Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Instinkt und Intuition

Durchschauen

Gehen wir nun weiter. Wenn die Intuition letztlich auf Zusammenhänge geht, dann geht sie überhaupt nicht auf Tatsachen. Darum bemerken reine Intuitive Tatsachen als solche kaum; eben darum sind sie beinahe ausnahmslos durch ein merkwürdig schlechtes Tatsachengedächtnis ausgezeichnet. Intuition geht, wir sagten es bereits, wobei wir übrigens nur gesicherte Ergebnisse tiefenpsychologischer Forschung zusammenfassten, unmittelbar auf das Werden und damit das Mögliche. Die Wirklichkeit ist ja in stetem Wandel begriffen. Darum kann der allein sie richtig sehen, welcher unmittelbar das jeweils Mögliche erfasst, und dies zwar in dem zwiefachen Verstande, dass erstens oberhalb aller gegebenen Tatsachen Möglichkeiten regieren, und zweitens, dass er unmittelbar wahrnimmt, welche dieser zu verwirklichen jeweils möglich ist. Beides nun kann nur von ursprünglichem Ganzheitserleben her gelingen. Andererseits: insofern Intuition ursprünglich auf Ganzheit geht mit den ihr innewohnenden Potenzen, geht sie von Hause aus niemals auf Bestimmtes. Echte Propheten sehen die Zusammenhänge richtig voraus, doch zu bestimmten Ereignissen haben sie selten ein Verhältnis und schon garnicht zur Zeit. Tausend Jahre sind vor ihnen wie ein Tag; natürlich, denn das Mögliche als solches liegt außerhalb der Zeit, wie die Partitur in anderer Sphäre ihren Ort hat als in der Stundenzahl, die eine Musikschöpfung zu ihrer Aufführung benötigt. Andererseits werden echte Intuitive von Tatsachen schwer beirrt. Bei einem einzelnen Menschen z. B. sehen sie die Gesamtlinie seines Lebens unmittelbar vor sich und nehmen unter Umständen darum eine schwere Verfehlung überhaupt nicht tragisch. Beispiele für diese Art Intuitiver bieten Tausende liebender Frauen, besonders unter Müttern schwieriger Kinder. Wie verhält sich nun die Intuition direkt zu den Tatsachen, wo sie sich an solche heftet? Sie durchschaut sie.

Hiermit wären wir beim zweiten Teile unserer Anfangsthese angelangt, nämlich der, dass die Intuition einerseits eine ursprüngliche Fähigkeit der Synthese, andererseits eine ebenso ursprüngliche Fähigkeit — nicht etwa der Analyse, zu letzterer ist sie gänzlich ungeschickt sondern des Durchschauens bedeutet.

Indem wir beim Probleme des Durchschauens angelangt sind, erfassen wir — in mathematischer Metapher ausgedrückt — in erster Annäherung, inwiefern Intuition im Unterschiede vom Verstande, aber auch von der empirischen Anschauung, die nur bestimmte Tatsachen wahrnimmt, dem Menschen die Tore zum Ursprünglichen und damit zum Ursprung öffnet. Die empirische Anschauung offenbart nur das, was gerade da ist, im Jetzt und Hier; diese Gegebenheit fasst dann der Verstand in eine künstliche Apparatur ein, die sie zu meistern gestattet. Im Fall beider Betätigungen ist das empirische Ich oberste Voraussetzung, und darum ist es ganz unmöglich, weder auf dem Wege äußerer Erfahrung noch auf demjenigen des Begreifens zu einem Jenseits des Ichs und korrelativ dazu der seiner Ebene zugehörigen Welt zu gelangen. Die Intuition, mittels welcher sich der Mensch des Zusammenhangs der Gegebenheiten und Geschehnisse bewusst wird, wirkt von Hause aus aus einem Jenseits des Ich heraus auf ein Jenseits der diesem entsprechenden Phänomenalität, und das Ergebnis dessen ist das Durchschauen der Tatsächlichkeit. Der Intuition ist ursprünglich weder der Augenschein noch der Wortlaut noch die Begriffsfassung noch die formulierte Theorie noch die geäußerte Meinung letzte Instanz, sie durchdringt alle diese Gestaltungen und erlebt unmittelbar den realen Ursprung des Erscheinenden. Also bei einem Menschen, wer er wesentlich ist, und gäbe er sich noch so anders, was er wesentlich meint, gleichviel was er und wie er es sage, gleichviel ob er lügt oder der Absicht nach die Wahrheit spricht; gleichsinnig sieht sie im Keim die vollendete Gestalt voraus, schaut sie durch beliebigen Ausdruck hindurch die Intention, in jeder bestimmten Philosophie und religiösen Konfession und Moral deren schöpferischen Sinn. In meinen philosophischen Arbeiten vom Reisetagebuch an habe ich den Sinn-Begriff zur Generalbezeichnung für allen geistig fassbaren Ursprung gewählt und insofern durfte ich sagen, dass auf dem Gebiet des geistbestimmten Lebens der Sinn den Tatbestand schafft und nicht umgekehrt; ja ich durfte die gleiche Grundformel auf das Gebiet alles Lebendigen ausdehnen, welche Grundschau von mir zwanzig Jahre später von Uexküll in seiner Bedeutungslehre, die eine Anwendung der Hauptlehren meiner Schöpferischen Erkenntnis auf das Gebiet des rein-Biologischen darstellt, glücklich konkretisiert worden ist.

