvermittelte Individuen. Es ist das entgegengesetzte Extrem. Dieser Zug kennzeichnete, außer unserer Epoche, die Dekadenzzeit des kaiserlichen Rom und die Blütezeit der Renaissance. Schon das Zeitalter Petrons war stark individualistisch gefärbt. Jeder Einzelne interessierte sich ausschließlich für sich selbst, stand dem Gemeinwohl ganz gleichgültig gegenüber. Sogar mancher Imperator war nicht anders gesinnt. Und wenn das Römerreich trotz schadhaftem Patriotismus, trotz beispielloser politischer Interesselosigkeit dennoch jahrhundertelang fortbestand, bis es, schon lange gezeichnet, zuletzt unter dem Ansturm der Barbaren zusammenbrach, so lag das am festgegründeten und -gefügten Prinzip, nicht an den Tatsachen: die Staatsmaschine war so gut fundiert und funktionierte aus bloßer Trägheit so vorzüglich, dass es auch schlechte Kaiser und ungetreue Beamte vertragen konnte. Nun hat die individualistische Epoche Roms tatsächlich sehr wenige überragende Individuen hervorgebracht: dies lag am Menschenmaterial: das Völkerchaos bot wenig Keime zu hochragendem Wachstum. Finstere Asketen, feine Journalisten, subtile Ästheten, schlaue Diplomaten: zu Höherem fehlte dazumal der Stoff.

Individualistisch dachte, wie gesagt, auch die Renaissance; unverhältnismäßig groß ist die Zahl gewaltiger Naturen, die jene Zeit aufblühen und dahinwelken sah. Hier war die Herrenmoral kein Kunstprodukt markloser Ästheten, wie in Alexandrien und Rom, hier wuchs sie ursprünglich aus der Vollkraft des Blutes hervor; die Natur zeitigte das Prinzip. Dennoch täuscht man sich, wenn man jene Epoche in jeder Hinsicht als Höhepunkt beurteilt: sie war es bloß in bezug auf einige Wenige, Begnadete. Wie konzentriert einige Personen immer sein mochten, in der Masse herrschte formlose Anarchie. Die Renaissance bezeichnet eins der chaotischesten, zuchtlosesten Zeitalter, von denen wir wissen; scheint es anders, so liegt das an dem damaligen Zustand Italiens. Das Reich war aufgelöst in atomistische Kleinstaaten, von Zaunkönigen beherrscht, die sich sämtlich untereinander befehdeten; solange es an äußeren Feinden fehlte, hinderte nichts die Tyrannen daran, sich allmächtig zu dünken; jeder mochte sich ungestraft überschätzen. Doch wie klein wurden die stolzen Renaissancemänner, wenn eine wohldisziplinierte Großmacht, etwa Frankreich, bei ihnen einfiel! — Groß waren die damaligen Italiener nur als Individuen; oder genauer, als die wenigen Individuen, von denen wir wissen, deren Namen ihrer Zeit den Stempel aufgedrückt haben. Wer nur von Goethe wüßte, könnte im selben Sinn die Zeit von 1820 bis 1830 als eine Glanzperiode Deutschlands ansprechen. Als Nation steht das heutige Italien sicherlich höher, als das vor fünf- und sechshundert Jahren. Die Renaissanceperiode bezeichnet politisch das Gegenteil eines Gipfels — die florentinische Republik bildet keine wirkliche Ausnahme, und Venedig ist ein Problem für sich — und was politisch der Fall ist, trifft für die Mehrzahl der Einzelnen zu.

Über das jüngste individualistische Zeitalter hält es schwer, allgemein und zugleich gegenständlich zu reden; einerseits, weil es noch nicht gar lange währt, dann, weil es in seiner reinen Ausgestaltung von dem mit ihm interferierenden sozialistischen behindert wird, endlich, weil bei der großen Differenziertheit der modernen Kulturvölker Schlüsse, die für ganz Europa gültig wären, kaum zu ziehen sind. Am Weitesten vorgeschritten ist der Franzose; doch ist er nicht der extreme Individualist, der er nach dem Evolutionsdogma sein sollte; er ist es weniger als der Deutsche. Vielleicht liegt das am Blut, jedenfalls liegt es am Alter seiner Kultur. Der französische Nationalgeist ist schon so vollkommen Gestalt geworden, dass er zur Veränderung kaum mehr fähig scheint.

