Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Instinkt und Intuition

Keimhaftigkeit

Als persönliche Ganzheit der Ganzheit des Weltgeschehens eingefügt und vom Ganzen her das Einzelne beurteilend, bedarf er dabei kaum der Reflexion, außer bei der Verarbeitung von Informationen, weil er von seinem eigenen Unbewussten her unmittelbar wahrnimmt, was in der Sphäre der das Unbewusste der Völker bestimmenden Kräfte im Werden ist und darum in bestimmter Richtung gelenkt werden kann. Vom intuierten Keime her schaut er prophetisch die unbekannte Gestalt, und gleichsinnig sät er seine Entschlüsse als Befruchter in den Schoß des empfängnisbereiten Werdens. Aber genau so, wie eine Gesamtschau richtig sein kann, kann sie natürlich auch falsch sein; letzteres ist dann der Fall, wenn ein Führer dem Gesamtgeschehen nicht richtig eingefügt ist, was letztlich bisher von den allermeisten galt. In diesem Falle gleicht er einer Ameise, die ein Problem zu lösen hat, für welches keine instinktive Bereitschaft besteht; oder auch einem Körper, dessen Gleichgewichtsorgan verletzt ward.

Wenden wir uns nun von den monumentalsten Beispielen wirkender Intuitivität normalen zu. Das Intuitionsvermögen gilt als seltene Gabe: in seiner höheren Form ist es das gewiss, doch gleiches gilt von sämtlichen höheren Lebensäußerungen. In Wahrheit fehlt Intuition ganz oder beinahe ganz nur reinen Verstandesmenschen, die freilich unter heutigen Weißen häufig geworden sind; diese scheitern auch schicksalsmäßig im Leben, wofern sie sich nicht strikt, derweil alle Konventionen respektierend, an eine bestimmte Routine halten, — und aus einem letzten Rest von Intuition tun sie dies zumeist. Sonst verfügen alle Menschen, mehr oder weniger, über Intuition, nur reicht deren natürlicher Wirkungskreis selten über den Horizont vitalen Interesses hinaus. Frauen sind beinahe immer hellsichtig, wo sie lieben, sie wissen dann viel mehr, als sie an Tatsachen und durch sie erfahren haben können, und handeln in schwierigsten Lagen blitzartig geschwind mit nachtwandlerischer Sicherheit. Gleiches gilt von begabten Geschäftsleuten in deren eigenstem Interessenkreis, und nicht nur von großen, sondern gerade auch von kleinen Politikern, den bloßen Taktikern. Menschen und Kreise, die zu einander gehören, leuchten einander sozusagen unwillkürlich ein, und dadurch finden sie zueinander. Und noch begegnete ich keinem einigermaßen begabten geistbestimmten Menschen, der nicht Intuition bewiesen hätte in bezug auf die Geister, die ihm etwas bedeuten konnten, die Bücher, welche er lesen sollte und dann auch zufällig fand, ohne vorher von deren Existenz zu wissen, und letztlich in bezug auf sein persönliches Schicksal. Die das einzelne vorausbestimmende Leitlinie eines Lebens, von der wir im ersten Kapitel handelten, kann auch nur Intuition erkennen, und beinahe jeder handelt ihr gemäß. Intuition des kosmischen Zusammenhangs, ob auf dessen mehr materielle Seite (die Natur) gerichtet, oder dessen geistigste (im Grenzfall die Gottheit) ist freilich selten. Doch auch sie gibt es. Sonst hätte die Menschheit weder Religionsstifter noch Philosophen hervorgebracht, welche reale Bedürfnisse von Millionen befriedigten, weil sie ihnen zur von ihrer eigenen Natur geforderten rechten Einstellung in die Ganzheit des Kosmos verhalfen.

