Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Das Zwischenreich

Sphäre des Subjekt-Erlebens

Seitdem und wo immer Erkenntnisstreben beim Menschen im Erleben seiner selbst und der Welt eine so weit erhebliche Rolle spielt, dass er ein Zusammenstimmen von Seins- und Verstehungsgründen (ratio essendi und ratio cognoscendi), von Ideal und Wirklichkeit, Mittel und Zielen voraussetzt oder fordert, fühlt er sich eingespannt in Gegensätzlichkeiten. Es ist hier in erster Linie einerlei, um welche Gegensätzlichkeiten es sich handelt, und sogar ob diese nur für die Vorstellung oder als von dieser unabhängige Wirklichkeiten bestehen: um die Gegensätze von Gott und Welt, Fleisch oder Erde und Geist, Ideal und Wirklichkeit, materielle Macht und moralisches Recht, materialistische und spiritualistische Gesinnung und Zielsetzung mit den ihnen entsprechenden Normen und Imperativen, oder um andere: Urphänomen ist des denkenden Menschen Selbst- und Welterleben in Funktion einer Spannung zwischen Gegen-Wirklichkeiten oder -Kräften, welche, was immer Verstand oder Einbildungskraft konstruiere, erlebnismäßig und damit tatsächlich auf einen Nenner nicht zu bringen sind. Diese Spannung ist als solche unauflöslich, und die mit dieser Unauflöslichkeit gesetzte Einheit, nicht die Möglichkeit und Notwendigkeit für den Verstand, dieselbe in Gegensäge zu zerlegen, ist das Urkennzeichen menschlichen Erlebens. Wer aber Erleben sagt, sagt Leben überhaupt, so wie der Mensch sein Leben versteht; ohne Subjekt hat sein Lebensbegriff keinen Inhalt und ohne Subjekt-Bezogenheit wird kein Erscheinungsablauf als dem persönlichen Leben zugehörig empfunden, selbst wo der Ablauf innerhalb des eigenen Organismus stattfindet. Freilich kann man auch Leben bis zu einem gewissen Grad von außen her bestimmen; nichtsdestoweniger liegt sein bestimmendes Zentrum überall und immer in der Sphäre des Subjektes. Und dies zwar unabhängig von allem Bewusstsein. Auch Tiere und Pflanzen werden von einem Subjekt regiert, auch beim Menschen verlaufen die meisten psychischen Prozesse unbewusst. Dennoch weiß jeder, dass auch dieses unbewusst Verlaufende jenem innerlichen Geschehen zugehört, das er Erleben heißt. Und ohne vorausgesagte Sensibilität und Irritabilität, deren Begriffe ihrerseits ein Subjekt voraussagen, ist auch von außen her keine Lebenserscheinung gegenständlich zu bestimmen. Indem man tötet, vernichtet man die Subjekt-Bezogenheit, und damit ist der Organismus als solcher aufgelöst. Das so verstandene Subjektive ist also im Fall des Lebens eben das, wie die objektive Tatsächlichkeit im Fall des Unbelebten, d. h. letzte Instanz. Und damit hat die Sphäre des Erlebens, die allemal als Gegenwart, als hic et nunc erfahren wird, als unbezweifelbare Gegebenheit zu gelten.

Darum kann der Ausgangspunkt einer Wesens- und Wirklichkeits­gerechten Menschenkunde nur der folgende sein: die sonderliche Daseinsebene des Menschen liegt weder in der Natur noch im Geist, weder im Göttlichen noch im Tierischen — und gleichsinniges gilt von allen übrigen feststellbaren Gegensätzlichkeiten — sondern in einem Zwischenreich, welches zunächst als solches, als ebenso bestimmte und weder weiter zurückführbare noch aufzulösende Einheit existiert, wie das Reich des Tierischen, und darum als Urtatsache hinzunehmen ist. Es ist nicht so, dass diese Sonderebene der menschlichen Existenz vom Geist oder der Natur her zu deuten oder auf einem von beiden zu begründen wäre, sondern: alle in Frage kommenden Gegensätzlichkeiten mit all ihrer irdischen Problematik entfalten sich aus dem für sich unproblematischen Zwischenreich heraus. Zur vorläufigen Fixierung der Richtung der Aufmerksamkeit, pour fixer les idées, seien zunächst nur drei Beispiele angeführt, die zwar keiner sicheren historischen Wirklichkeit entsprechen, jedoch besonders gut zu Sinnbildern für alles im gleichen Verstand Gewisse taugen. Kaum war das denkende Bewusstsein erwacht, da erlebte der Mensch als ursprüngliche Forderung, dass der Geschlechtsverkehr Ausdruck der Liebe zu sein habe, wo er auf der Tier-Ebene seinen vollen Sinn in sich selber hat; dass der Mensch sein Brot verdienen müsse, Essen und Trinken die Ur-Mittel sind, mittels derer sich das organische Leben auf Erden erhält und die darum für das Tier in keinerlei Zusammenhang mit moralischen Forderungen stehen; und dass Krankheit und Tod nicht natürliche Ereignisse, sondern in irgendeinem Verstand der Sünde Sold seien. Und so weiter. Zu ähnlichen und letztlich gleichsinnigen Vorstellungen bekennen sich alle denkenden Völker der Erde. Und der allgemeinste Sinn dieses Phänomenkreises, welcher vom hier von uns eingenommenen Betrachtungspunkte aus zu erfassen ist, ist eben der, dass der Mensch ursprünglich auf einer Daseinsebene existiert, auf welcher das konkret zusammenhängt und eine ursprünglich gegebene Synthese darstellt, was das abstrahierende Denken nicht umhin kann, in Gegensätzlichkeiten zu zerlegen.

