Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Mensch und Menschheit

Urgrund der Person

Seit je ist es der Menge aufgefallen, wie geringe Bedeutung der höhere Mensch seinem persönlichen Leben beimisst; es ist ein Erfahrungssatz, dass einer sein Leben persönlich desto geringer einschätzt, desto leichter in die Schanze schlägt, je wertvoller es tatsächlich ist. Jetzt begreifen wir den tiefsten Grund dieses Phänomens: die Person ist wirklich keine letzte Tatsache, nicht nur vom Standpunkte der Natur, nein, auch von dem des innersten Selbstbewusstseins. Keiner — auch der Solipsist nicht — fühlt sich als einsames, unvermitteltes Absolutum; er fühlt sich als soziales Atom, oder als soziales Organ, oder im Gegensatze zur Sozietät. Und wer zu den Menschen kein unmittelbares Verhältnis hat, der hat es doch zur Menschheit. Gerade der, dessen Persönlichkeit so konzentriert ist, dass er nur Pflichten gegen sich selber anerkennen kann, steht zu ihr in direktester Beziehung. Alles Streben weist über die Person hinaus. Das ethische Bewusstsein verneint sie, das Ichbewusstsein ist ursprünglich an ein Höheres gebunden. Je tiefer wir in uns selbst eindringen, desto mehr entfliehen wir unseren Grenzen. Anstatt auf das persönliche Atom als letzten Quotienten der Analyse zu stoßen, entdecken wir im Selbst ein Allgemeines, Überpersönliches, das alle irdischen Schranken verneint.

Was ist dieses Überpersönliche, das den Grund der Person bildet und auf welches alles Einzelleben sich bezieht? Es ist schwer zu bestimmen, seine Umrisse sind schwankend, sein Sinn ist dunkel, in Begriffen kaum zu fassen. Bald erscheint es als unpersönliche Sache, bald als Familie, als Volkseinheit. Im höchsten Falle deckt es sich mit der Menschheit, im allerhöchsten mit dem Zusammenhange des Lebens. Objektiv bildet alles Leben eine lückenlos vermittelte Einheit, dessen Spiegel das sittliche Bewusstsein ist. Doch bleibt diese Einheit dem Denken eine Idee, als solche nicht ableitbar, und was sich nicht ableiten lässt, ist nicht zu erklären. Hier strandet der Verstand an seinen Grenzen, muss sich bescheiden, auf tiefere Einsicht verzichten. Die Tatsachen postulieren die Idee. Suchen wir aber diese zu übersteigen, so werden wir schroff auf die Tatsachen zurückgewiesen. Und die müssen wir gelten lassen. Wir haben mit der Deutlichkeit, die in diesen höchsten Regionen erreichbar ist, erkannt, dass der Urgrund der Person ein überpersönliches ist; wir haben diese Erkenntnis nach allen Richtungen hin geprüft, überall als zutreffend befunden. Und doch bleibt sie uns selbst ein Rätsel. Ich weiß nicht, was die Menschheit, weiß auch nicht, was das Leben ist. Jedesmal, wo die Weltgleichung aufgeht, ist ein Geheimnis die Lösung.

Aber wie erscheint das Unsterblichkeitsproblem im Licht unserer jüngsten Erkenntnisse? — Wenn ich fühle, dass ich ewig bin, heißt das wohl: ich fühle, dass ich mehr bin als meine Person. Es ist eine alte Erfahrung, dass glückliche Eltern wenig Bedürfnis nach persönlicher Fortdauer zeigen; in ihren Kindern sehen sie sich fortleben, ihr eigenes Ende bekümmert sie nicht. Desgleichen hat der Genius, der Held, dessen Taten unsterblich sind, wenig Interesse dafür, was mit seiner Person nach dem Tode geschehen mag: sein Innerstes, Edelstes wirkt ja auf Erden fort, das Übrige wirft er gerne von sich. So pflegten sich die größten Gestalten der christlichen Ära, auch wo sie von Herzen gläubig waren, am Wenigsten um ihr Seelenheil zu sorgen. Nur wer nichts Besseres hat, lebt seiner Person, nur wer nichts Lebendiges hinter sich lässt, sorgt sich ernstlich um ihr Schicksal. Der große Mensch hat zu allen Zeiten gewusst, dass sein endliches Dasein nur einen Punkt einer endlosen Reihe bedeutet, dass sein wahrer Grund, sein wahrer Sinn in dieser liegt.

Manchen Völkern liegt diese Einsicht in Fleisch und Blut. Die Antike sah einen Fluch darin, kinderlos zu sterben; der Junggeselle galt als Frevler, die Ehefeindschaft als eine perverse Art des Selbstmords. Nichts liegt kraftvollen Völkern ferner, als die Theorie unserer Dekadenten: es sei vornehm, auszusterben. Denn dort fühlt sich der Mensch als Glied seines Geschlechts, als Träger der Vergangenheit, als Hort der Zukunft; Selbstzweck ist er sich nie. Und wer in seiner Person nicht den Sinn seines Daseins sieht — wie sollte der den Tod metaphysisch ernst nehmen?

Der Tod, in eines solchen Bereich gelangend, heißt es im Mahâbhâratam, wird zunichte, ähnlich wie der Mensch zunichte wird, wenn er in das Bereich des Todes gelangt.

Der Tod berührt nur das Individuum, nicht das Leben, wer die Person übersteigt, überwindet ihn. Denn wenn die Person auch endlich ist:

der Seele Grenzen, lehrt Heraklit, kannst du nicht auffinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund hat sie.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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