Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Die Welt der Künstlichkeit

Baum der Erkenntnis

Unter allen Mythen, die in unserer abendländischen Überlieferung fortleben, ist der wissenschaftlich exakteste, wenn ich mich so ausdrücken darf, wohl der, dass Adam und Eva, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, sich nicht allein ihrer Nacktheit schämten, sondern auch flugs daran gingen, sich Kleider anzufertigen. Und von je her bedeutete es mir einen Gegenstand besonderen Staunens, dass das Ungeheuerliche des in diesem Mythos herrlich verkörperten Elementarproblems menschlicher Existenz keinem Menschen, welchen ich sah oder las, je aufgefallen zu sein scheint — der Mythos leuchtete vielmehr allen mir Bekannten ein im Sinn der Selbstverständlichkeit. Es ist also selbstverständlich, dass der Mensch seine Natur ursprünglich als unvollständig ansieht und sie zu kleiden und verkleiden trachtet! Weil dem so ist, darum sieht er in ihr andererseits, in Überkompensierung seiner Elementarneigung, ein undurchdringliches Mysterium oder verstiegenes Ideal. Eine Überkompensierung und nichts anderes bedeutet nämlich die Idealisierung des Nackten in der Kunst und all der Hokuspokus, der mit dem Geschlecht und um dieses herum getrieben wird. Man versenke sich einmal vorurteilsfrei in den seelischen Tatbestand: liegt nicht eine Paradoxie sondergleichen darin, dass die geistig-seelischen Blüten und Früchte der Liebe von Unzähligen in aller Ehrlichkeit als Mittel zum alleinigen Zwecke körperlicher Vereinigung aufgefasst werden, wie jedes Säugetier sie kennt? Die gleiche Paradoxie, die wir hiermit in ihre beiden Gegenpole auseinandergelegt kurz gekennzeichnet haben, charakterisiert nun alle spezifisch menschliche Existenz. Nicht die Natur schafft dem Menschen für seine eigene Vorstellung seine normale Oberfläche, er muss sie sich selber künstlich schaffen; so identifiziert sich gerade das angeblich naturnähere, das weibliche Geschlecht, viel mehr mit seiner Kleidung als mit seiner Haut. Nicht ein naturgemäßes Leben, so wie es Tiere führen, ist dem Menschen, den primitivsten inbegriffen, ursprünglich-normale Lebensform, sondern ein solches, welches, von der Natur her geurteilt, durch Künstlichkeiten überschichtet und bestimmt erscheint. Dies ist in so weitem Sinne wahr, dass es überall und zu aller Zeit exzentrische Sektierer waren, die ein Zurück zur Natur predigten. Und sehr bezeichnenderweise taten sie dies alle von einer Weltanschauung, also einem nicht-natürlichen Geistesgebilde her. Sie predigten Natürlichkeit im gleichen Geist, in welchem sonst verlangt wird, dass das Natürliche verdeckt werde. Naturalismus, in welcher Form auch immer, ist überall und zu aller Zeit nur als Späterscheinung festzustellen, recht eigentlich als Ausdruck von Entkleidungsbedürfnis. Seit wann bemerkte der Mensch z. B. nackte Tatsachen — wie gut ist dieses Wort gebildet!? Erst nachdem die exakte Wissenschaft, die heute erst wenige Jahrhunderte alt ist, weit vorgeschritten war. Und zur genauen Bestimmung der nackten Tatsachen gelangte diese nicht etwa mittels der Wiederherstellung eines Zustandes tierischer Ursprünglichkeit, sondern mittels eines äußerst komplizierten Abstraktionsprozesses. Wie fern Naturalismus dem Menschen liegt, ersieht man nicht allein an der allermeisten Kunst, sondern an der Tatsache, dass erst im 18. Jahrhundert ein Illustrator eines Lehrbuches wissenschaftlicher Zoologie erstmalig darauf kam, die abzubildenden Tiere nach der Natur zu zeichnen. Wir übertreiben kaum, wenn wir die folgende allgemeine These aufstellen: nur über Herausstellungen, welche als solche Künstlichkeiten bedeuten, ist der Mensch schließlich zur Feststellung der Naturtatsachen gelangt. Und in wirklich exaktem Verstande ist ihm dies erst durch Präzisionsinstrumente möglich geworden.

Nun leuchtet wohl auch die folgende umfassendere These erstinstanzlich ein: der Mensch vollendet sich gattungsmäßig, als zoologische Spezies, nicht als reines Naturwesen, sondern mit Künstlichkeiten ausgestattet. Wobei es sich um qualitativ anderes handelt, als beim auf den ersten Blick analogen Tatbestand, dass Foraminiferen, Korallen und Schnecken Gerüste und Gehäuse oder Vögel Nester bauen. Wir wissen heute, dass die letztgenannten Herausstellungen, zu denen auch viele nicht direkt materialisierte Instinkthandlungen gehören, der gleichen Ebene des Wirklichen zugehören wie Knochenbau und Organschöpfung. Schnecken sekretieren keine Häuser, weil sie sich nackt fühlen, Termiten bauen keine unseren Städten vergleichbare Hügel und züchten darin keine differenzierten Leistungstypen, um einen höheren Lebensstandard zu konsolidieren — sie können von Natur aus nicht anders. Beim Menschen hingegen handelt es sich bei all seinen Herausstellungen, auf welcher Ebene immer, um eben das, was der gleiche Urmythos, auf welchen wir zu Anfang hinweisen, als Heraustreten aus der Naturharmonie richtig beschreibt, wenn auch als Sündenfall einseitig-moralistisch deutet. Dieses Herausgetretensein macht in erster Instanz die Sonderstellung des Menschen im Gesamtkosmos. Und der Mythos vom Sündenfall führt dasselbe sinngerecht auf das Essen vom Baume der Erkenntnis zurück. Der Unterschied zwischen paradiesischer Naturgeborgenheit und dem späteren Zustand des Menschen wird, in der Tat, durch das eine berühmte Shakespeare Wort erschöpfend bestimmt:

there is nothing either good or bad, but thinking makes it so.

Auf einmal konnte der Mensch im Reiche der Gegebenheit unterscheiden und werten, und damit war es aus mit einer Harmonie, welche wesentlich auf Problemlosigkeit beruhte. Der Mensch konnte unterscheiden, weil der Verstand in ihm zur Dominante ward. Fortan war er ein wesentlich denkendes Wesen.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Die Welt der Künstlichkeit
© 1998- Schule des Rades
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