Nur von der Anerkennung eines sonderlichen und autonomen Zwischenreiches her, in welchem der Mensch als konkretes Geschöpf seinen ursprünglich-realen Standort hat, ist die Problematik des Menschen Sinn- und Wirklichkeits-gerecht zu bestimmen. Der Mensch ist ein äußerst vielfältiges und vielschichtiges Wesen, welches aus vielen Ordnungen heraus lebt, von denen keine einzelne einen gültigen Generalnenner für alle abgibt noch abgeben kann. Besteht die Welt für den à la Kant theoretisch und denkend Eingestellten aus Erscheinungen, so besteht sie mit gleicher Gültigkeit für den voluntaristisch und praktisch Eingestellten aus Entscheidungen, für den Sinnesphilosophen aus Sinnesverwirklichungen, für den analysierenden empirischen Psychologen aus Bilderfolgen, für den äußerlich beobachtenden reinen Erdmenschen aus kausal zusammenhängenden Ereignissen. Gleichsinnig bestehen sie für den im Sinnenleben sich Erschöpfenden aus zusammenhängenden Empfindungen und für den, welcher ganz in der emotionalen Ordnung aufgeht, im Zusammenhang so oder anders aufeinander abgestimmter Gefühle und Gefühlswerte. Diese wenigen Sätze genügen, um klar zu machen, dass es verfehlt ist, von der Erkenntniskritik oder irgendeiner anderen entsprechenden Sonderkritik her das Menschentum als Ganzheit bestimmen zu wollen. Sinn- und Tatsachen-gerecht ist als Ausgangspunkt der Menschenkunde einzig die undifferenzierte Ganzheit seiner Existenzart, die alle Differenzierungen als organische Möglichkeiten einschließt, jene Ganzheit, welche wir eben Zwischenreich hießen. Selbstverständlich ist jede Art von Kritik, welche dem Geiste nach kantisch wäre, insofern sie zwischen den verschiedenen Arten von Wirklichkeiten in dem Sinne richtig zu diskriminieren lehrte, dass die Elemente des Erfahrbaren in ihrem realen Verhältnis zueinander in der Vorstellung in (von ihr her geurteilt) objektiv bestehenden Zusammenhängen widergespiegelt erscheinen, nicht allein berechtigt, sondern auch erkenntnisfördernd. Nur seien sie alle als Grundlage ein Allgemeineres voraus, welches festzustellen und zu bestimmen merkwürdigerweise noch niemals unternommen wurde: nämlich eine Kritik des Menschen in seiner unaufgelösten Einheit. Alle bisherigen Kritiken nahmen nicht etwa diese unzweifelhaft vorhandene Einheit hin — sie ignorierten sie oder sahen an ihr vorbei; ihrer aller oberste Voraussetzungen lagen unterhalb der zunächst und unmittelbar gegebenen Ur-Einheit. Daher das letztlich Unbefriedigende aller bisherigen Kritiken.

