Schule des Rades
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit
Mensch und Menschheit
Lebenseinheiten
Das einsame, unvermittelte Ich! Die Person als letzte Bewusstseinstatsache! Wie befangen muss nicht der Meisten Blick sein, dass ihnen die Widernatürlichkeit solcher Voraussetzungen nicht in die Augen springt? — Als Embryo ist das Kind von der Mutter nicht geschieden; ihre Lebenskraft pulsiert in seinem Leibe. Jahrelang nach der Geburt ist das Abhängigkeitsgefühl des Kindes so stark, dass sich ein selbständiges Ichbewusstsein gar nicht bilden kann. Der Augenblick aber, da der Mensch sich zum erstenmal des Besitzes eines Iches deutlich bewusst wird, bezeichnet fast immer eine Krisis; vielen hat sie einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Ich führe als Beispiel das Bekenntnis Jean-Paul Friedrich Richters an:
Nie vergess’ ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewusstseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich! wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehenblieb — da hatte mein Ich zum erstenmal sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar, da kein fremdes Erzählen sich in eine bloß im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit Zusätzen mengen könnte.
Es muss in der Tat ein denkwürdiger Augenblick sein, wo der psychische Zusammenhang zum ersten Male reißt, wo sich dem Menschen zum erstenmal die Frage der Selbständigkeit seiner Seele stellt. Dieses Ereignis ist nicht minder bedeutend, als die leibliche Geburt; wer ihm nachsinnt, vermag es kaum zu fassen. Aber die Meisten ahnen nicht einmal, dass es stattfindet. So gehen sie blindlings von der Voraussetzung aus, der Mensch sei psychisch von vornherein eine Monade. Diese Voraussetzung ist freilich plausibler als die richtige; doch wer nach Erkenntnis strebt, muss auch das Befremdlichste, bis dass es widerlegt ist, gelten lassen. Und wie befremdlich ist nicht schon die Tatsache der leiblichen Geburt! Was kürzlich noch verschmolzen war, spaltet sich zu unüberbrückbarer Zweiheit; aus einer unteilbaren Einheit werden zwei einsame Menschen … — Ich meine: schon dieses täglich feststellbare Verhältnis sollte jedem die Augen darüber öffnen, dass die Abgeschlossenheit des Einzelnen vom Standpunkt der Natur nicht das Primäre, nicht das Grundphänomen bedeutet. Der Zusammenhang der Menschen untereinander, der so oft einfach bestritten wird, ist in Wahrheit die Urtatsache. So fühlt es auch das Kind, bis zum Augenblick der Geburt seines Ich.
Dieses glücklich geborene Ich wächst und gestaltet sich nun, immer mehr zur Welt, als erstes zu den Eltern, von denen es noch kürzlich ungeschieden war, in Gegensatz geratend. Das harmonische Weltbild des Kindes verzerrt sich, wenn es heranwächst. Der Jüngling fühlt sich allseitig bedrängt, allseitig unverstanden, und im ohnmächtigen Kampf verhärtet sich sein Ich in seinen Grenzen. Dann naht eine Zeit, wo der Gegensatz wiederum schwindet: bei der ersten großen Liebe. Hier fühlen sich zwei als eins, hier sucht der bis dahin schroffste Individualist in einem anderen aufzugehen. — Allmählich zieht sich das Ich wieder in sich zusammen. Sein wesentlicher Umfang hängt von der Weite der Persönlichkeit ab. Nur bei höheren Menschen umfasst es dauernd weitere Zusammenhänge. Der Weise denkt kosmisch, lebt ursprünglich im Allgemeinen; der Beschränkte fühlt sich zu allem im Gegensatz. Doch ist die Begrenzung des Selbstbewusstseins auf die Person niemals Notwendigkeit.
Man denke an die Seele des Weibes. Dieses fühlt ursprünglich den Zusammenhang mit den Anderen, kann sich in sich selbst (im männlichen Sinne) kaum zurückziehen. Das Weib lebt in denen, die es liebt, in ihren Wünschen, Freuden und Leiden. Scheidet es zwischen sich und den Anderen, so übt es Abstraktion. Mit den Kindern fühlt sich die Mutter nach deren Geburt nicht minder eins, als vorher; und auch in anderer Richtung ist der Familienzusammenhang dem Weibe unmittelbares Erlebnis. Freilich vermag es allzu weite Beziehungen — wie Vaterland, Menschheit — schwer zu fassen; es fühlt sie nicht. Weit weniger Menschen existieren für die Frau als für den Mann. Aber wer überhaupt für sie in Betracht kommt, der tut es in weit lebendigerem Sinne, als für den warmherzigsten unter diesen; er gehört recht eigentlich zu ihrem Ich. Otto Weininger hat aus den angeführten Tatsachen den Schluss gezogen, dem Weib fehle die Seele: doch war es in allem sein Verhängnis, sich selbst ad absurdum zu führen. Das Weib erlebt den Zusammenhang des Lebens lebendiger als der Mann; es steht der Natur näher als dieser, und der Natur bedeuten die überindividuellen Zusammenhänge das Ursprüngliche, das Grundphänomen. Anstatt der Frau Seelenlosigkeit vorzuwerfen, sollten wir eher zu ihr aufschauen: sie fühlt spontan die großen Synthesen, deren Dasein denn widerspenstigen Männergeiste nur mühsam einleuchtet. Doch fußt auch das männliche Selbstbewusstsein in der gleichen überpersönlichen Beziehung; auch der Mann ist keine einsam abgeschlossene Monade, wie gern er sich’s vortäuschen mag.
Sträubt sich unser Stolz, sträubt sich gar der Verstand, diese Wahrheit anzuerkennen? Sollen wir sie abweisen, weil sie uns dunkel scheint? — Aber die Begriffe haben sich den Tatsachen anzupassen, nicht umgekehrt; es bedeutet keinen Einwand gegen die Welt, dass wir sie nicht verstehen. Die vitale Reaktion, die wir als Denken bezeichnen, ist ausschließlich ans bewusste selbständige Schlussstadium des Menschenlebens gebunden; es entwickelt sich nach der Geburt, so spät zumeist, dass die frühesten Zustände dem Verstande unbewusst und fremd bleiben. Daher ist begreiflich, dass seine Voraussetzungen nur den späteren angemessen sind. Wir finden es selbstverständlich, im Menschen eine abgeschlossene Monade zu erblicken — aber warum? Nur weil unsere Denkfähigkeit erst in dem Stadium zur Reife gelangt, wo diese Auffassung durch die Tatsachen gerechtfertigt scheint. Könnte schon der Embryo denken, begleitete der Verstand den Keim bis zur letzten Ausgestaltung, unsere Psychologie wäre keine Monadologie. Dann wäre der Zusammenhang der Lebenseinheiten unsere selbstverständliche Grundvoraussetzung, und uns beunruhigte vielmehr das Problem, wie dieser überhaupt zerreißen kann.