Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Einführung

Sinn des Unsterblichkeitsgedanken

Jedes Problem lässt sich von mehreren Standpunkten aus betrachten, von denen keinem ein unbedingter Vorzug zukommt; an sich kann ich meine Fragen stellen, wie ich will. Doch wenn es mir darum zu tun ist, eine bestimmte Seite meines Forschungsobjektes zu begreifen und zu ergründen — wenn also die Richtung der Untersuchung, wie zweifelhaft alles Übrige immer bleiben mag, einmal festgelegt ist, dann gibt es auch nur einen Gesichtspunkt, der mit der zu betrachtenden Seite des Problems auf einer geraden Linie liegt. Alle anderen liegen abseits. So kann ich dem Ich gegenüber jede nur denkliche Problemstellung versuchen, ohne dass mir ein Irrtum nachzuweisen wäre, solange ich dieses Ich nicht präzisiere. Habe ich aber einmal gesagt, dass ich darunter das erkennende Subjekt verstehe, so ist hinfort keine andere als die erkenntniskritische Denkrichtung mehr fähig, den innersten Gehalt des Problemes zu durchdringen. Dies scheint sonnenklar, und doch: wie viele gibt es heutzutage, deren Auge scharf genug ist, gerade Linien von krummen, Sackgassen von unendlichen Perspektiven zu unterscheiden? Die Meisten ziehen es vor, anstatt die unwegsamen Pfade echter Erkenntnis zu wandeln, mit erschlichenen Begriffen zu operieren und die Welträtsel für gelöst zu erachten, wenn sie ihnen bloß ausgewichen sind. Man könnte geradezu behaupten, dass zu den unzweideutigsten Merkmalen unserer Epoche die Virtuosität gehört, mit der sie die Probleme zu umgehen weiß: weswegen die Welt auch zu kaum einer Zeit verständlicher erschien, als gerade heute. Unser glückliches Zeitalter besitzt nämlich zwei Erklärungsmethoden, nach welchen auch das Schwierigste ohne weiteres begreiflich erscheint: die Erklärung durch Vererbung, Atavismus, und die durch Zweckmäßigkeit. Fragt man einen Evolutionisten — und welcher Aufgeklärte wäre dies heute nicht? —, wie der Mensch darauf komme, an eine Fortdauer nach dem Tode (eine Mutmaßung, die doch durch keine Erfahrung weder angeregt, noch bekräftigt werden kann) zu glauben, so antwortet er unbedenklich: durch erbliche Anlage; dieser Glaube sei ein Vorstellungsrest aus früheren Entwicklungsstadien. Gegen diese Erklärung lässt sich nicht eben viel einwenden.

Jeder von uns weiß, wie sehr sein Denken, Fühlen und Wollen durch Rasse und Erziehung bedingt ist, wie außerordentlich schwer es hält, früh eingeprägte Vorstellungen, und seien sie noch so unvernünftig, zu überwinden. So beruhigt sich denn der verstandesstolze Europäer bei dieser Theorie, die ihm um so eher einleuchtet, als sie streng wissenschaftlich scheint, lobt den Fortschritt und hält das Problem für gelöst. Doch gibt es Menschen, die neugierig genug sind, weiter zu fragen; sie wollen wissen, wie denn unsere Vorfahren darauf kommen konnten, einen so widersinnigen Glauben anzunehmen? Diese Leute sind zu gewitzigt, als dass sie sich mit der Antwort: unsere Ahnen seien eben dumm und roh gewesen, abspeisen ließen; ja, sie sind auch gebildet und verlangen einen biologischen Grund zu hören, wissen sie doch, dass es kein grundloses Geschehen gibt, und dass auch das menschliche Vorstellen der Naturgesetzlichkeit unterworfen ist. Sag’ uns ohne Umschweife, so überfallen sie den allwissenden Naturforscher, wie jener Unsterblichkeitsglaube, dem wir Modernen natürlich bloß aus Atavismus (wenn überhaupt noch) anhängen, je hat entstehen können? — Der Gefragte weiß auch wirklich eine Antwort: dieser Glaube sei offenbar zweckmäßig, zur Erhaltung des Lebens förderlich gewesen; deshalb habe er sich im Kampf ums Dasein bewährt, sei er durch natürliche Zuchtwahl bestärkt worden. — Wiederum scheint alles auf einmal klar! Es ist ja unbestreitbar, dass der Unsterblichkeitsglaube von jeher lebensfördernd gewesen sein muss: sonst wäre er längst zugrunde gegangen. Ferner ist sicher, dass er zu den glücklichsten, köstlichsten Gaben gehört, welche die Natur dem Menschengeschlecht verlieh — er tröstet und hilft über leidvolle Vergangenheit und Gegenwart hinweg, befriedigt den Gerechtigkeitssinn, beantwortet peinigende transzendente Fragen. Er bedeutet die letzte Instanz jeder anthropomorphen Kosmologie, welche die Welt nach menschlichen Wünschen regiert wissen will und innerhalb des Gegebenen nur auf Unzulänglichkeiten stößt. Ja, der Unsterblichkeitsglaube sorgt nicht nur für die Erhaltung, sondern auch für die Veredelung der Art, indem er über das Nächstliegende hinaus auf ein hohes Ideal hinweist — ist also zweckmäßig nicht allein im biologischen, sondern auch im ethischen Sinne. So scheint denn die Erklärung durch Zweckmäßigkeit tatsächlich standzuhalten.

