Schule des Rades
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit
Individuum und Leben
Ei und Embryo
Die Zoologie ist sich dieser Schwierigkeiten schon lange bewusst geworden, hat es längst schon aufgegeben, Unmögliches anzustreben. Sie konstatiert das Faktum, dass jede Lebensform unter besonderen Voraussetzungen begriffen werden muss, passt ihre Begriffe den Tatsachen an und geht im Übrigen ihre eigenen Wege. Uns interessiert nun gerade das, was jene beiseite schiebt; gerade ihre negativen Ergebnisse sind für uns von positivem Wert. Wir erfahren, dass die Individualität im menschlichen Sinn kein allgemeines und kein notwendiges Kennzeichen des Lebens bedeutet; bei der überwiegenden Mehrzahl der Organismen findet sich nichts diesem Phänomen Vergleichbares. Welche Stellung mag dem Individuum im Gesamtzusammenhang des Lebens wohl zukommen, wenn die Individualität überhaupt ein spezielles Phänomen ist und nicht zum Wesen gehört?
Um hier bis zur Tiefe hinabzudringen, setzen wir zunächst einmal voraus, jeder Lebenseinheit komme der Wert einer menschlichen Persönlichkeit zu. — Sollen wir ihr auch ein für alle Male menschliches Bewusstsein zuerkennen? Mit letzterer Hypothese kämen wir ersichtlich nicht weit denn ein Wesen, dessen Funktionen nicht zentralisiert sind, kann kein Bewusstsein in unserem Sinn besitzen. Jedem einzelnen Plastiden hingegen ein solches zuzuschreiben, ist deshalb bedenklich, weil es in jeder höheren Synthese nachweislich zugrunde geht: das menschliche Selbstgefühl ist nicht die Summe der Teilempfindungen, sondern eine souveräne Synthese oberhalb dieser. Sehen wir also vom Bewusstsein ab und halten wir uns ausschließlich an den objektiven Sinn der Individualität, in jeder, wie in der menschlichen, vorläufig einen Selbstzweck erblickend. Beginnen wir bei den niedersten Organismen. — Da entrollt sich vor uns ein unerwartetes Schauspiel: das Individuum erscheint ausschließlich als Mittel, in keiner Hinsicht als Zweck! Zunächst die unsterblichen
Protozoen: gewiss, der Prozess des Lebens geht hier ohne Leichen vonstatten, die Plastiden teilen sich ohne Ende, ohne dass je einer des natürlichen Todes stürbe. Aber doch geht das ursprüngliche Lebewesen bei jeder Teilung zugrunde, und Eduard von Hartmann hat vollkommen recht, wenn er die Teilung des Protozoons dem natürlichen Sterben des Metazoons vergleicht1. Fortpflanzung und Tod bedeuten hier ein und dasselbe Phänomen. Vom Standpunkte des unendlichen Wertes der Protistenseele erscheint dieser Vorgang noch viel vernichtender als das eigentliche Sterben, er wirkt als Degradation: denn einen Toten können die Hoffnungen wenigstens ins Jenseits begleiten, während das Lebewesen hier nachweislich im Diesseits verharrt und bloß seiner Person verlustig geht. Die Unsterblichkeit der Einzelligen bedeutet vielleicht die bitterste Satire auf den Selbstzweck der Individualität, die sich ersinnen lässt.