Im Allgemeinen aber ist meine Lehre völlig missverstanden worden, weil mein Sinn-Begriff als Verstandesbegriff aufgefasst wurde, aus welchem sich weiteres logisch deduzieren ließe und aus welchem zumal ich meine Sonderlehre deduziert hätte. Hätte ich unter Sinn wirklich das verstanden, was mir unterschoben wird, dann wäre meine Lehre Unsinn, denn sicherlich liegt das Abstraktum Sinn weder dem Geist noch erst recht dem Leben überhaupt zugrunde. Was ich mit dem Worte Sinn meine, ist nicht einmal mit dem griechischen Logos wesenseins, obgleich dieser viel mehr und anderes bedeutete als einen Verstandesbegriff; Verwandtschaft hat er allein mit dem allgemein-schöpferischen Prinzip der Chinesen, welches Richard Wilhelm auf Deutsch mit dem Worte Sinn wiedergegeben hat. Aber auch diesen chinesischen Sinn meine ich nicht, denn dieser verdichtet in sich trotz aller Umfassendheit und Vieldeutigkeit eine bestimmte und ihrerseits durchschaubare Mythologie. Mir ist Sinn ein reines Symbol für das, was im Fall von Lebendigem real hinter der Erscheinung steht und von der Intuition wahrzunehmen ist — ganz einerlei, wie dieses Reale im übrigen zu bestimmen sei. Und ich verwende diesen rein sinnbildlich gemeinten Begriff auch nicht zur Bestimmung, sondern zur Belichtung; das Licht erweist sich als das, was es ist, durch sein Belichtendes, wie immer die Formel sei, welche die jeweilige Physik für das Phänomen finde; demgegenüber hat keine Formel einen Blinden sehend gemacht noch je dem Sehenden beim Sehen im mindesten geholfen. Unter Sinn verstehe ich den Ursprung — und insofern habe freilich auch ich einen Mythos in die Welt gesetzt, nicht unähnlich dem Im Anfang war das Wort. Nur dass ich nicht behaupte, der Ursprung wäre eben der Sinn; ich versinnbildliche nur mit dem Worte den realen Ursprung und mache diesen dadurch innerhalb gewisser Grenzen dem Verstehen zugänglich. Wie weit das gelingt, hängt von den Grenzen ab, bis zu welchen erstens philosophische Intuition überhaupt, zweitens die meine und endlich die des jeweiligen Lesers vordringen kann. Doch darauf kommt es mir nicht an. Ich strebe überhaupt nicht nach einem System, welches nur als Verstandeskonstruktion nicht nur denkbar, sondern real möglich ist, ich strebe auch nicht nach Einheit, ja ich strebe überhaupt nach garnichts: ich stelle letztlich meine ursprüngliche Schau heraus und damit stecke ich vielleicht auch manchem anderen ein Licht auf. Von dieser Intention her gibt es keine Einheits-, keine Sollforderung, nichts Allgemeines im Sinn von Allgemeinbegriffen und keine andere Einheit als die, welche den Intuierenden direkt affiziert. Insofern ich also Einheit behaupte, meine ich reale, von mir unmittelbar wahrgenommene, nicht gedanklich bestehende Einheit; ich meine konkrete Einheit, wie denn das, was ich mit Sinn bezeichne, ein durchaus Konkretes und in keiner Weise ein Produkt von Gedanken-Abstraktion ist.

Doch alles dies nur nebenbei. Wenn einer durch den Schein hindurchsieht, durch die Lüge hindurch die Wahrheit, durch die Maske die Wirklichkeit, durch den Schleier der Maya hindurch das Ewige Antlitz schaut, dann konstruiert er garnicht, er abstrahiert auch nicht, schon garnicht führt er Konkretes auf Abstraktes zurück: hier handelt es sich um eben so unbezweifelbare Erfahrung — wie immer diese letztlich zu deuten sei — wie bei der empirischen Anschauung. Nur ist die letzte Instanz dieser die Erscheinung, das Augenblicksbild des jeweiligen Tatbestandes, die erste Instanz jener hingegen die nächstliegende Ganzheit, die sie von innen her bedingt. Wo es sich um Geistiges und höheres Seelisches handelt, sind diese Ganzheiten Sinneszusammenhänge im eigentlichen Verstand; es können aber auch — alle auf das Geschlecht, den Ur-Hunger und die Ur-Angst bezogene Intuition beweist es — Naturzusammenhänge sein. Aber Intuition kann tiefere und damit weitere Zusammenhänge als die nächstliegenden erfassen: das ist es, was ihr gestattet, fortschreitend immer höhere Ganzheiten wahrnehmend und diese immer wieder durchschauend an der Grenze bis zum ersten Ursprung vorzudringen. Solche größere Tiefe unterscheidet die Intuition des religiösen und metaphysischen Genius von derjenigen der liebenden Frau und des praktischen Menschenkenners. Dass keine Intuition tatsächlich bis zum Urgrund selber erkennend vorgedrungen ist, beweist die Tatsache, dass keine Seher sich anders als in ferner Symbolik über das Letzte und Äußerste, was er ahnte, hat aussprechen können. Es gibt keine Heilige Schrift, die, ob sie vielleicht von Gott offenbartes Wort festhielte, Gottes eigenen Sinn direkt offenbart hätte. Und ebenso ist noch keine Intuition der Natur deren realem Ursprung so nahe gekommen, dass der dieser direkt oder indirekt Teilhaftige das Goethewort

Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist

hätte Lügen strafen können. Aber dem Natur- und Geistesursprung viel näher gekommen als alle anderen Menschen sind viele große Intuitive deren noch so stammelnde Worte in den Seelen weniger Begnadeter immerhin ein Echo finden. Und wer sich in solche Intuitionen versenkt, gewinnt damit durch alle Künstlichkeit und alles Zwischenreichliche hindurch direkten Kontakt mit dem Ursprünglichen, welches er meint, wenn er sich nach Vereinigung mit diesem sehnt.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Instinkt und Intuition
© 1998- Schule des Rades
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