Und wir werden in diesem Urteil noch bestärkt, wenn wir uns der kritischen Erkenntnis erinnern, dass die Zwecktätigkeit zum Wesen des Lebens gehört, mithin selbst nicht weiter abgeleitet werden kann, und dass auch der wesentliche Gehalt jeder Religion, soweit er biologisch zu fassen ist, darin besteht, eine zweckmäßige Beziehung zwischen Weltall und Menschengeist herzustellen1. — Trotzdem ist die letzte Erklärung nicht viel weniger kurzsichtig, als jene erste, die in der Vererbung die letzte Instanz zu erblicken beliebt: deswegen, weil etwas nützlich ist, braucht es noch nicht zu sein; nicht alles Praktische pflegt dem Menschen einzufallen. Daher ist es ganz unmöglich, die Entstehung des Unsterblichkeitsglaubens durch seine Vorzüge zu begründen. Und zu dieser Erwägung gesellt sich die folgende: auch das Absurde kann praktisch sein; auch der roheste Wahnwitz weiß gelegentlich das Leben zu fördern. Wer hier stillsteht, gelangt notwendig zu jener ursprünglich nur agnostisch-skeptisch, neuerdings ganz positiv-dogmatisch sich gebärdenden Erkenntnistheorie, welche die Illusion, den Irrtum als Hauptlebensmittel statuiert. Das Leben erhält sich kraft des Absurden … Ich meine, den tiefsten Gehalt des Unsterblichkeitsgedankens, zu dem alle größten Menschen in irgendeiner Form sich bekannt, welcher das edelste Motiv edelster Taten gewesen ist, in einem praktischen, wenngleich törichten Irrtum zu erblicken, zeugt nicht für außerordentlichen Scharfsinn. Wohl mag der Glaube einer persönlichen Fortdauer nach dem Tode auf einem Irrtum fußen, wohl mag die jeweilige Glaubensvorstellung widersinnig sein: der Glaube selbst muss einen tieferen Sinn haben, als ihn die Erklärung aus Atavismus plus Zweckmäßigkeit zu ergründen vermag.