Unwillkürlich wiederholt er sich, auch wo er eine neue Mode schafft, zumeist im Geist seiner Glanzperiode des 17. und 18. Jahrhunderts. Und gravitiert er gar, wie neuerdings, auf das gothische Mittelalter zurück, so bedeutet dies ohne Zweifel ein atavistisches Phänomen. Heute sind die Franzosen die unpersönlichste europäische Nation. Sie wollen alle mehr oder weniger das Gleiche; zur nichtkonventionellen Betätigung fehlt ihnen die freie Phantasie. Ich meine die Phantasie des Lebens, nicht die des Geists, denn dieser ist unter allen europäischen noch immer der erfindungsreichste. Die überaus individuellen Angelsachsen sind andererseits zu ungeistig, zu unreflektiert, um es zu richtigem Individualismus zu bringen, ganz abgesehen von ihrem tiefen politischen Instinkt.

Auch in Deutschland betrifft der extreme Individualismus nicht eigentlich das Volk. Dieses als Ganzes befindet sich noch in dem normalen Stadium, wo Selbst- und Volksbewusstsein sich die Waage halten, oder aber es entwickelt sich, nach kurzer individualistischer Phase, dem Sozialismus entgegen, einer Wiederholung des Gruppen­bewusstseins­zustands auf höherer Ebene. Dennoch erscheint in Deutschland das zweite Extrem des Verhältnisses von Individuum und Gesamtheit — wo es überhaupt statthat — ausgesprochener als irgendwo anders: der Einzelne fühlt sich im Gegensatz zu ihr. Ich bin Ich — im Widerstreit gegen das Weltall. Es gibt keine Pflichten, außer der gegen mich selbst; ich selbst bin mein einziger Zweck. — Es lässt sich nicht leugnen, dass diese Voraussetzung, sofern sie den lebendigen Grund des Bewusstseins bildet, wie keine andere geeignet ist, der Persönlichkeit zur vollendeten Ausgestaltung zu verhelfen; das vorausgesetzte Recht jedes Einzelnen, sich auszuleben, gibt diesem ohne Frage die bestmögliche moralische Basis zum Verwirklichen seiner Möglichkeiten. Doch wird dieser Vorteil durch Nachteile kompensiert: der Mensch steht nicht allein da in der Welt, er ist allseitig bedingt von seinen Mitmenschen; und mit dem Steigen des Ichbewusstseins schwindet zugleich das Zusammenhangsgefühl mit der Menschheit. Der Einzelne fühlt sich einsam, außer Konnex mit seinen Brüdern, weiß von keinen Pflichten gegen andere; und wo die Menschen zusammenhanglos dahinleben, kann das Volk jedenfalls nicht stark sein. Verstreute Steine bilden kein Haus. Aber auch der Einzelne selbst leidet mehr durch übertriebene Vereinzelung, als er gewinnt. Jeder, auch der Genius, ist von der Mitwelt abhängig; versagt diese, so kann er nicht zur Geltung kommen; der Allzu-Einzige bleibt unfruchtbar. So geschieht die überschwängliche Erhöhung der Persönlichkeit letzten Endes nicht nur auf Kosten der Gesamtheit, sondern zugleich zum Schaden des Erwählten. Wie aber verhält sich’s mit denen, deren Einzigkeitsbewusstsein durch keine Vorzüge gerechtfertigt erscheint? — Diese stehen niedriger als die bewussten Herdenmenschen. Verleugnen sie die Gliedschaft in weiteren Zusammenhängen, so geschieht dies aus Beschränktheit. Ihr Ich reicht nicht hinaus über die empirischen Grenzen der Person, ihr Leben verdorrt in der Enge. Man muss schon jemand sein, um sich selbst leben zu dürfen: sonst versündigt man sich nicht bloß an der Menschheit, man übt zugleich ethischen Selbstmord. — Bedeutend genug: bisher war es immer ein Zeichen des Endes eines Volks, wenn der individuelle Trieb so sehr über den sozialen überwog, dass er zu ihm in Gegensatz geriet. Allerdings ist die Persönlichkeit die schönste Blüte der Menschheit; doch wenn wir den Tatbestand vorurteilslos überschauen und als gewissenhafte Naturforscher analysieren, so gewahren wir, dass diese Blüte nur zu sehr der der Aloe gleicht, welche den Tod der Pflanze nach sich zieht. Das Höchste fällt mit dem Ende zusammen. Große Männer sterben meist kinderlos, oder hinterlassen doch keine langatmige Nachkommenschaft; allzu differenzierte Völker müssen roheren den Platz abtreten. Dies ist kein Einwand, nur eine Tatsache. Auch die Aloe muss zuletzt blühen, obschon es ihren Tod herbeiführt, auch das Insekt muss zeugen, obgleich es mit seinem Samen sein Leben von sich gibt; insofern bedeutet auch der extremste Individualismus, der alle Gemeinschaft negiert und das Volk zuletzt zugrunde richtet, keinen krankhaften Zug. Es ist einerseits ein natürliches Verhältnis, andererseits ein tragisches Schicksal. Mehr als Persönlichkeit kann der Mensch nicht sein. Und da das Leben nicht stille steht, keine verweilende Dauer kennt, betrifft der Zukunftstraum einer Epoche, in der nur Edelmenschen lebten, eine Chimäre.