Wenden wir uns den Vielzelligen zu. Bei allen Tieren, deren Funktionen nicht zentralisiert sind — also bis zu den Würmern herauf — ist die Lebenseinheit eine relative, transitorische. Jedes Tier geht aus einer Zelle hervor; diese bedeutet die zeitlich erste Lebenseinheit. Doch wandelt sich diese Urindividualität, wo sie nicht ganz zerfällt, bald genug zu einem unselbständigen Organ; sie wird zum Teil einer höheren Einheit. Ein einzelner Polyp z. B., seinerseits einem Keim entsprossen, bedeutet zunächst eine selbständige Lebenseinheit. Doch ist deren Existenz eine bloß vorübergehende: durch Knospung entsteht eine Kolonie, ursprünglich selbständig-abgeschlossene Funktionen werden zu kollektiven; und hat die Kolonie ihren höchsten Stabilitätsgrad erreicht, so ist ihren Mitgliedern die Selbständigkeit gänzlich verlorengegangen. Dies trifft schon bei homogenen Kolonien zu: bei differenzierten ist es in weit höherem Maße noch der Fall. Die Polypen pflegen sich in Ernährer und Erzeuger zu sondern; es gibt solche, die nur assimilieren, andere, die nur zeugen (überhaupt nicht verdauen) können. Trotzdem wäre es falsch, zu sagen, jeder Polyp sei als unselbständiges Organ einer höheren Einheit aufzufassen, denn die Kolonie ist keine strenge Einheit; sie ist zum Mindesten nicht individualisiert. Oder betrachten wir die Siphonophoren, jene erstaunlichsten aller Lebewesen: hier ist die Differenziation so weit gediehen, wie eine solche ohne Zentralisierung überhaupt denkbar ist. Es gibt eine Reihe wohlunterschiedener Polypenarten: Reproduktoren, Greifer, Schwimmer, Fänger, Fresser, die alle auf das Selbstloseste zum gemeinen Besten zusammenwirken. Dennoch sind diese Polypen nicht echte Organe, sondern eher selbständige Wesen, die sich zusammengetan haben. Die meisten von ihnen vermögen, vom Ganzen losgelöst und in günstige Bedingungen versetzt, selbständig fortzuleben und regenerieren allmählich die ganze Kolonie. Man zerschneide eine Hydra in noch so viele Stücke: aus jedem von ihnen erwächst, wo die äußeren Verhältnisse es gestatten, ein neues heiles Tier; umgekehrt kann man zwei Hydren ineinander einschachteln, welche dann, weit entfernt davon, einander zu verspeisen, zu einem neuen beleibteren Organismus verschmelzen. Bei den Siphonophoren geht die Gleichwertigkeit der Teile freilich nicht so weit, Schwimmblase und Fangfäden sind für sich allein nicht lebensfähig. Aber doch ist jedes Organ, theoretisch gesprochen, ein Organismus für sich, ohne notwendigen Zusammenhang mit dem Ganzen. Suchen wir hier eine letzte lebendige (nicht durch Abstraktion entstandene) Lebenseinheit festzustellen, so stehen wir ratlos da: ist der Siphonophore eine Person, eine Kolonie oder gar ein Staat? Sind seine Teile Organe oder Individuen? Jede dieser Auffassungen ließe sich verfechten. Individuen können zu Organen werden, Organe zu Individuen; feste Grenzen gibt es keine. Verleihen wir hier dem Polypen die Würde einer Person, so erscheint ihr Schicksal nicht erheblich würdiger, als das des Plastiden: wo er nicht kategorisch auf Wachstum und Fortpflanzung verzichtet, vermag er sich als Individuum nicht zu halten; wächst er überhaupt, so verzichtet er recht eigentlich auf sich selbst. Sollen wir in der Kolonie die Person erblicken? Aber eine Person, deren Grenzen zufällige sind, die ebensogut anders sein könnte
, widerspricht ihrem strikten Begriffe. Allenfalls könnte es eine juristische Person sein, wie eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder wie ein Staat; und ein Staat ist kein Individuum. Im Bereiche der Coelenteraten ist für den menschlichen Individualitätsbegriff kein Raum, hier ist jede Einheit vorübergehend, das einzig Beharrliche ist der Typus. Eine individualistische Weltanschauung ist vom Standpunkt der Koralle nicht auszudenken.
Da es für unsere Zwecke auf eine erschöpfende Betrachtung aller Lebensformen nicht ankommt, will ich mich sofort den Lineartieren zuwenden. Diese wirken unbedingt als Einheiten, wie gleichwertig die Segmente im Prinzip immer sein mögen. Bei einem Wurm, einem Krustentier lassen sich Kopf- und Schwanzende unterscheiden, und jeder einzelne Teil ist nicht, wie bei den meisten niederen Tieren, in der Lage, das Ganze zu regenerieren. Trotzdem: so mancher Wurm pflanzt sich dadurch fort, dass er über die normale Anzahl seiner Segmente hinauswächst und den Überschuss dann abwirft, um ihn selbständig fortleben zu lassen. Einem entschwänzten Anneliden sprosst bald ein neuer Schweif, und wird er enthauptet, so ist auch dieser Verlust zu ersetzen. Allerdings ist der entgegengesetzte Prozess beim ausgewachsenen Tier nicht möglich, der Kopf vermag keinen neuen Wurm aus sich heraus zu erzeugen. Dies hindert aber nicht, dass in der Embryogenie das Kopfsegment den Ausgangspunkt des Wachstums bildet: jenes bringt durch Knospung die übrigen aus sich hervor. Und ebenso entspricht die so wunderlich unsymmetrische Nauplius-Larve der Krustazeen morphologisch dem Kopfe der späteren Imago. Halten wir diesen Fall fest: hier wird aus dem ursprünglichen Individuum im Laufe der Entwicklung ein Organ. Es ist grundsätzlich der gleiche Vorgang, dem wir bereits bei den Coelenteraten begegneten. Freilich ist hier der Prozess nicht umkehrbar, wie bei jenen, nicht jedes Segment kann zum Individuum werden; nur bestimmte Teile des Organismus tragen die ganze Kraft erblicher Selbstgestaltung in sich. Dennoch handelt es sich im Wesentlichen um das gleiche Verhältnis2.