Man argwöhne nun ja nicht, ich wolle die Unsterblichkeit der Seele beweisen: ich will keine Religion stiften, stützen oder stürzen; sondern bloß die Erkenntnis bereichern und schärfen. Die Fortdauer nach dem Tode aber ist, für die exakte Wissenschaft, kein möglicher Erkenntnisinhalt. Ich gedenke, soweit dies in meiner Macht steht, die folgende Frage zu beantworten: was ist der Sinn des Unsterblichkeitsgedankens? Wie ist ein solcher möglich? — Die Frage ist auf die gleiche Weise gestellt, wie die berühmte Kantische: wie ist eine Natur möglich? Kant forschte nicht, wie oder warum oder woraus die Natur entstanden sein möge, sondern worin sie besteht, was ihr Begriff enthält; er suchte sie aus den Bedingungen ihrer Erfahrbarkeit heraus zu begreifen. Und im gleichen Sinne werden wir nicht fragen, wie und warum und woraus der Unsterblichkeitsgedanke entstanden sein könnte: wir fragen nach seinem innersten Gehalte. Es handelt sich um Kritik im Kantischen Sinn. Folglich nicht um Psychologie. Wohl wird es an psychologischen Betrachtungen nicht fehlen, doch wird deren Aufgabe lediglich darin bestehen, die Bahn freizumachen; das eigentliche Problem können sie nicht berühren. Wie sollten sie dies auch? Die Psychologie — behandele sie bloß kausale Zusammenhänge (Motive) oder gehe sie auf die letzten Zwecke — bleibt notwendig diesseits unseres Forschungsgebietes haften. Sie vermag nur den einmal vorhandenen, als solchen gar nicht diskutierten Glauben a posteriori zu begründen; wir aber wollen gerade den Glauben selbst kritisch begreifen. Natürlich setzen auch wir ihn als Tatsache voraus. Seine Wirklichkeit stellen wir nicht in Frage — ebensowenig wie Kant an dem Dasein der Außenwelt gezweifelt hat. Wir setzen sogar seine Natürlichkeit, oder besser: seine Naturgemäßheit voraus, denn diese tritt aus der Mythologie unmittelbar hervor. Bloß betrachten wir es nicht als unsere Aufgabe, diesen der Erfahrung entnommenen Glauben zu begründen; uns liegt einzig und allein daran, ihn zu begreifen. Welches ist sein letzter, tiefster Sinn? Alle subjektiven Bewusstseinsphänomene entsprechen irgendwie objektiven Zusammenhängen; der Mensch, als natürliches Wesen, vermag, auch wo sein Streben aufs Übernatürliche geht, der Sphäre der Natur nicht zu entrinnen. Darum muss auch sein Glaube ans Transzendente in seinem natürlichen Wesen begründet sein. In diesem innersten Gehalt des Unsterblichkeitsgedankens, nicht in den Vorstellungen, die seinen phänomenalen Ausdruck jeweilig bezeichnen, erblicken wir den Kern unseres Problems.

Die bezeichnete Fragestellung bringt es als selbstverständlich mit sich, dass es uns um ein Werten im ethisch-teleologischen Sinne nicht zu tun sein kann. Wir betrachten den Glauben als Naturerscheinung — und kein vernünftiger Mensch wird sich die Frage stellen, ob der Polarstern wertvoller sei als der Sirius oder umgekehrt. Sie sind beide da; das genügt. Und sollte es uns auch begegnen, den Widersinn einer Glaubensvorstellung hervorheben zu müssen, so wird die Kritik doch bloß dem Verständnis dienen, nie ein Phänomen zermalmen wollen. Ja — ich persönlich zweifle überhaupt ein wenig an der Zulänglichkeit der Werteskala, mit welcher der Europäer an die übrige Menschheit heranzutreten gewohnt ist. Ist er denn wirklich mehr als der Orientale, weil seines Geistes Wesen Unruhe ist, weil er in unersättlichem Drang den Erdball umkreist und das Weltall durchjagt, weil er unfähig ist, in gläubiger Tradition andauerndes Genüge zu finden? — Der Orientale selbst ist jedenfalls anderer Ansicht2; und welch’ ungeheure Energie in jenen Stämmen schlummert, die für gewöhnlich jeder Bewegung abhold, dennoch zeitweilig, wie über Nacht, zu unerhörter Tatkraft erwachen, hat die Geschichte schon mehr denn einmal bewiesen. Sind wir wirklich mehr, als die Chinesen, weil unserer rastlos fortschreitenden Natur ihre gleichsam passive Kultur ein Rätsel ist? Eine sehr kompetente Persönlichkeit aus dem Reich der Mitte schrieb unlängst, der Weiße vergesse aus übergroßer Gier nach Lebensmitteln das Leben selbst3. Es ist viel Wahres an dieser Bemerkung. Jedenfalls könnte es uns nur nützen, wenn wir die Schriften der chinesischen Weisen etwas eingehender beherzigten. Ihre Lebensanschauung ist weit weniger quietistisch, als man denkt; sie lehrt die Abkehr von allem äußeren Wirken nur, um die Innenwelt in ihrem Wachstum nicht zu hemmen; in der eigentlichen Lebenskunst sind uns die Chinesen unstreitig voraus, wie sehr ihr Stil von dem unsrigen immer abweichen mag. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass ihre Kultur nicht nur eine der allerältesten, sondern buchstäblich die einzige ist, die sich im Lauf der Jahrtausende fortdauernd als zweckmäßig und lebensfähig bewährt hat. China ist über das Fortschreiten sozusagen hinaus … Ist Europas geschäftiges Lebensideal, nach welchem jedermann durchaus etwas leisten muss, wirklich im absoluten Sinne höherstehend, als das des verträumten Inders aus der Vedântazeit, der aus übergroßer Erkenntniskraft das Handeln verachtete oder vergaß? — Ich denke nicht. Es ist nicht möglich, so ungleiche Typen quantitativ miteinander zu vergleichen.