Dies ist die Naturansicht der Persönlichkeit; sie nimmt ihr nichts von ihrem Wert. Die Welt der Werte steht zur Natur in keinem direkten Verhältnisse, sie nutzt diese nur als Verkörperungsmittel, als Material. Von jener soll hier aber nicht die Rede sein: gerade die Einseitigkeit unserer Betrachtungsart gewährleistet ihre Förderlichkeit für die Erkenntnis.

Überschauen wir jetzt die Gesamtheit des durchmessenen Weges, so erkennen wir zunächst, dass folgende Kurve die Entwicklung des Verhältnisses von Mensch und Menschheit zu bezeichnen scheint: im Anfang ist das Selbstbewusstsein des Einzelnen ein soziales; ursprünglich fühlt er sich als Glied der Gruppe, die ihm das Konkreteste bedeutet. In weiteren Stadien emanzipiert sich das Individuum, schafft selbstbewusst im ethnischen Zusammenhang. Zuletzt fühlt es sich, vollends selbstherrlich geworden, einsam, zusammenhanglos unter seinen Brüdern; dann aber ist es mit ihm aus.

Zu dieser Ansicht gesellt sich indes ein weiterer Ausblick: das Verhältnis des individuellen zum sozialen Bewusstsein ist ein gleitendes. Vom Überwiegen des Masseninstinktes, der jeden Einzelwillen erstickt, bis zur Selbstherrlichkeit des Individuums gibt es alle nur denkbaren Übergänge. Es gibt Menschenarten, die das Ich nicht entdeckt haben, vielleicht nie entdecken werden; ihr Bewusstseinszentrum liegt in der Gruppe, ihr Wille ist wesentlich heteronom. In diesem Falle scheint es wirklich möglich, von einer Volksseele zu reden, die konkreter wäre, als die des Einzelnen. Ferner gibt es Lebensformen, wo der ursprüngliche Instinkt des autonomen Einzelnen nicht Eigenwille, sondern Pflichtbewusstsein ist. Wohl liegt hier das Bewusstseinszentrum im Ich, aber dieses Ich fühlt zunächst, dass es soll, nicht dass es will. Hier herrscht zwar keine souveräne Volksseele, doch denken, fühlen und wollen die Individuen so zusammenhängend, so sehr in bezug aufs Ganze, dass das Volk als Einheit wirkt, obgleich es tatsächlich keine ist. Endlich begegnen wir Zuständen, in welchen der Nachdruck so stark auf dem Ich des Einzelnen ruht, dass aller Zusammenhang aufgehoben erscheint; hier gibt es kein Volk mehr, sondern nur noch einsame Menschen. — Sehen wir uns dieses labile Verhältnis jetzt noch genauer an, so gewahren wir, dass das Verhältnis, bei aller Wandlungsfähigkeit seiner Faktoren, in der Regel meist ein konstantes bleibt: je souveräner die Volksseele, desto nichtiger das Individuum, je persönlicher der Einzelne, desto schwächer meist das Volk als Volk. Gewiss gilt dies nur grosso modo: die Anlagen der Völker sind zu verschieden, als dass sie mit gleichem Maß gemessen werden dürften; es geht gewiss nicht an, eine Menschheitskonstante aufzustellen, um welche herum die verschiedenen Rassen in ihrer Entwicklung hin und her schwankten. Bei den Ostasiaten könnte schon ein Differenziationsgrad des Individuums die Einheit schädigen, der beim Arier vielleicht die unterste