Auch des Wurmes Individualität ist sonach schwer zu fassen; auch beim wohlsegmentierten Lineartier wird das ursprünglich Selbständige nicht selten zum Gliede einer höheren Einheit. Aber gilt das Gleiche nicht auch von den höchsten Organismen, vom Menschen? — Fassen wir ihn nach seiner Geburt ins Auge, so ist das freilich nicht der Fall. Doch was berechtigt uns dazu, den Anfang in dieses äußere Ereignis zu verlegen? Ein jeder beginnt sein Dasein als Ei. Die Entwicklungsstadien vor der Geburt — sind gerade so wesentlich wie die späteren, entsprechen etwa den Larvarzuständen der Insekten. Der Mensch, der das Licht der Welt erblickt hat, verhält sich nicht viel anders zum Embryo, der er war, wie beim Schmetterling die Imago zur Raupe; jeder Augenblick der Embryonalexistenz muss als vollwertig mitgerechnet, der Gesamtdauer zugezählt werden. Und verfolgen wir dergestalt die intrauterine Entwicklung, in jeder Etappe das Äquivalent der späteren Persönlichkeit erblickend, so gewahren wir auch hier, dass ein Begriff sehr viele Inhalte umspannen kann: das Ei stirbt bei der ersten Teilung, das ursprünglich Höchste und Letzte wird zum sekundären Organ; und spät erst ordnet sich die gärende Zellenkolonie der letztlich zusammenfassenden Einheit unter. Aus kosmischer Perspektive gesehen, passt der Individualitätsbegriff auch auf den Menschen nicht, da er nur einem seiner Lebensstadien gerecht wird; auch der Mensch lebt und dauert zeitweilig, ohne Individuum zu sein.
1 | Das Problem des Lebens, 1906, S. 295 ff. |
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2 | Dem ist wirklich so: die schroffe Grenzscheide, welche man seit Weismann zwischen Soma und Keimplasma zu statuieren beliebt, entspricht nicht den Tatsachen, sondern nur unpräzisem Denken. Was fertig ist, kann sich nicht mehr entwickeln; die fortwirkende Plastizität der lebendigen Substanz hat überall Grenzen. Wo die Differenziation der Intensität nach am Minimum haften bleibt, kann die Entwicklung in der Zeit scheinbar grenzenlos verlaufen; so teilt sich das Infusor ad indefinitum, weil es sich überhaupt nicht weiter differenziert. Auch die Menschenzelle ist virtuell nahezu unbegrenzter Teilung fähig, entstehen doch aus dem einen Ei gegen sechzig Trillionen Plastiden. Nur wird hier aus Gleichem nicht mehr Gleiches, sondern Ungleiches; die Tochterzellen differenzieren sich bis auf wenige; und die Differenziation steht zur Dauer in ganz bestimmtem Verhältnisse. In der Tat: dauern kann das Leben nur, wo es fähig ist, auf den Wandel der äußeren Bedingungen immerdar zweckmäßig zu reagieren. Und das heißt: soweit es selber wandlungsfähig ist. Diese Plastizität sinkt aber in direktem Verhältnis zur steigenden Differenziation. Eine Keimzelle ist potentiell jeder Gestaltung fähig, zu jeder Funktion verwertbar; eine Muskelfaser kann sich nur noch verkürzen, eine Nervenzelle nur mehr Reize vermitteln. Deshalb kann das Wachstum nur bei den Teilen eines differenzierten Organismus ad infinitum fortdauern, die selbst nicht differenziert sind; und solches gilt einzig und allein von den Geschlechtszellen. Gewiss ließe sich ein Organismus denken, der bei höchster Komplikation dennoch unendlich plastisch bliebe, doch entspricht dieser Theorie keine Erfahrung. |