Die verschiedenen Kulturvölker haben verschiedene Lebensformen; sie unterscheiden sich voneinander wie die Rose vom Chrysanthemum. Anstatt über die mögliche Überlegenheit der einen über die andere nachzugrübeln, sollten wir uns lieber an der gegebenen Mannigfaltigkeit ergötzen und die verschiedenen Lebensgesetze in ihrer Eigenart vorurteilslos zu begreifen trachten. An der Zulänglichkeit unserer Werteskala dem Fremden gegenüber sollte schon die Überlegung uns zweifeln machen, dass jedes Volk sich für das erste hält, oder — wie die Mythologie sich großartiger ausdrückt — allein von den Göttern abzustammen behauptet. Jeder Asiate verachtet den Weißen. Darum seien wir vorsichtig. Es geht nicht länger an, die jeweilige europäische Kultur als das Ideal hinzustellen. Dem sozial-ethischen Charakter nach stehen wir hinter den Völkern des fernen Ostens zurück, in spekulativer Hinsicht überragten uns die alten Inder, in künstlerischer die Hellenen. Und sehen wir von den Fortschritten in der Naturerkenntnis und -beherrschung ab, so ist es mehr denn wahrscheinlich, dass die moderne Kultur auf einer niedrigeren Stufe steht, als die des klassischen Altertums. Die Theorie des Stufenbaus in der Weltgeschichte mag nicht einwandfrei sein: jedenfalls hat Kurt Breysig darin recht, dass von Fortschritt nur in identischem, biologischem Zusammenhang, nie in absolutem Sinn, die Rede sein kann. Darum sind wir nicht weiter, als irgendein Kulturvolk vor uns, sondern unser jetziges Stadium entspricht äquivalenten Stadien anderer Nationen, in der Römergeschichte etwa den letzten Jahrzehnten vor der Kaiserzeit. On fait ce que l’on peut; man wirtschaftet mit dem Kapital, das Rassenanlage und Zeitumstände einem leihen. Cäsar würde uns um unsere Technik, schwerlich um unsere Staatskunst beneiden. Der Chinese staunt über die moralische Minderwertigkeit der weißen Rasse, die als Kulturträgerin zu ihm dringt, und träte ein alexandrinischer Neo-Platoniker plötzlich unter uns, er würde vor Entsetzen kaum glauben, was für ein modriger Aberglaubenkompost unter den beflissenen Händen frommer, aber ungeschlachter Theologen aus den feinen Geweben der hellenistischen Gedankenwelt geworden ist.

Wir Europäer des 20. Jahrhunderts sind gewiss nicht in allem die Krone der Schöpfung. — Dann das Problem der Naturvölker: gibt es solche überhaupt? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Die Australier erweisen sich im Verhältnis zu ihrem Rassencharakter nicht viel weniger differenziert, als wir es sind. Die Klamath-Indianer vertreten einen Schöpfungsmythos, welcher der Logoslehre sehr ähnlich ist und folglich alles eher denn primitiv4. Solche Erfahrungen geben zu denken; von geradlinigem Fortschritt findet sich nirgends eine Spur. Und denken wir gar an die religiöse Entwicklung, wie sie nicht selten dargestellt wird — nämlich, dass der Mensch sich von rohem Fetischdienst allmählich zu höheren Vorstellungen aufschwingt —: ist diese Deutung des Tatbestandes wirklich richtig? — Mir scheint, in letzter Instanz ist jeder Gottesglaube — gleichviel, wie man sich die Gottheit vorstellen mag — Fetischismus: man glaubt und verehrt das, was, man selbst erschaffen hat. Und diese Erkenntnis legt gewiss keine Herabwürdigung des Erhabenen nahe: sie hebt vielmehr auch das anscheinend Niedrige bedeutungsvoll empor. Dank ihr erhält sogar der roheste Fetischdienst einen tiefen metaphysischen Sinn: des Menschen Schöpfung weist über sein Ich hinaus. Der primitive Glaube bedeutet also das gleiche, wie die Verehrung des Höchsten; der anscheinend absolute Fortschritt erweist sich im Wesentlichen als Umdeutung. Freilich bedingt diese Umdeutung andererseits wiederum einen Fortschritt: die Symbolik wird universaler, weniger nur-menschengemäß. Einst glaubte man dort an die Wirkung böser Geister, wo wir heute von Ansteckung durch Bazillen wissen. Genau genommen meinen aber beide Erklärungen das Gleiche. Wir wissen heute vieles, was unseren Vorfahren unwissbar galt — können aber trotzdem nicht alles ohne anthropomorphe Hypothesen begreifen. Auch wir enden zuletzt beim Mythos. Und ich für meinen Teil zweifle, ob die modernen Mythen in jeder Hinsicht erfreulicher sind, als die unserer phantasievollen, kindlich-kühnen Ahnen.

