Schule des Rades
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit
Individuum und Leben
Erhaltung des Lebens
Jede gründlichere Betrachtung der niederen Lebensformen führt zur Erkenntnis des streng relativen Charakters der organischen Individuation. Das Gleiche bezeugt überall die Embryologie, ganz unabhängig davon, ob man die Ontogenie phylogenetisch deutet oder nicht. Wie steht es nun mit den ausgewachsenen Formen? Besitzen diese wenigstens einen absoluten Sinn? Man sollte es meinen, und doch verhält es sich anders.
Als selbständig kann doch nur das gelten, wessen Sinn in ihm selbst liegt, was aus sich selbst heraus vollauf begriffen werden kann. So werden wir nur das Lebewesen selbständig nennen, das an sich selbst dauernd lebensfähig ist. Ein Mensch ohne Magen und Bauch widerspräche offenbar dieser Definition; er müsste unfehlbar verhungern. Nun gibt es wirklich Tierklassen, bei welchen derartige Monstrositäten regelmäßig auftreten: die Männchen der Rädertiere besitzen weder Mund noch Darm, und auch die Eintagsfliegen sind kaum ernährungsfähig; sie sind dem jähen Tode geweiht. Das Fressen ist der Larve heiligste Angelegenheit; die Imago will nur mehr zeugen. Man versuche, diese Erscheinungen vom Standpunkt des, Selbstzweckes der Individualität zu verstehen: es ist ganz und gar unmöglich. Falls es wirklich auf das Einzelne ankäme, müsste die Schöpfung, wie sie ist, unbedingt verurteilt werden; sie wäre überall bei kläglichen a-peu-près’s gestrandet. Aber jede Weltanschauung, die bei einer blasphemia creatoris sive creaturae endet, ist in sich fehlerhaft: durch das Denken, eine spezielle Ausdrucksart des Lebens, zur Negation des Lebens selbst zu gelangen, bedeutet einen grotesken Zirkelschluss. Törichte Resultate können keinen vernünftigen Prämissen entwachsen. So erscheinen die Tatsachen, mit denen wir es hier zu tun haben, aus individualistischer Perspektive ganz unbegreiflich, sind überhaupt nur unter der Voraussetzung einer überindividuellen Wirklichkeit zu verstehen. Die dem Hungertod geweihten Rotiferenmännchen, Schmetterlinge und Eintagsfliegen haben ihren Seinsgrund offenbar in der folgenden Generation; in ihren letzten Zügen legen sie zu dieser den Grundstein. Der Sinn ihrer Gegenwart liegt in der Zukunft.
Bei den Einzelligen fallen Fortpflanzung und Tod nicht nur zeitlich, sondern auch wesentlich zusammen, bei den Vielzelligen aber rücken sie selten sehr weit auseinander. Bei der Knospung löst sich die Mutterzelle in Töchter auf; und an der geschlechtlichen Fortpflanzung gehen nur zu oft die Eltern zugrunde. So stirbt die Drohne im Augenblick, da ihr Same die Königin beglückt; die weibliche Spinne verzehrt ihren Gemahl; und nach erfüllter Pflicht ist das Schmetterlingsweibchen zu Tode erschöpft. Warum wollte das Individuum zeugen, wenn es sich selbst das Letzte wäre? Die Hochzeitsfackel beleuchtet grell das Grab. Doch scheint es kein größeres Glück zu geben, als an der Begründung neuen Lebens zu vergehen. Die persönlichste Lust weist über die Person hinaus.
So erscheint die Individualität auch in ihrem höchsten Gattungsausdruck als Relativum. Sind bei den niederen Lebensformen ihre Umrisse undeutlich, so liegt bei der vollendeten Abgeschlossenheit, die ihren höchsten Ausdruck kennzeichnet, der Seinsgrund außer ihr. Der Sinn der Imago liegt in der kommenden Generation. Das äußerlich Scharfgeschiedene ist somit dem Wesen nach nicht weniger vermittelt, als es die Glieder einer durch stetige Teilung und Sprossung entstandenen und kontinuierlich verbundenen Polypenkolonie sind. Ja — eigentlich beweist das Phänomen der Sexualität für sich allein schon den relativen Charakter aller Individualität: denn vom Standpunkt der Natur machen erst Mann und Weib zusammen den Menschen aus. Der Mann existiert nur in bezug auf das Weib und umgekehrt, und beide sehen ihren letzten Sinn im Kinde. Aber doch bezeichnen männliche und weibliche Individualität durchaus verschiedene Dinge. Wie nun, wenn ein Mann plötzlich zum Weibe würde? Es bedeutete einen gründlichen Personenwechsel. Die Kopepoden unter den Krustentieren verwirklichen diese Ungeheuerlichkeit. Und bei überaus vielen Organismen scheint es bloß von äußeren Bedingungen abzuhängen, ob die Erhaltung der Art auf ungeschlechtlichem Wege gesichert wird, oder ob getrennte Geschlechter hierzu zusammenwirken müssen. Wie steht es da mit dem Ewig-Weiblichen, dem Geschlechtsgegensatze als Grundkategorie des Universums? — Was wir als absolut verehren, von der Persönlichkeit bis zur Idee, schrumpft aus kosmischem Blickpunkt nur zu oft zur transitorischen Relation zusammen. Die Erhaltung des Lebens erweist sich überall als das einzig Wesentliche, Bedingende; und nicht selten ergreift die Natur auch dem mildesten Individualismus hohnsprechende Mittel, um diesen ihren Zweck zu erreichen.