Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Das Zwischenreich

Vorurteil

Betrachtet man nun die verschiedenen möglichen Lebensformen, von denen konkreter Religion bis zu denen des Kriegsrechts und des gesellschaftlichen Verkehrs unter dem Gesichtspunkte von Wert und Unwert, wobei man zur Feststellung gelangt, dass für die Mehrheit zu aller Zeit nur die Antithese Erlaubt — Unerlaubt in Frage gekommen ist, dann schwindet der letzte Zweifel daran, dass alle kollektive Lebensform des Menschen wesentlich Konvention ist. Woraus denn a priori folgt: die Frage absoluter Naturgemäßheit oder absoluter Geistgemäßheit stellt sich überhaupt nicht. Sie alle gehören einem autonomen Zwischenreiche an. Daher denn die grundsätzliche Unmöglichkeit, das Menschenleben auf Grund einseitig logischer oder moralischer oder ökonomischer oder wissenschaftlicher oder spiritueller Voraussetzungen zu verstehen. Eben darum durften wir im ersten Kapitel zur Fassung der menschlichen Instrumentalwelt den extremen Ausdruck Welt der Künstlichkeit wählen. Die letztere Welt ist in erster Instanz künstlich im gleichen Verstand, wie Höflichkeitsformen, Ehrenkodexe, religiöse Riten, Gesetze und Formen des Strafvollzuges, von der Natur her geurteilt Künstlichkeiten sind. Darum, weil sie in erster Instanz Zwischenreichs­gestaltungen sind, wird an sie geglaubt, haben sie so ungeheure Macht über das persönliche Leben gewinnen können. Erst in zweiter Instanz bedeuten die Verstand-geschaffenen Künstlichkeiten, vom unmittelbaren Leben her geurteilt, das Sonderliche, das wir im ersten Kapitel feststellten.

Und nun verstehen wir auch einen der paradoxalsten Züge in der verschränkten Konstitution des Menschen: dessen tiefe Abneigung, das Gegebene so zu sehen, wie es wirklich ist. Die Gebildetesten halten an Vorurteilen, die sie sehr wohl durchschauen könnten, fest, ob sie auch daran verderben. Die meisten bemerken gar nichts anderes, als was ihnen ihre Vorurteile zu bemerken nahelegen, und was sie trotz diesen wahr haben müssen, das missverstehen sie willentlich oder aber sie glauben, es aus der Welt zu schaffen, indem sie erklären: das verstehe ich nicht. Heute noch leuchtet es der Mehrzahl der denkenden Europäer besser ein, wenn die Existenz Gottes more geometrico bewiesen oder die Natur aus dem Geist a priori konstruiert oder umgekehrt der Geist in Funktion der Materie erklärt wird, als wenn man ihnen die Dinge so zeigt, wie sie wirklich liegen. Mit welchem Abscheu ist nicht die Auseinanderlegung der Menschennatur, welche meine Südamerikanische Meditationen vornahmen, vom simplistischen und einseitig moralistischen Amerika aufgenommen worden! Es soll alles von einem Standpunkt aus oder auf einen Generalnenner hin erklärt werden können; hier steht es mit dem jüngsten aller Monismen, dem psychologischen, der bei den Bildern der Seele als letzter Instanz stehen bleibt, woraufhin er Gott als psychologische Funktion erklärt und anerkennt, nicht besser als mit dem materialistischen und energetischen. Jeder Gläubige eines Ismus verabscheut denjenigen eines anderen aus keinem tieferen Grunde als aus dem, aus welchem der Primitive in jedem Fremden einen Feind sieht. Und das allermeiste Bekehren-Wollen hat kein edleres Motiv als den Wunsch, alles Ungewohnte aus der Welt zu schaffen. In Wahrheit aber ist der Mensch mit allen seinen Schichten und Aspekten, die auf einen Generalnenner nicht zu bringen sind, integrierender Bestandteil des Weltalls. Keine Projektionsfläche spiegelt alles Vorhandene und Wirksame unverfälscht wieder, obschon alles und jedes (vgl. Religion und Psychologie in meinen Betrachtungen der Stille) auf eine beliebige Fläche projiziert werden kann. Sogar auf diejenige des Idealismus, die wirklichkeitsfernste aller Weltanschauungen. Der Idealist im vulgären Verstande ist nämlich der wesentlich feige und verlogene Mensch. Wohl jeder von uns hat irgendeinen als hochgesinnt Geltenden sagen hören:

Wenn das wahr ist, dann möchte ich nicht leben!

