Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Individuum und Leben

Stellung des Individuums

Gehen wir jetzt daran, die weit ausgesponnenen Fäden zusammenzuziehen, suchen wir den letzten Sinn, die wahre Stellung des Individuums im Lebensganzen zu erfassen. Die konkrete Lebenseinheit ist überall eine transitorische, gleichviel ob sie scharf umrissen ist oder nicht, nirgends bedeutet das Einzelne die letzte Wirklichkeit. In der Zeit betrachtet, liegt sein Sinn in der Zukunft; in der jeweiligen Gegenwart aber sind es überindividuelle Synthesen, auf welche hin es lebt. Der Polyp arbeitet für die Kolonie, der Künstler schafft für die Menschheit. Nirgends ist es möglich, die Einzelexistenz aus sich selbst heraus erschöpfend zu verstehen.

Merkwürdig genug: der Sinn jedes gegenwärtigen Lebens liegt in dem, was nach ihm kommen wird. Alles Leben ist unaufhaltsames, nach vorwärts gerichtetes Streben, ohne Rast noch Ruh’; jedes Stadium sehnt sich gleichsam danach, überwunden zu werden. Die Individuen blühen auf, schwinden dahin, tuen sich zusammen, zerspalten sich, gehen in höheren Synthesen verloren, lösen sich ab in wildem Wechsel. In wenigen Stunden kann das Infusionstierchen mehrere Sonderexistenzen durchleben. Der selbständige Polyp wird zum Organ, um bald völlig abzusterben, von seinen Sprossen überflügelt. Bei den Pyrosomen (einer Salpenart) folgt auf die Mutter nicht eigentlich der Sohn, sondern gleich der Enkel: der Erstgeborene pflanzt sich noch als Embryo fort und zerfällt bei der Geburt der neuen Lebenseinheit. Zahlreiche Organismen sind schon als Larven fortpflanzungsfähig, so dass nur jede zweite Generation die Gestalt der höchsten Reife erreicht. Auch des Menschen Sohn ist, streng genommen, nicht sein nächster Nachfolger, sondern ein später Nachkomme, der, falls jedem Entwicklungsstadium ein Menschenalter entspräche, durch Jahrhunderte von ihm geschieden sein müsste; der Prozess, der bei anderen Wesen freilebende Formen durchschreitet, in den erstaunlichen Phänomenen der alternierenden Generation, des Wechsels geschlechtsloser und geschlechtlich differenzierter Stadien u. ä. zum Ausdruck gelangt, erscheint hier verdichtet und verkürzt. Aber auch der Mensch ist im letzten Grunde eine Imago, gerade wie der Schmetterling. Die letzte und bedeutendste Gestalt ist nicht die einzige; die Embryonalexistenz ist, wenn auch unsichtbar, dennoch da. Und auch der ausgewachsene Mensch sieht in seinem persönlichen Dasein nicht das Letzte; er erkennt seinen Sinn in dem, was nach ihm kommen wird; er fühlt das Gebot, sich in irgendeiner Form fortzusetzen. Er gehört einer Zukunft, die er nicht erleben wird.

Diese einsinnige, schwindelnde Flucht des Lebens über alle Gegenwart in die endlose, dunkle Zukunft hinaus ist das ungeheuerste Phänomen, von dem wir wissen. Wir wollen vorwärts, obgleich jeder Schritt uns dem Grabe näher führt, und gleich Faust dürfte keiner im Ernst dem Augenblick Halt gebieten, der nicht den Tod schon im Herzen trägt. Wie sinnlos — sinnlos im Sinn des hochmütigen Menschenverstandes — wir allezeit vorwärts rasen, illustriert vielleicht am lebendigsten die tiefsinnige Fabel vom Menschen und dem Genius. Anatole France erzählt sie folgendermaßen:

Un génie donne à un enfant un peloton de fil et lui dit: Ce fil est celui de tes jours; prends-le. Quand tu voudras que le temps s’écoule pour toi, tire le fil: tes jours se passeront rapides ou lents selon que tu auras dévidé le peloton vite ou longuement. Tant que tu ne toucheras pas au fil, tu resteras à la même heure de ton existence. L’enfant prit le fil; il le tira d’abord pour devenir un homme, puis pour épouser la fiancée qu’il aimait, puis pour voir grandir ses enfants, pour atteindre les emplois, le gain, des honneurs, pour franchir les soucis; éviter les chagrins, les maladies venues avec l’âge, enfin, hélas! pour achever une vieillesse importune. Il avait vécu juste quatre mois et six jours depuis la visite du génie1.

Jeder mag den furchtbaren Wahrheitswert dieser Fabel an sich selbst erproben. Haltlos jagen wir in die Zukunft, stolpern zuletzt über das eigene Grab. Unser eigenster Wille strebt ebenso rücksichtslos vorwärts, wie die Natur in ihrem unpersönlichen Lauf uns treibt. Auch wir sehen in unseren Zuständen nur Durchgangspunkte, und Durchgangspunkt war am Ende unsere ganze persönliche Existent … Etwas Erhebendes liegt in der Tatsache, dass die innersten Instinkte des Individuums mit dem objektiven Weltgeschehen übereinstimmen. Anstatt uns an den Augenblick, das einzig Reale zu klammern, suchen wir ihm zu entrinnen, peitschen wir uns selbst aus diesem Leben hinaus.

1 Le Jardin d’Epicure, S. 19.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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