Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Todesproblem

Dennoch wäre nichts verfehlter, als in jener allgemeinen Trennung des Lebensprinzips vom Stoff ein Zeugnis des Menschen­geschlechts für die Unsterblichkeit der Seele sehen zu wollen: die Verhältnisse liegen so einfach nicht. Vor allen Dingen sollte man etwas zurückhaltender mit dem Verfahren sein, nichteuropäische Vorstellungen europäisch auszudeuten.

Betrachten wir zunächst den einfachsten Fall: ein Volk zieht aus der gegebenen Prämisse die Konsequenzen nicht, die für unsere Begriffe unabweisbar aus ihr folgen. Es enthält sich der Stimmabgabe. Ziehen wir dann die Schlüsse, die das Original zu ziehen vergessen hatte, so begehen wir oft einen verderblichen Fehler: es kann für ein Volk unter Umständen wesentlich sein, dass es gewisse Fragen nicht stellt, oder, falls sie gestellt werden, nicht beantwortet. So verhält es sich bei den Kulturvölkern des fernen Ostens. Die letzten Dinge beunruhigen diese wenig; sie peinigt kein ewiges Warum? oder Wozu? Ihre ganze Philosophie fußt in der Ethik, im Praktischen, die Spekulation gilt ihnen als nebensächlich. Wir Europäer verstehen dies Verhältnis selten richtig, weil unsere eigene Geistesanlage die antipodisch entgegengesetzte ist: wir begreifen kaum, inwiefern das unmittelbar Praktische das Zentrum, der Ausgangs- und Endpunkt einer Philosophie sein kann, da für unser Empfinden alles Praktische nur die Konsequenz, die Nutzanwendung theoretischer Spekulation bedeutet, die ihrerseits unter allen Umständen zu Ende geführt werden muss1. Der Arier vergisst eher zu handeln, als seine Weltanschauung zu vollenden, dem Chinesen ist die empirische Handlung das Erste und das Letzte. Deshalb erscheint ihm ein geistiger Verzicht, der uns unerträglich vorkommt, ganz natürlich; unser metaphysisches Bedürfnis geht ihm ab. Konfuzius antwortete auf die Bitte seiner Jünger, eine bestimmte Lehre betreffs des Zustandes nach dem Tode zu verkünden:

Bejahe ich die Voraussetzung, dass die Geister der Vorfahren noch persönlichen Anteil an der Welt nehmen, so würde das Tun und Trachten gewissenhafter Nachkommen von ihren irdischen Aufgaben abgelenkt; verneine ich die Voraussetzung, so könnte der pietätvollen Gesinnung Abbruch geschehen. Würde ich sagen, dass die Toten Bewusstsein haben, so möchten fromme Söhne ihr Vermögen in Totenfeiern zerrütten; und würde ich jenes Bewusstsein leugnen, so möchten herzlose Söhne ihre Eltern unbeerdigt lassen. Handle also, ohne zu wissen, stets so, als ob überirdische Wesen Zeugen deines Tuns wären!

Der Chinese sieht nichts Befremdliches darin, dass er den ausgesprochensten Ahnenkult treibt, ohne dabei zu wissen, ob die Ahnen fortleben oder nicht. Haben wir beim Chinesen sonach ein Recht, wie wir es arischen Stämmen gegenüber unzweifelhaft hätten, vom Ahnenkult auf Unsterblichkeitsglauben zu schließen? — Nein. Ein Volk, dessen Weltanschauung auf der Tat (als empirischer Begebenheit), als oberster Synthese fußt, anstatt auf einer Idee, ist von uns derart verschieden, dass wir ohne Zweifel kein Recht haben, europäisch zu verallgemeinern und zu schließen. Es gibt unmetaphysische Völker (ich schreibe absichtlich un-, nicht antimetaphysisch), und für diese kann es ein Unsterblichkeitsproblem in unserem Sinn nicht geben.

