Schule des Rades

Hermann Keyserling

Unsterblichkeit

Über den Unsterblichkeitsglauben überhaupt

Seelenfrage

Kehren wir zur Seelenfrage zurück. Ich sagte vorhin, schon darum dürfe die Allgemeinheit des Unsterblichkeitsglaubens nicht behauptet werden, weil Seele kein allgemeiner Begriff sei. Jetzt verstehen wir, wie das gemeint war: das gleiche Verhältnis von Lebensprinzip und Lebensstoff kann so verschieden gedeutet werden, dass jeder Vergleich ausgeschlossen erscheint. Betrachten wir zunächst die Griechen.

Die Psyche nach homerischer Vorstellung, schreibt Erwin Rohde1, ist nichts, was dem irgendwie ähnlich wäre, was wir, im Gegensatz zum Körper, Geist zu nennen pflegen. Alle Funktionen des menschlichen Geistes im weitesten Sinne, für die es dem Dichter an mannigfachen Benennungen nicht fehlt, sind in Tätigkeit, ja sind möglich nur solange der Mensch im Leben steht. Tritt der Tod ein, so ist der volle Mensch nicht länger beisammen: der Leib, d. i. der Leichnam, nun unempfindliche Erde geworden, zerfällt, die Psyche bleibt unversehrt. Sie ist aber nun nicht etwa die Bergerin des Geistes und seiner Kräfte, nicht mehr als der Leichnam. Sie heißt besinnungslos, vom Geist und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens, Empfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des Menschen in seine Bestandteile. Man kann so wenig der Psyche die Eigenschaften des Geistes zuschreiben, dass man viel eher von einem Gegensatz zwischen Geist und Psyche des Menschen reden könnte. Der Mensch ist lebendig, seiner selbst bewusst, geistig tätig nur so lange die Psyche in ihm verweilt, aber nicht sie ist es, die durch Mitteilung ihrer eigenen Kräfte dem Menschen Leben, Bewusstsein, Willen, Erkenntnisvermögen verleiht, sondern während der Vereinigung des lebendigen Leibes mit seiner Psyche liegen alle Kräfte des Lebens und der Tätigkeit im Bereiche des Leibes, dessen Funktionen sie sind. Nicht ohne Anwesenheit der Psyche kann der Leib wahrnehmen, empfinden und wollen, aber er übt diese und alle seine Tätigkeiten nicht aus durch die oder vermittelst der Psyche. Nirgends schreibt Homer der Psyche solche Tätigkeit im lebendigen Menschen zu; sie wird überhaupt erst genannt, wenn ihre Scheidung vom lebendigen Menschen bevorsteht oder geschehen ist: als sein Schattenbild überdauert sie ihn und alle seine Lebenskräfte.

Schon diese Vorstellung desselben Volks, dessen späteren Entwicklungsstufen wir unsere psychologischen Grundideen entlehnt haben, beweist, ein wie Verschiedenes das bedeuten kann, was sich auf christlich nur als Seele bestimmen lässt. Den Glauben an einen schwächeren Doppelgänger, anstatt der Seele, als Träger des Unsterblichkeitsgedankens, finden wir übrigens bei den sogenannten Naturvölkern der ganzen Erde verbreitet. Nicht weniger bei den zivilisierten Nationen des Altertums: auch der Genius der Römer, die Fravashi der Perser, das Ka der Ägypter bedeuten nichts andres als ein solches, das sichtbare Ich des Menschen wiederholendes εἴδωλον und zweites Ich. Wo bleiben wir aber mit unseren allgemeingültigen europäischen Begriffen, wenn wir weiter erfahren, dass der Glaube an mehrere Seelen im Menschen überaus verbreitet ist2? — Das drastischste Beispiel dieses Glaubens bieten die alten Ägypter. Hören wir Maspero3:

Chez les Egyptiens, l’homme n’était pas composé de la même manière qu’il l’est chez nous: où nous sommes deux, le corps et l’âme, il était six, et plus peut-être … Il avait un corps comme le nôtre, puis un Ka. Le Ka, que j’appellerais le double , était comme un second exemplaire du corps en une matière moins dense que la matière corporelle, une projection colorée, mais aérienne, de l’individu, le reproduisant trait pour trait … Après le double venait l’âme (baï) qui servait elle-même d’enveloppe à une parcelle du feu divin ou de l’intelligence divine. Ces quatre Parties étaient ou pouvaient être immortelles à des degrés différents, vivaient ou pouvaient vivre dans des mondes différents, sêparées ou réunies etc.