Bedingung eines kraftvollen Zusammenhangs bezeichnete, ja es lässt sich ein Menschentypus denken, der bei der höchsten uns zugänglichen Differenziertheit dennoch eine ebenso kompakte Volkseinheit darstellte, wie die Japaner. Doch auch für diesen Typus gäbe es einen kritischen Punkt, von welchem ab die Einheit nicht mehr fortbestehen könnte; die Eindeutigkeit der Erfahrung berechtigt zu dieser Verallgemeinerung. Wohl also gilt die Konstanz des Verhältnisses innerhalb der wechselnden Faktoren nur in bezug auf bestimmte vorhandene Anlagen, doch stellt sie unter diesem Vorbehalt tatsächlich eine Art Erfahrungsgesetz dar. Überall und zu aller Zeit war der Zustand der glücklichste und kraftvollste, wo der Einzelne sich autonom und doch als organisches Glied der Gesamtheit fühlte — in dieser Form erreicht das Gleichgewicht den höchsten Grad seiner Haltbarkeit7; und stets und allerorts hat ein übertriebenes Maß individueller Differenziertheit die dynamische Volkseinheit aufgehoben. Somit handelt es sich bei den Synthesen, die über den Einzelnen hinausgreifen, zweifelsohne um natürliche Verhältnisse. Die Erfahrung zwingt zu dieser Folgerung.

1 Vgl. namentlich Lévy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Paris 1910.
2 Vgl. Percival Lowell, The Soul of the Far East.
3 Vgl. Lafcadio Hearn, Japan, an attempt at Interpretation, New York und London 1905, S. 101.
4 Buddha, S. 160.
5 Vgl. zu dessen tiefster Bedeutung die Broschüre Leonie von Ungerns Der Sinn des Sozialismus (Darmstadt 1919, Otto Reichl Verlag).
6 Vgl. Gustave Le Bon, La Psychologie des Foules. Paris, Flammarion.
7 Hierauf beruht die Größe Englands, bisher immer noch der stärksten europäischen Nation. Des Briten Persönlichkeit ist sehr ausgesprochen, gewiss: und doch empfindet er in erster Linie als Engländer, nicht als dieses oder jenes Individuum. Der Grundzug des englischen Charakters ist merkwürdig gleichförmig, ebenso wie es die englischen Handschriften sind. Sogar die Größe trägt dort ausgesprochen konventionelle Züge. Und doch findet sich von Herdenwesen nirgends weniger eine Spur, als im Inselreiche: die allgemeine Konvention ist eben persönliche Überzeugung jedes Einzelnen. Man führt nicht die und die Lebensweise, weil man es so tut, weil es sich so schickt, sondern weil jedes Individuum selbständig der gleichen Ansicht ist. Daher sind die Engländer das politische Volk par excellence; seit je war ihre Staatskunst meisterhaft. Und doch: seit Cromwells Zeiten hat es unter ihnen, wie Graf York von Wartenburg dies in seiner Weltgeschichte in Umrissen ganz richtig bemerkt hat, keinen einzigen Staatsmann ersten Ranges mehr gegeben, während das unpolitische Deutschland deren eine Reihe hervorgebracht hat. Die Engländer haben es eben nicht nötig: wo alle vernünftig sind, bedarf es keines Genius.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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