Ähnliche Zurückhaltung den letzten Fragen gegenüber finden wir aber auch dort, wo das metaphysische Bedürfnis im höchsten Grad lebendig ist: so im buddhistischen Indien. Buddha hat über den Zustand der Seele nach dem Tode nichts gelehrt und pflegte auf diesbezügliche Anfragen ähnliche, wenngleich tiefer motivierte Antworten zu geben, wie Konfuzius2. Doch liegen die Verhältnisse hier wesentlich anders als dort: der Agnostizismus des chinesischen Weisen entsprang seinem urwüchsigen krassen Empirismus; derjenige des Sakya Muni, wenn ich so sagen darf, der Blasiertheit einer lebensmüden Metaphysik. Wenn man so tief und so lange nachgedacht hat wie die alten Brâhmanen, dann ist man es einmal satt. So entstand eine gewisse skeptische Resignation, ein Nicht-mehr-weiter-wollen — das Schlusswort aller überreifen Kulturen. Die Inder bewiesen aber auch hier, in ihrer letzten Krisis, ihre außerordentliche philosophische Begabung: anstatt auf den Untiefen der theoretischen Skepsis zu stranden, mündeten sie in moralischem Skeptizismus. Alles Wissen ist eitel — aber nicht weil es ungewiss ist, sondern weil es Leiden schafft. Die Lehre der Veden, dass der Mensch durch Erkenntnis erlöst wird, ward ins Moralische umgebogen: selig ist, wer allem Wollen entsagt. So rettete sich der verzweifelnde Denkergeist, ohne sich zu verleugnen, auf ein neues, bisher unbetretenes Gebiet und suchte fortan, allem Wissenwollen abhold, durch sanftes und doch tätiges Dulden dem Leiden zu entgehen. Der Buddhismus bedeutet vielleicht das lehrreichste Paradox der Weltgeschichte: das metaphysische Volk par excellence endet, bloß weil es konsequent ist, bei einer antimetaphysischen Weltanschauung. Dadurch, dass es die tiefsinnige Seinslehre der Verdântaphilosophie ins Werden übersetzte, ward aus aller transzendentalen Kausalität eine empirische. Das tat twam asi ward wörtlich verstanden, zeitlich gedeutet, das transzendente Sein zerging in Erscheinung und — Nirwâna. Der Buddhismus leugnet die Seele aus den gleichen Motiven, wie Ernst Mach etwa das Ich; er bedeutet die zur Religion erhobene analytische Psychologie …3. So bescheidet sich auch der Buddhismus, der letzte Ausdruck der gewaltigsten reinspekulativen Denkarbeit, die je die Menschheit geleistet, beim Praktischen, der Sorge ums eigene Heil, der Aufhebung des Leidens. Auf die Frage, ob die Seele unsterblich sei, muss er seinem Wesen nach die Antwort verweigern — und suchen wir sie nachträglich aus dem Gegebenen zu erraten, so ist nur eins gewiss: dass wir den Inder missverstehen.

Doch finden wir sogar bei Völkern, die uns innerlich nahe verwandt sind, ähnliche Verhältnisse: so bei den Griechen der nachhomerischen Zeit. Wohl bestand im Seelenkult deren vielleicht lebendigste religiöse Betätigung: gleichwohl konnten aus ihm deutliche Glaubensbilder von der Art des Lebens der Verstorbenen nicht hergeleitet werden — sind zu hellenischer Zeit auch niemals hergeleitet worden. Alles bezog sich hier bloß auf das Verhältnis der Toten zu den Lebenden. Durch Opfer und religiöse Begehungen sorgte die Familie für die Seelen ihrer Toten; aber wie schon dieser Kult vorwiegend ein abwehrender war, so hielt man auch die Gedanken vom Erforschen des Charakters und des Zustands der Toten, außerhalb ihrer Berührung mit den Lebenden, eher absichtlich fern4.

So haben viele Völker, und nicht die geringsten, es für unnötig erachtet, eine präzise Jenseitslehre zu entwickeln. Bei den Einen war es, weil ihnen jedes spekulative Bedürfnis abging; ihr ganzes Leben fußte im Diesseits, sie fühlten den Zwang der bangen Frage nach dem Jenseits nicht. So empfanden zeitweise die Griechen, so die praktischen Römer. Diesen mag die Frage nach dem Zustande der Toten recht müßig vorgekommen sein, so treu sie die Ahnen auch ehrten. Und beim Chinesen gar grenzt die Gleichgültigkeit gegen alles Nichtempirische für unsere Begriffe ans Groteske. Wir fühlen uns weltenfern von dieser Mentalität, verstehen diese Selbstbescheidung nicht. Aber sollte uns die über alle Berechnung große Zahl der eigenen Stammesbrüder, welche nicht nur nicht selbständig denken, sondern nicht einmal selbständig glauben — bloß papageienhaft nachsprechen, was andere glauben —, nicht den Weg zum Verständnisse weisen? — Auch unser metaphysisches Bedürfnis ist, sozial gesprochen, vielleicht mehr ein Schlagwort als eine lebendige Kraft. Auch beiden Meisten von uns überwiegen reellpraktische Interessen; den Wenigsten ist das Unsterblichkeitsproblem persönliche Angelegenheit — außer vielleicht in der letzten Stunde, als wo die irdischen Interessen so merkwürdig an Wert verlieren. Auch vom Europäer, von allen Menschen dem, welchem der Tod am Lebendigsten vor Augen steht, gilt die Bestimmung, dass er eine Fortdauer nach dem Tode glaube oder postuliere, daher nur bedingt: nämlich sofern er sich die Frage stellt. Und sie wird seltener aufgeworfen, als man denkt.