Kein Zweifel: Der Mensch ist das in sich zerfallene, kranke, irrende, sündigende, problematische, und in anderer Blickrichtung betrachtet das handelnde, mutige, freie und in keiner Hinsicht ein für alle Male festgelegte Tier. Aber diese den Nachdruck auf Bewegung und Bewegtheit legenden Bestimmungen gehen nicht von der für jeden Menschen wahren allgemeinen Zuständlichkeit, sondern davon aus, dass es in seinem Wesen liegt, aus dieser hinweg oder über sie hinaus zu streben. Wenn nicht gewiss ist, dass er, wie dies viele Anthropogonien behaupten, aus einem ursprünglich höheren Zustand in den des heute für ihn charakteristischen Zwischenreichs gefallen ist, oder aber sich, so wie dies andere lehren, aus der Tierheit zu ihm emporentwickelt habe, so ist andererseits ganz sicher, dass der Mensch nie dauernd zufrieden und immer wieder bereit ist, aus dem Zwischenreiche auszubrechen — sei es dem zu, was er als höher intuiert, sei es (was sehr viel häufiger vorkommt, z. B. bei jedem Betäubungsversuch) tierischer Dumpfheit zu. Zu letzterer Form des Falles gehört auch das Bekenntnis zum amerikanischen Tier-Ideal und dem Bentham’schen des größten Glückes für die größte Zahl. Aber andererseits streben nur sehr wenige ernstlich und lange Zeit hindurch aus dem Zwischenreich als solchem hinaus; der Allermeisten Bewegtheit hört auf, sobald sie sich innerhalb desselben etwas günstigere Lebensbedingungen erobert haben, einerseits durch bessere materielle Sicherung, andererseits durch Gewinnung einer Weltanschauung, welche den Geist befriedigt und ein statisches seelisches Gleichgewicht ermöglicht. Ebendarum enden die meisten beim Glauben an einen Gott, jenseits welchem nichts mehr denkbar ist und der eine moralische Weltordnung gewährleistet, und andererseits bei Theorien, die es ermöglichen, auch das Unangenehmste letztlich positiv zu deuten. So hilft unglaublich vielen Fortschrittsgläubigen die Vorstellung, dass ihre Kinder dereinst einen Kraftwagen besitzen werden, über eigenes Darben, ja den eigenen Tod hinweg, wobei es sich notabene durchaus nicht um übergroße Liebe handelt, sondern einfach um eine tröstliche Vorstellung. So darf man denn, will man das Menschentum richtig situieren, nicht von dem ausgehen, was diesseits und jenseits des Zwischenreiches liegt, man muss von diesem selber ausgehen. Um nun aber dem besonderen Spannungszustand auch begrifflich Rechnung zu tragen, welcher der Urstand des Menschen ist, habe ich für dessen besondere Daseinsebene die Bezeichnung Zwischenreich gewählt. Der Mensch gehört nicht ursprünglich, wie von beinahe allen Denkern behauptet wird, zwei Welten an, er lebt als Ganzheit auf einer Ebene zwischen diesen, welche, wie jede Existenzebene, von sonderlichen Gestaltungen bevölkert ist.

Die von uns gewählte Bezeichnung — sie ist vielfach auch von anderen verwandt worden, nur mit ganz anderem Bedeutungsgehalt — hat nämlich den Vorzug, die Ur-Paradoxie des Menschenzustands schon im Wortlaut festzuhalten. Logisch setzt die Vorstellung eines zwischen das Vorherbestehen das Angrenzenden voraus: beim Menschen ist gerade völlig unbezweifelbar dieses zwischen die als solche unproblematische Ur-Gegebenheit. Sie ist im genau gleichen Sinne unproblematisch wie die Gelbheit des Schwefels und das Ätzende des Königswassers, woraus unter anderem, was methodisch äußerst wichtig ist, von vornherein die Verfehltheit des Unterfangens einleuchtet, das Normsystem der Logik als universale Norm und Maßstab zu postulieren. Demgegenüber sind alle Regionen, zwischen denen das Zwischenreich vermittelt, wirklich problematisch. Alle Geschichte beweist es. Es kann nicht nur die Existenz Gottes, der Götter, des Geistes, der Seele, des Guten usf. ohne petitio principii und ohne Denkfehler in Frage gestellt werden — auch die Materie, auch die mittels der Sinne erfahrbare und mittels des Denkens greifbare Natur ist problematisch durch und durch. Je weiter kritische Physik und Biologie vordringen, desto mehr verflüchtigen sich alle Gewissheiten des Naiven. Nun mag der losgelöste Verstand oder die freispekulierende Vernunft auf der Ebene der Vorstellungen freilich auch die Existenz des Zwischenreichs in Frage stellen. Doch das ist möglich nur als verantwortungsloses Vorstellungsspiel: die erlebnismäßige Realität des Zwischenreichs steht garnicht in Frage, da alle Fragen sich allererst von ihm aus stellen.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Das Zwischenreich
© 1998- Schule des Rades
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