Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Instinkt und Intuition

Leben in Form des Wissens

Vom Weg, wie Intuition zustande kommt, wird der Schlussabschnitt dieses Kapitels handeln. Halten wir hier zunächst bei der Einsicht, dass Intuition auf dem Wege des Durchschauens zum Kontakt mit dem realen Ursprung führt. Dies gilt zunächst natürlich im Sinn der Kontemplation. Aber durch diese hindurch gelangt der Mensch, wo echte Intuition am Werke ist, zu realer Teilhabe. Das Tier, welches, eingespannt in ein größeres Ganzes und von diesem her bedingt, instinktiv das jeweils Richtige tut, handelt damit unmittelbar aus seinem realen Ursprung heraus. Aber genau so real hat der Intuierende am ihn bedingenden großen Ganzen teil, nur eben als frei-wählen-könnendes Wesen und auf differenzierte Weise. Die meisten Intuitiven sind auch unter Menschen nicht Versteher, sondern Täter. Ihre Intuition setzt sich so blitzartig schnell in entsprechende Handlungen um, dass sie garnicht zu bewusstem Verstehen kommen, so sehr ihr Tun Ausdruck von Verstehen sei. Und umgekehrt kann Durchschauen auf buchstäblich wunderbare Weise, die wir im letzten Kapitel näher betrachten wollen, Handeln überflüssig machen. Wir sagten, die Intuition wirke vom Unbewussten her: damit wirkt sie aus jenem Undifferenzierten heraus, wo nicht allein zwischen Schauen und Tun schwer zu scheiden ist, sondern von dem aus geurteilt es auch den dem Verstande unüberbrückbar scheinenden perspektivischen Unterschied zwischen Außen und Innen nicht gibt. Es gibt ihn nicht, weil dieser nur vom Ich her besteht und die Intuition aus einem jenseits seiner heraus wirkt. Nicht dass Subjekt und Objekt von ihr aus eins wären und gar von jedem Objekte gälte: tat twam asi, das bis Du, wie so viele Intuitive vorschnell geschlossen haben, womit sie wieder in die Niederungen der Verstandeskonstruktion zurückfielen — der Intuitive kann überhaupt keine Urteile fällen, er nimmt nur wahr. Wohl aber besteht im Undifferenzierten ein so intimer Zusammenhang dessen, was der Verstand scheiden muss, dass Vereinigungen möglich werden wie die, welche so oft von Denkern als Identität von Denken und Sein missverstanden worden ist. Zwischen Denken und Sein besteht keine mögliche Gleichung. Wohl aber besteht ein inniger Zusammenhang zwischen Intuition und Sein. Darum kann auf dem Gebiet des geistbedingten Lebens der Sinn den Tatbestand schaffen. Darum kann Erkenntnis Erlösung bedeuten. Darum kann bei psychotherapeutischer Behandlung das bloße Aufzeigen der Ursachen von Symptomen Heilung herbeiführen. Worauf es hier überall ankommt, ist aber nicht Wissen oder Begreifen oder Schauen außer sich, es ist im buchstäblichen Sinn des schönen deutschen Worts das Einleuchten. Was einleuchtet, leuchtet real ins Innere hinein und verwandelt es damit.

In diesem Sinne ist dank der Wundergabe der Intuition tatsächlich realer Kontakt mit dem Ursprung zu gewinnen. Und darauf kommt es den meisten letztlich, ja einzig an. Wie könnte Religion und Metaphysik ein Lebensbedürfnis sein und befriedigen, wenn es sich nur um Gedanken über noch so richtige Theorien handelte? Wie könnte Glauben das vorletzte und Realisieren das letzte Ziel geistigen Strebens sein, wenn nicht reale Selbstverwirklichung das wäre, was der Sucher nach absoluter Wahrheit letztlich meint? Über den Sinn des Realisierens habe ich mich im Kapitel Kritik und Offenbarung der Betrachtungen der Stille so vollständig ausgesprochen, dass ich hier nur auf dieses zu verweisen brauche. Über den Glauben wird später mehr zu sagen sein — obschon ich auch hier das Wesentliche schon erschöpfend formuliert habe, nämlich im 1906 geschriebenen Kapitel Das Problem des Glaubens der Unsterblichkeit. Noch auf zwei andere Jugendarbeiten darf ich hier verweisen: meine zwei Vorträge über die metaphysische Wirklichkeit, von denen der eine auf dem Internationalen Philosophenkongreß zu Bologna im Jahre 1911, der andere schon 1907 an der Universität Hamburg gehalten wurde, welch letzterer 1910 als fünfter Vortrag meiner längst vergriffenen Prolegomena zur Naturphilosophie gedruckt erschien. Dort gelangte ich nach vielen Umwegen zuletzt zur Formel: Metaphysik sei Leben in Form des Wissens; sie könne überhaupt nicht Wissenschaft sein, sie realisiere sich, indem sie sich ausdrückt. Insofern gälte Gleiches von ihr wie von der Dichtung. Hier nun hilft der folgende Satz des Reisetagebuchs zur richtigen Unterscheidung und damit Situierung:

Der Komödiant stellt dar, der Dichter schafft, der Metaphysiker antizipiert im Sinn alle nur mögliche Darstellung und Schöpfung.

Des Dichters Existenz-Ebene ist die der Verkörperung dessen, was ihm einfällt; für ihn kommt auf den Ausdruck alles an und darum ist Dichtung nicht unmittelbares Leben, sondern Kunst. Der Metaphysiker erlebt den Sinn unmittelbar auf seiner Ebene, und drückt er sich noch so ähnlich wie der Dichter aus, er meint anderes und mehr. Ihm ist das Wort nie mehr als ein hindeutendes Symbol. Das aber, worauf es hindeutet, ist reales Leben aus dem Geist, nicht Niederschlag seiner und auch nicht Spiegelung. Zur Teilnahme an diesem nun schafft verkörperte Intuition einen realen Zugang. Diese Verkörperung findet statt im Wort. Und so vermag das ursprüngliche Sein durch das Wort hindurchzustrahlen und aktiv ins empirische Leben einzugreifen.

Daher die ungeheure Bedeutung des Wortes. Daher die bloße Möglichkeit des Einleuchtenden (denn darauf kommt es an!) der These:

Im Anfang war das Wort.

Die Vermittelung zwischen metaphysischem Wesen und Ausdruck im Körper der Erdkräfte und -normen schafft das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck. Über letzteres sei über das früher Mitgeteilte hinaus noch dies gesagt. Zu verstehen im Sinn einer Ableitung aus anderen ist das fragliche Gesetz ebenso wenig wie irgend ein Naturgesetz. Auch dem Verstande leuchtet es nicht a priori ein, wie dies von den Normen der Metaphysik und Logik gilt, weil es sich um keine Verstandes-Norm handelt, sondern eine der ästhetischen Betrachtung und des ethischen und spirituellen Strebens. Auf dem Gebiete der Kunst ist andererseits evident, dass der gemeinte Sinn nicht nur desto vollkommener, sondern desto mehr realisiert ist, je genauer der Ausdruck diesem entspricht. Im Grunde handelt es sich um das gleiche Gesetz der Artikulation, welches den physischen Organismus regiert. Je mehr alle Erdkräfte dem Leben dienstbar gemacht sind, je vollständiger sie ihm als reine Ausdrucksmittel dienen, desto lebendiger äußert es sich. Genau das gleiche gilt auf der Ebene des Wortes. Hier kann sogar das Begriffliche seinen ursprünglich künstlichen Charakter verlieren, indem es zum Ausdrucksmittel reiner Intuition wird. Im Höchstfall kann das sogar von streng wissenschaftlichen Begriffen gelten. Indem diese den Gesetzen des Weltalphabets genauer gemäß gebildet sind, als von sonstigen Ausdrucksformen gilt, verhelfen sie dem intuitiven Geist, das, was er meint, in allübertragbarer und allgemeinverständlicher Form zu sagen. Doch nicht hier liegt das Wunderbare des Worts. Dieses besteht darin, dass das Wort das Mittel ist, durch welches ursprünglicher Geist direkt ins Leben eingreift. Worte sind nämlich in zwiefachem Sinne bedeutsam: einerseits beziehen sie sich auf Äußerliches, das sie der Psyche assimilierbar machen, indem sie es in ihre Sprache umsetzen, welche eben die Wortsprache ist. Andererseits und vor allem aber drücken sie unmittelbar Sinn aus, ohne jeden ursprünglichen Bezug auf eine Außenwelt.