Woraus er dann das Recht ableitet, einen Menschen ohne weiteres fallen zu lassen, welcher ihn enttäuscht. Ein solcher merkt garnicht, dass er damit nichts anderes tut, als sein Vorurteil höher zu werten als die Wirklichkeit und diese um jenes willen zu verleugnen, damit sie für ihn nicht mehr da sei. Nicht einmal das merkt er dabei, dass eine Liebe, die nicht Enttäuschung verträgt, überhaupt keine Liebe ist.

Blicken wir nun auf all das Berührte und Angedeutete in simultaner Zusammenschau zurück, so gelangen wir zur erstaunlichen Feststellung, dass die rein mythische Weltanschauung eigentlich noch die Wirklichkeits-gerechteste ist. Im Paradiese lebten Tiere und Pflanzen, Menschen und Engel, ja Gottvater als gern gesehener Gast auf einer Ebene friedlich nebeneinander her. Und auf der gleichen Ebene hätten auch die Herausstellungen und Künstlichkeiten des Menschen, hätte es solche damals schon gegeben, gemütlich mitleben können. Damals gehörte anerkanntermaßen alles zu einer Fauna und Flora. Aber das tut es in erster Instanz tatsächlich. Wollen wir die Welt so sehen, wie sie wahrhaft ist, dann müssen wir wenigstens in dieser Hinsicht zur Unschuld des Paradieses zurückfinden. Es liegt so sehr vieles ganz anders, als die letzten Jahrhunderte über geglaubt wurde. Betrachten wir die Gesamtproblematik unseres ersten Kapitels von der Fragestellung aus, welche das vorliegende beherrscht, dann springt uns als Entscheidendes in die Augen, in wie ungeheuerlich hohem Grade unsere Welt durch die Alleinherrschaft der Verstandeserwägung verarmt worden ist. Ein reichstes Reich den vielfältigen Strebungen der Seele Ausdruck und dem Leben einen sinnvollen Inhalt gebender Konventionen ist zerstört. An deren Stelle aber ist nicht etwa Wirklichkeitserkenntnis getreten, sondern eine trostlos öde, verlassene, nur von wenigen rauhen Geschöpfen bevölkerte Kamtschatka-ähnliche Welt genau so konventioneller Voraussetzungen. Die Region der Seele spielt kaum eine Rolle mehr. Die wenigen dauerhaften Konventionen erscheinen aber sehr viel starrer noch, als die der dogmatischsten Zeitalter. Letzteres hängt mehr oder weniger damit zusammen, dass luftleerer Raum von besonders festem und hartem Metalle eingeschlossen sein muss, um unter dem Druck der Außenatmosphäre seine Identität zu behaupten. Was aber vollends fehlt, ist das Gewissen. Da die heutige so arme Welt überdies aktivistisch ist, und der Handelnde während des Handelns wenig oder nichts erlebt, so schwindet immer mehr aller Sinn für die Konventionen, welche dem ethischen Streben im Menschen, dem das Gewissen einen Spiegel vorhielt, einen Körper geben. Die Entwicklung, die mit Machiavelli begann, erlebt im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Warum soll man nicht lügen, nicht morden, ja nicht Menschenfleisch essen, wenn es nützlich ist? Was sollen Ehrbegriffe, wenn sie das sich-selber-Durchsetzen einschränken? Und andererseits: warum soll die Wahrheit über der Lüge stehen? Wieder einmal halten wir vor einer ungeheuerlichen Paradoxie. Die rein vom Verstand bestimmte Welt will illusionslos sein. Aber die schlimmste aller Illusionen ist doch, dass vom Verstande her die Ganzheit des Lebens zu begreifen und zu meistern sei. Und die Konventionen, welche heute ganze Reiche beherrschen, sind zum größten Teile nicht nur weniger wirklichkeitsgemäß, sondern bewusst verlogener, als die irgendeiner früheren Zeit. Und nicht nur dies: in immer weiteren Bereichen triumphiert als solcher scharf erkannter Unwert über den Wert, Häßliches über das Schöne. Immer mehr erleben wir schaudernd eine bewusst betriebene Umkehrung aller bisher geltenden Werte. Mir ist erst jetzt der ganze Tiefsinn des Wortes Untier klar geworden. Ein Unmensch zu sein, ist schlimm genug. Aber ein Untier? Dieser Begriff kann nur schauerlichste Perversion bezeichnen. Was das Tier im Gegensatz zum Menschen in einer Hinsicht kennzeichnet, ist dies, dass es das Böse unschuldig tut. Darum ist es sinnwidrig, einen heruntergekommenen Menschen vertiert zu heißen. Wohl aber kann er über den Unmenschen hinaus zum Untier werden.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Das Zwischenreich
© 1998- Schule des Rades
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