Kein Philosoph, der diesen Namen verdient, hat je seine Weltanschauung aus Stücken zusammengesetzt: von einer Ganzheitsschau ging er aus, die sich nachher artikulierte und organisierte, gleichwie der Keim allmählich zur vollendeten Gestalt erwächst. Gleiches gilt in noch auffallenderem Grade von der Religion, da ein religiöses Erlebnis ganz auf einer (meist plötzlich erfolgenden) Offenbarung beruht — gleichviel ob es sich um originale Offenbarung handele oder um Bekehrung zu derjenigen eines anderen — die dann unmittelbar den Glauben bannt; bei diesem durchaus irrationalen Geschehen kommt anderes als unmittelbares Ganzheitserleben als Ursprung garnicht in Frage. Wozu noch das folgende tritt: religiöse und philosophische Intuition geht unmittelbar auf das sogenannte Zeitlose und Ewige, was jedenfalls dies bedeutet: das Umfassendste an denkbarer Ganzheit. Augenscheinlich nun bedarf der Mensch mehr als alle anderen der bewussten Einpassung in diese letzte und äußerste Ganzheit, sonst erwiesen sich Religion und Philosophie nicht als das Dauerhafteste, was es je auf Erden gab; nicht eine, die nicht unzählige Reiche überlebt hätte. Doch zwischen den höchsten Betätigungsbereichen der Intuition bis zu den niedersten gibt es viele Übergänge. Man gedenke der Gestalt von Goethes Makarie, die eine Armillarsphäre in ihrer Seele barg, damit sie die Bewegung der Himmelskörper unmittelbar erlebte: ähnliche Begabungen hat es nachweislich gegeben. In diesem Sinne gibt es Kosmopathen, wie ich den betreffenden Menschentypus in der Reise durch die Zeit heiße, auf allen nur möglichen Ebenen.

Als Spezialisten gibt es Wetter- und Tierwechselkundige, Rutengänger und Menschen, in denen auf der Ebene der Intuition die Fähigkeit der Wandervögel wiedergeboren scheint. In gleichem Sinn gibt es sehr sichere Zukunftsschauer auf irgend einem begrenzten Gebiet und hellsehende Wegbereiter ferner und fremder Welten. Wer vergangene Geschichte aus spärlichen Daten richtig rekonstruiert, ist sozusagen ein umgekehrter Prophet; und auch um so von Vergangenheit künden zu können, muss einer unmittelbar von ihrer Ganzheit ergriffen sein. Gleiches gilt von dem Wiederentdecken und Neubeleben toter Sprachen. Leo Frobenius stieß auf seinen Forschungsreisen recht eigentlich mit der Sicherheit eines Zugvogels vor und in wenigen Geräten und Fragmenten und Lebensresten erschaute er das Wesen ganzer bis dahin unbekannter Kulturen. Nichts anderes bedeutet letztlich die glückliche Hand des großen Heilers, aber auch des Pflanzenzüchters und Tierzähmers. Steigen wir nun von den Höhen universeller Schau zu den letzten Niederungen herab, auf welchen Intuition noch als wirksam erwiesen werden kann und versuchen von dort aus eine Allgemeinbestimmung, dann dürfen wir sagen: Intuition ist zuunterst die Fähigkeit, unmittelbar einen Zusammenhang in seiner unauflöslichen Einheit wahrzunehmen. Insofern nun liegt schlechthin jeder menschlichen Betätigung eine Ur-Intuition zugrunde. Ist das irgendwo nicht der Fall, dann geht der betreffende Mensch auch sicher irre. Denn weder findet ein solcher den ihm gemäßen Beruf, noch begegnet er den rechten Menschen, noch kommt er mit den Kreisen aus, auf welche er angewiesen ist, noch erkennt er je die rechte Stunde, noch bekennt er sich zu der ihm gemäßen Weltanschauung, noch setzt er irgendeine Lebensgleichung richtig an. Der Mensch ist schließlich auch, wie jedes Tier, in den Gesamtzusammenhang der Wesen und Dinge hineinverwoben, und wo ihm der Instinkt fehlt oder wo dieser so stark zurückgebildet ist, dass er sich auf seine Triebe nicht verlassen kann, da muss das menschliche Äquivalent dafür eintreten, wenn einer sich frei im Kosmos orientieren können soll. In diesem Sinne frei sind nun ausschließlich die Intuitiven; sie allein stellen darum auch alle großen Offenbarer, Führer und Neuerer. Die übrigen behelfen sich schlecht und recht mit Verstandeskonstruktionen oder sonstigen Zwischenreichsbildungen. Solche können für das Bedürfnis nicht-Intuitiver nie starr genug sein; sonst ist auf sie in ihren Augen kein Verlass, fehlt jede Richtlinie im ach! so komplizierten Leben.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Instinkt und Intuition
© 1998- Schule des Rades
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