So verstanden nun ist das Wort der Ur-Ausdruck des Geistes in seinem Verstehens-Aspekt. In einem späteren Kapitel werden wir sehen, dass dieser Aspekt nicht der erste noch auch sein wichtigster ist; hohe Religionen haben nichts vom Wort gewusst. Wohl aber schafft das Wort allein eine objektiv bestehende Verbindung zwischen dem substantiellen Geist und dem rationalen Verstehen des natürlichen Menschen. Gewiss besteht diese Verbindung nur, sofern ein Sinn-gebender Mensch sie von sich aus sinngemäß nutzt; Nicht- und Missverstehen ist allezeit möglich. Andererseits ist kein Wort von sich aus eindeutig und vieles lässt sich überhaupt nicht in Worten aussprechen — aber eine andere objektivierte oder objektivierbare Verbindung gibt es nicht. Daher die ausschlaggebende Bedeutung des Wortes Gottes bei allen religiösen Völkern, in deren Geistigkeit der Hauptnachdruck auf dem Logos ruhte. Geistiger Ursprung kann sich wirklich direkt durch das Wort manifestieren und so hat sich das, was zutiefst und zuhöchst und zuletzt west, dem Menschen durch das Wort offenbart. Die Ur-Worte sind dermaßen tief sinnvoll, dass die meisten tieferes Wissen verkörpern, als alle artikulierten Philosophien und dieses Wissen kann dem meditierenden Menschen durch das Wort unmittelbar einleuchten. Wieder meine ich hier mit Ein-Leuchten ein Tieferes als das übliche Verstehen. Durch das Aufleuchten des Sinns des Worts in ihm wird dem Menschen Wirkliches bewusst, das er ohne vorgegebenen Namen nie realisiert hätte. So kann persönliche Einsicht einziger Art durch das Wort dem allgemeinen Leben eingebildet werden und dauernd bleiben. Mit dem letzten Satz meine ich dies, wobei ich mich wieder sinnbildlich ausdrücke: nur ganz wenige Geister haben Gott geschaut oder sonst von den letzten Dingen durch persönliche Erfahrung gewusst.

Dieses seltene Wissen wird aber durch das Wort grundsätzlich allübertragbar und hier sogar trotz unvollkommener Befolgung des Korrelationsgesetzes von Sinn und Ausdruck; denn für das, was jenseits der Ebene gemeinverständlicher Sprache lebt, gibt es keinen wirklich angemessenen Ausdruck; Unbekanntes und Unerhörtes kann sich sprachlich allein durch dergestalt neuverknüpfte an sich bekannte Worte offenbaren, dass aus der Verknüpfung neuer Sinn ausstrahlt. So wirken Jesu, Buddhas, Yajnavalkyas, der großen Zen-Meister Intuitionen zeitlos fort, nicht nur von Verstehendem zu Verstehendem, sondern auch von nur Ahnendem zu nur Ahnendem. Die Ahnenden fühlen sich gedrängt, an das zu glauben, was sie nicht verstehen. In diesem Zusammenhang bedeutet nun Glauben nichts anderes als, bildlich ausgedrückt, entweder geronnene oder aus zäher Urmasse noch nicht gelöste Intuition. Durch Glauben wird fest- und dem eigenen Gemüte andauernd gegenwärtig gehalten, es wird als wahr gesetzt und bejaht, was über den eigenen Verstehens-Horizont hinausreicht, wovon man aber fühlt, dass es den Zugang zum eigenen Lebensgrunde offen hält. Höher nun aber als Glauben steht Realisieren. Denn Realisieren bedeutet reale Vereinigung mit dem, wovon Verstehen nur die Möglichkeit einsieht und Glauben nur das Dasein behauptet; noch so tiefe und wahre Einsicht und noch so festes Glauben schaffen keine erlebte Vereinigung. Im Realisieren hingegen werden Wissen und Leben wirklich eins. Aber der Weg des Realisierens führt über die Meditation des Wortes, dieses in seinem Eigen-Sein ist der Ur-Ausdruck der Intuition, und diese wiederum ist die eine Fähigkeit, welche den Verstehen-wollenden Menschen direkt mit seinem geistigen Ursprung verbindet und diesen als befruchtenden Keim ins Erd-Leben hineinbeschwört.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Instinkt und Intuition
© 1998- Schule des Rades
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