Wir werden somit gut tun, bei der Kritik des Unsterblichkeitsgedankens von jeder vorgefassten Meinung in Betreff dessen, was hoch oder tief steht, was wertvoll oder wertlos abzusehen. Seien wir möglichst objektiv. Wer den Glauben, als Naturerscheinung, das Menschliche aus kosmischer Perspektive betrachten will, muss von allen persönlichen Wünschen absehen. Uns ist es, prinzipiell gesprochen, gleichgültig, ob die Seele unsterblich ist oder nicht; wir wollen bloß den kritischen Sinn dieser Vorstellung fassen. Und doch glaube ich, dass diese anscheinend so frostige Betrachtung dessen, was den Meisten innerstes Herzensbedürfnis ist, keinem Einsichtigen zu nahe treten wird: wer dem Leben gegenüber eine peripherische Stellung einnimmt, sodass er auch im Menschlichsten zunächst das Kosmische sieht, der hat für jede wahrhaft lebendige Weltanschauung Verständnis, verehrt jeden Glauben, jede feste Überzeugung. Er tut es notwendig, gerade weil er in allen diesen Menschlichkeiten nur ebensoviele Naturerscheinungen schaut, und der Forscher die Natur zu sehr liebt, um sie verletzen zu wollen.

1 Vgl. über Zweckmäßigkeit als Wesen des Lebens den Epilog zu meinem Gefüge der Welt, 2. Aufl. Darmstadt 1920.
2 Ich zitiere als Beleg den köstlichen Brief eines türkischen Kadi an einen englischen Reisenden, der ihn um statistische Auskunft ersucht hatte (aus Sir A. Layard: Niniveh and Babylon).
My illustrious Friend and Joy of my Liver!
The thing you ask of me is both difficult and useless. Although I have passed all my days in this place, I have neither counted the houses, nor inquired into the number of the inhabitants; and as to what one Person loads an his mules and the other stows away in the bottom of his ship, that is no business of mine. But, above all, as to the previous history of this city, God only knows the amount of dirt and confusion that the infidels may have eaten, before the coming of the sword of Islam. It were improfitable for us to inquire into it. O my soul! O my lamb! Seek not alter the things that concern thee not. Thou camest unto us and we welcomed thee: go in peace.
Of a truth thou hast spoken many words, and there is no harm done, for the speaker is one and the listener is another. After the fashion of thy people thou hast wandered from one place to another, until thou art happy and content in none. We (praise be to God) were born here and never desire to quit it. Is it possible, then, that the idea of a general intercourse between mankind should make any Impression on our understandings? God forbid!
Listen, o my son! There is no wisdom equal unto the belief in God! He created the world, and shall we liken ourselves unto him in seeking to penetrate into the mysteries of his creation? Shall we say: Behold, this star spinneth round that Star, and this other star with a tail goeth and cometh in so many years? Let it go! He from whose hand it came will guide and direct it.
But thou wilt say unto me Stand aside, O man for I am more learned than thou art, and have seen more things. If thou thinkest that thou art in this respect better than I am, thou art welcome. I praise God that I seek not that which I require not. Thou art learned in the things I care not for; and as for that which thou hast seen, I spit upon it. Will much knowledge create thee a double belly, or wilt thou seek Paradise with thine eyes?
O my friend! If thou wilt be happy, say there is no God but God! Do no evil, and thus wilt thou fear neither man nor death; for surely thine hour will come! The meek in spirit (EI Fakir)    Imaum Ali Zadi.
3 Vgl. Letters from a chinese official, being an eastern view of Western civilization. New York 1904. Desgleichen meine Rede Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920.
4 Vgl. Max Müller, Theosophy or Psychological religion, S. 383.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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