Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Mensch und Menschheit

Werturteile des Individuums

Das Dasein eines überpersönlichen Zusammenhanges, der die oberste Voraussetzung des Selbstbewusstseins bildet, lässt sich noch auf anderem Wege nachweisen: auf Grund der menschlichen Wertsetzungen. Jeder Mensch unterscheidet ursprünglich und unmittelbar zwischen Gut und Böse. Wie zweifelhaft es theoretisch immer sein mag, was als gut und was als schlecht anzusprechen sei: unsere grundsätzlichen Werturteile entspringen doch keiner Konvention, sondern ursprünglichem Instinkte. Freilich: der Indianer hält es für sittlich, seinen Feind zu skalpieren, und die Betschwester bebt vor ewiger Höllenpein, wenn sie des Freitags Fleisch gegessen hat; im Bereiche der Einzelheiten und Äußerlichkeiten herrscht kein allgemeines Gesetz. Gleichwohl fühlt jeder Mensch, der sich nicht absichtlich täuscht, den Unterschied zwischen dem Großen und dem Kleinen, dem Edlen und dem Gemeinen, dem Erhabenen und dem Niederen. Jeder — gleichviel wie seine persönlichen Grundsätze beschaffen sein mögen — ist sich unmittelbar dessen bewusst, dass der Weise, der eine geistige Existenz verkörpert, mehr ist als der Lüstling, der Mann großer Ideen mehr als der beschränkte Egoist. Das ahnt sogar der Verkommene, der Verbrecher; das empfindet mit wunderbarer, oft unheimlicher Sicherheit das Kind. Dieser Eindruck ist ganz unmittelbar, weder durch Reflexion zu erklären, noch auf Grund von Theorien hinweg zu disputieren; das Wertgefühl in der genannten allgemeinen Form ist ein primäres Bewusstseinsphänomen. Wer in der Theorie noch so sehr jenseits von Gut und Böse steht, scheidet im innersten Herzen doch zwischen positiven und negativen Werten. Der metaphysische Sinn des Mordes ist auch dem geborenen Verbrecher dunkel bewusst. Und auch der Roheste begeht im Allgemeinen nur dann eine Schlechtigkeit, wenn keiner, den er liebt, es sieht oder davon weiß.

Das sind Tatsachen. Man hat sie auf die vielfältigste Weise zu deuten versucht, doch ohne endgültigen Erfolg. Wenn die Inder die Sünde als Irrtum ansprechen und behaupten, wer da wisse, könne nichts Böses wollen, so ist das im tiefsten Grund wohl richtig, aber doch nur eine Umschreibung, keine Erklärung. Ebensowenig sind unsere ursprünglichen Werturteile von einem Ideal her, einem möglichen Weltzwecke aus zu begreifen, denn das bedeutet ein Zurückführen des Bekannten auf Unbekanntes: die sittliche Weltordnung ist eine problematische Idee. Und mit der Hypothese eines Reichs der Zwecke im Gegensatze zur Natur ist schon gar nichts gewonnen. Aber auch die Nützlichkeit des Guten (dies Wort im weitesten Sinn verstanden), die wohl außer Frage steht, bietet nicht den Schlüssel zum Problem. Weil es für die Art besser ist, dass das Starke über das Schwache, das Edle über das Geringe triumphiert, braucht das ursprüngliche Wertgefühl des Individuums doch nicht dasselbe auszusagen: es ist im Gegenteil höchst sonderbar und befremdlich, dass der Mensch objektive Werte anerkennt, die unabhängig vom Charakter seiner Person bestehen. Jeder ist sich selbst der Nächste, sollte demnach seine Werturteile seinem eigenen Wesen anpassen; der Feige sollte die Feigheit, der Böse die Bosheit positiv werten. Statt dessen verehrt der Mensch das, was über ihn hinausweist, was sein eigenes Wesen vielleicht ausschließt oder negiert. Auch der Verbrecher schaut zum Heiligen auf, ob er sich’s eingesteht oder nicht. Ja, jeder Mensch weiß im innersten Herzen sehr genau, was er objektiv wert ist, und dies ganz unabhängig davon, ob die Anderen ihn überschätzen oder unterschätzen, und welche Maske er selbst (vor sich und Anderen) zu tragen beliebt. Der Schurke weiß, dass er’s ist, ob er sich auch stündlich das Gegenteil beweist, und ob auch die Menschheit zu ihm als Heiligen aufschauen mag. So mancher führt nur deshalb einen untadelhaften Lebenswandel, weil er sich seiner gründlichen Schlechtigkeit bewusst ist und dieses Bewusstsein Lügen strafen möchte. Wer die Menschen an ihren Früchten erkennen will, muss auch die Möglichkeit von Kontrastwirkungen berücksichtigen. Jedenfalls kennen wir uns selbst im Allgemeinen besser, als wir uns erkennen. Wer aufrichtig bescheiden ist, wird seine Gründe dazu haben, wer wesentlich stolz und selbstbewusst ist (nicht nur auf Stolz posiert), ist meistens objektiv dazu berechtigt. In der eitlen Selbstüberhebung berühmter Männer steckt im tiefsten Grunde mehr Überschätzung und Verachtung der Anderen, als Überwertung der eigenen Person.

Wie ist es nur möglich, dass jeder instinktiv (nicht aus Reflexion) objektive Werte anerkennt? Wie ist diese Tatsache zu verstehen? — Unter der Prämisse des Einzelindividuums als letzter Bewusstseinsinstanz überhaupt nicht. Es ist und bleibt ein ungeheuerliches Paradox, dass der Mensch etwas als Wert anerkennen kann, was sein Leben anklagt, ausschließt oder vernichtet; aber die Tatsache ist da. Dann muss die Voraussetzung falsch sein: der Ausgangspunkt des ethischen Menschen ist nicht seine Person; es ist ein überpersönlicher Zusammenhang. Geht nun das Selbstbewusstsein des Einzelnen ursprünglich von diesem aus, dann — aber auch nur dann wird verständlich, wie die ursprünglichen Werturteile des Individuums sich mit dem decken, was für die Gemeinschaft das Nützlichste ist, inwiefern es möglich ist, dass der Mensch sich selbst zugunsten eines Anderen und Höheren verneinen kann.

Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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