Hier kommt es nicht darauf an, inwiefern diese Vorstellungen der Wirklichkeit entsprechen mögen — die moderne Geistesforschung führt bekanntlich zu den ägyptischen ähnlicheren als den traditionell-christlichen: es kommt darauf an, dass die Vorstellungen, auf welche die eine oder andere Kultur im Zusammenhang mit dem Unsterblichkeitsgedanken den Nachdruck legt, grundverschiedene sind. Denn eine Seele im allgemeinen gibt es nicht — es gibt nur so oder anders bestimmte Vorstellungen von ihr. Und da darf man wohl die Frage aufwerfen, ob der europäischen Kultur fernstehende Völker den christlichen Seelenbegriff überhaupt besitzen, oder je besessen haben? — Die Antwort ist nicht leicht. Schon mit den Griechen der klassischen Periode ist die psychologische Kongruenz mehr als zweifelhaft. Ihr Denken war so erstaunlich plastisch und dialektisch zugleich so scharf, dass ich bezweifeln möchte, ob es sich mit einem so undeutlichen, halb kindlichen, halb monströsen diesseitigs-jenseitigen Zwittergebilde, wie es die traditionelle Seele der christlichen Kirche bezeichnet, je hätte befreunden können. Dieser Zweifel kann auch durch historische Argumente nicht gehoben werden: denn erstens sind die hellenischen Ideen im trüben jüdisch-syrisch-ägyptischen Gewande auf die Christenwelt gekommen, und zweitens hat sich gerade das griechische Denken als wesentlich unübersetzbar erwiesen, obschon es unentwegt übersetzt worden ist. Ein Volk, bei dem Heraklits Lehre von der Instabilität des seelischen Komplexes zeitweise geradezu populär war, konnte dem transzendenten Empirismus, dem naiven Materialismus des vulgären Christenglaubens unmöglich viel Verständnis entgegenbringen. Gewiss hat mancher einsame Denker auch der christlichen Ära folgerichtig und plastisch gedacht. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass der soziale Inhalt des Seelenbegriffs, der also, den auch der Philosoph bei seinen Lesern voraussetzen muss, noch heute nicht wesentlich von dem abweicht, der im Mittelalter herrschte.

Vergleichen wir zuletzt, um abzuschließen, die christliche Psychologie mit der indischen — wo findet sich da die leiseste Übereinstimmung? Die metaphysische Veranlagung jenes wundersamen Volkes war so groß, dass sogar seine Religion abstrakter sein konnte, als bei uns bisher irgendeine verständliche Philosophie. Die Vedântalehre entkleidete das Ich jeglichen Attributes, sogar des Bewusstseins; weder Denken noch Fühlen noch Wollen, weder Tun noch Leiden eigene dem Selbst. Unsterblich ist es daher freilich — wie sollte etwas zugrunde gehen, das im substantiellen Verstande gar nicht da ist? —, doch erschien es den Brahmanen anderseits widersinnig (und unter der gegebenen Voraussetzung mit Recht), die Seelenunsterblichkeit ausdrücklich zu lehren. Die Seele des Individuums ist ja nach indischer Vorstellung nichts Individuelles … Der Buddhismus aber scheute vor der Paradoxie nicht zurück, die Seele schlechtweg zu leugnen (da er nur ein Werden, kein Sein irgendwelcher Art anerkannte) und trotzdem die ewige Wiederkunft oder Wiedergeburt zu lehren … Wie steht es unter solchen Umständen mit dem Seelenbegriff? — Das Menschengeschlecht kann von der Seelenunsterblichkeit schon deshalb nicht zeugen, weil Seele ein Begriff ist, der nur für unsere Kultur einen deutlichen Inhalt besitzt. Wohl hat jedes denkende Volk zwischen Leben und Materie geschieden; doch führte die gleiche Voraussetzung zu so verschiedenen Vorstellungen — je nach der Deutung des Faktischen, der Schwungkraft der Phantasie, dem ethischen Volkscharakter, der Richtung seiner Interessen —, dass ein Vergleich auf die größten Schwierigkeiten stößt. Mit der Seele steht es also wie mit der Gottheit: der Mensch geht vom Gleichen aus, will überall das Gleiche; doch sind die endgültigen Erscheinungsformen des gleichen Strebens über alle Begriffe mannigfach und inkommensurabel — mannigfaltig wie die Natur.

1 Psyche I, S. 4.
2 Vgl. I. G. Müller, Amerikanische Urreligion 66, 207 ff. Tylor, Primitive Culture I, 392 ff.
3 Histoire des âmes dans l’Egypte Ancienne, conférence faite à la Sorbonne le 8. II. 1879.
Hermann Keyserling
Unsterblichkeit · 1907
Eine Kritik der Beziehungen zwischen
Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt
© 1998- Schule des Rades
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