Dieser Verzicht ist in den letztbetrachteten Fällen ein Zeichen von Flachheit, Stumpfheit, mangelndem Selbstgefühl. Aber lässt sich vom Buddhisten Gleiches behaupten? — Ich glaube nicht; derselbe Verzicht kann aus stolzestem Tiefsinn hervorgehen. Schon vielen ist aufgefallen, wie wenig Aufmerksamkeit gerade die großen Menschen dem Todesprobleme schenken; sie haben sich nicht selten gleichsam unwillig von ihm abgewandt.

Epikur lehrte: Gewöhne dich an den Gedanken, dass der Tod gleichgültig ist; denn alles Gute und alles Schlimme besteht im Gefühl, und was ist der Tod anderes als Ausscheidung des Gefühls?;
Montaigne: La mort ne vous concerne ni mort, ni vif; vif, puisque vous êtes, mort, puisque vous n’êtes plus;
Spinoza: Der Weise soll an nichts weniger als an den Tod denken; das rechte Studium des Weisen ist nicht, wie er sterben, sondern wie er leben soll.

Auch Christi Lehre gipfelte weit weniger im Memento Mori, als die spätere Dogmatik uns glauben machen möchte; das Wort: Lasst die Toten ihre Toten begraben erinnert eigentümlich an gewisse Goethesche Briefschlüsse aus seinen letzten Jahren, wo er sich von verstorbenen Freunden mit einem tapferen: und so, über Gräber, vorwärts! abwendet, oder an das Verhalten Kants, der bis zur Stunde ihres Todes an seinen Bekannten den wärmsten, tätigsten Anteil nahm, dann aber alle Trauer selbstherrlich abschüttelte und sich den Aufgaben des Lebens zuwandte.

Diese Stellungnahme beweist nicht Feigheit, nicht Herzenskälte: sie bezeugt eine äußerste Lebensweisheit, die das Individuum schon überwand. Sie entspringt demselben Verzicht, den der theoretische Denker vor den letzten Gründen des Seins leisten muss, dem Verzicht einer ehrfurchtsvollen Diskretion. Unsere Zeit ist nur allzusehr geneigt, in aller Resignation nur Unzulänglichkeit zu erblicken, sie hat wenig Sinn für die sittliche Kraft, die im Sichbescheiden liegt; sie begreift nicht, dass das bewusste, überzeugte Stehenbleiben vor dem Unergründlichen Größe voraussetzt, einem positiven, schöpferischen Prinzip entquillt. Sie wähnt, es zeuge für Geisteskraft, wenn einer das Unbegreifliche fassen will, anstatt zu erkennen, dass diese Gebärde vor allem Mangel an Bildung verrät. Nichts liegt unserer Epoche ferner, als die Einsicht, dass eine höchste Philosophie weit weniger im restlosen Erklären liegt, als auf der Ehrfurcht vor dem Geheimnisse beruht.

Goethes Wort: Das höchste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren —

dieses Wort passt schlecht auf unsere Zeit, wird von ihr kaum mehr verstanden. Deshalb entgeht ihr auch der tiefe Sinn der Zurückhaltung des Inders, des Griechen den letzten Problemen gegenüber. Unsere Zeit ist vorwiegend neugierig; ihr fehlte edle Reserve kraftvoller Epochen. Schon das nie enden wollende Missverstehen und Verunglimpfen Kants, des einzigen neueren Philosophen, der nicht neugierig war, der den Stolz der Selbstbeschränkung kannte, der das Pathos der Distanz nicht nur begriff, sondern auch besaß, sollte zum Beweise dessen genügen, wie wenig Grund die Modernen haben, mit ihrem metaphysischen Bedürfnis großzutun.

1 Die richtige Einsicht in dieses Verhältnis verdanke ich persönlichen Mitteilungen von Professor Basil Hall Chamberlain in Tokio.
2 Näheres hierüber bei H. Oldenberg, Buddha, S. 320 ff.
3 Vgl. über Buddhismus mein Reisetagebuch eines Philosophen; man schlage im Register nach.
4 E. Rohde, Psyche I, 278.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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