Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Die Welt der Künstlichkeit

Verlust des Paradieses

Warum bedeutete nun dieser offenbare Fortschritt den Verlust des Paradieses? Weil der Verstand alles von außen her sieht. Wer in ihm seinen Mittel- und Brennpunkt hat, kann überhaupt nicht ursprünglich und unmittelbar von innen heraus leben, und ebensowenig kann die Außenwelt den Kern seines Wesens direkt berühren. Seine Tätigkeit bewegt sich ganz und gar auf einer Sonderebene, welche das unmittelbar Gegebene entwirklicht. Alle direkte und aktive Lebensäußerung ist entweder positiv oder negativ und damit grundsätzlich parteiisch; demgegenüber ist der Verstand ebenso grundsätzlich neutral. Er lebt nur in und von Vergleichen, wo alles ursprüngliche Leben nur als Einzigkeit sowohl für sich existiert wie von anderen zu verstehen ist. Dem Verstande ist das Allgemeine der Seinsgrund des Besonderen, welches er dementsprechend als solches wenig ernst nimmt, wo es für das ursprüngliche Leben gerade nichts Allgemeines gibt. Die Daseinsebene des Verstandes ist die des Sachlichen, während alles Ursprünglich-Lebendige persönlich oder überpersönlich ist, welch letzteres ein noch weniger Sachliches bedeutet als das Persönliche. Vor allem aber kann der Verstand nur indirekt reagieren und damit wirken. Er muss im weitesten Sinn des Worts Maschinen bauen, und das heißt Materialisationen schaffen für das, was er meint, welche von der Natur her geurteilt Künstlichkeiten bedeuten, um mittels ihrer von außen her an die Welt heranzutreten, da er eine direkte Beziehung von Mensch zu Welt nicht schaffen kann. Dies gilt von Theorien und Hypothesen genau so wie von Handwerkzeugen und Fabriken. Von der Natur her geurteilt sind diese Künstlichkeiten allesamt Fiktionen. Hier gilt der folgende Weg der Steigerung und Sublimierung, welchen ich, späterer näherer Ausführung vorgreifend, schon jetzt als grobe Skizze hinzeichne. Nur mittels erfundener Werkzeuge, welche von ihm aus ein Außer-Sich bedeuten und mittels derer er von außen her an seine Umwelt herantritt, meistert der Mensch diese ebenso gut, wie andere Geschöpfe die ihre mittels angeborener Organe meistern. Diese Werkzeuge sind zunächst unmittelbar auf das Nächstliegende bezogene Apparate. Bei höherer Intelligenzentwicklung entstehen dann Werkzeuge mächtigerer Art, die sich nur mittelbar auf Nächstliegendes beziehen, wie Allgemeinbegriffe, Theorien, Hypothesen und sonstige Hilfskonstruktionen; diese ermöglichen die Erfindung neuer und komplizierterer Werkzeuge. So und nicht anders verhält sich die wissenschaftliche Forschung zur Technik: die Zweckfreiheit jener ist die Vorbedingung der Erfindung beliebig vieler Zweckbezogenheiten. Aber auch jede noch so dicht materialisierte Erfindung ist vom Naturstandpunkt nichts anderes als eine Fiktion, und je mehr die Fiktionen sich häufen, desto mehr bedeuten sie dem Menschen sein eigenstes Milieu, desto mehr sind es die von ihnen aus bestehenden Wirklichkeiten, die für den Menschen in erster Linie zählen. So hat nichts gerade für den einfachen, nur über das Nächstliegende nachdenkenden Mann mehr Wirklichkeitswert als die Rechtsordnung, denn sie gewährt ihm die Hauptsicherung gegen die Ur-Angst. Aber die Rechtsordnung ist ganz und gar auf Fiktionen aufgebaut. Die allerfiktivste unter den menschlichen Betätigungen ist die, welche das Allerpraktischste zum Gegenstande hat: die Wirtschaft.

Ökonomie als Wissenschaft verstanden bedeutet nur dann keinen direkten Widersinn, wenn sie als Kunstgeschichte oder Lehre von der reinen Technik angesehen wird. An sich ist die Welt wirtschaftlicher Werte reine Dichtung. Schon lange dämmerte es vielen, dass die Goldwährung nicht auf dem Golde, sondern auf dem Glauben an das Gold beruht. Aber noch heute, da ich dieses schreibe, im dritten Jahr des zweiten Weltkrieges, können sogar viele Deutsche nicht begreifen, wie es Deutschland gelingen konnte, alle Überlieferung über den Haufen werfend, an die Stelle des Goldes die Arbeit zu setzen und an die des Privatvermögens als letzter Instanz das Volksvermögen, dank welcher Verschiebung keine Ausgabe für das Volksganze zu teuer erschien, wenn nur irgend jemand innerhalb desselben daran verdiente und der Wert im Lande blieb. Die Erfindung der neuen Wirtschaft hatte aus dem Nichts ein neues Reich der Fiktionen erschaffen, diese dem Leben aller von ihm Erfassten auferlegt — und siehe da! eine neue Wirklichkeit war damit entstanden, für welche die Normen früherer nicht mehr galten. Den letzten Zweifel an der Menschengemäßheit der Welt der Künstlichkeit nimmt dem nicht schon früher Überzeugten die Psychologie der unbewussten Prozesse. Hier hat es sich im großen und ganzen erwiesen — der Übersichtlichkeit halber vereinfache ich ein wenig den komplexen Sachverhalt —, dass alles Empirisch-Besondere in einer vorherbestehenden rein geistigen Leitlinie seinen schöpferischen Grund hat. Welche Schicksalslinie von sich aus, durch Dichtung und Arrangement, nicht nur Zufälle, sondern organische Tatsachen wie reale Krankheiten schafft. Dem Tieferblickenden aber beweist bereits das Unbezweifelbare, dass der Mensch überhaupt planen kann und überdies planen muss, auf seine Zukunft hin, um seine als solche empfundene Bestimmung zu erfüllen, die Wirklichkeitsgerechtheit unserer These.

Aus allem bisher Gesagten ergibt sich nun ein Weiteres. Richtet der Mensch sich wirklich menschengemäß ein in der Natur, dann muss er sie verändern. Wo er sie nicht verändert, dort scheint er ihr nicht gewachsen und dort ist er es auch nicht, insofern sein eigenes Menschenwesen nicht voll erwachsen ist. Dort unterliegt er ihr, denn als reines Naturprodukt ist er das unentwickelteste und schlechtestausgestattete aller Tiere. Und er kann die Natur nur verändern durch seinen Verstand, nicht durch seine rein geistigen, seine sogenannten höheren Fähigkeiten. Dichter sind wesentlich unpraktisch, Philosophen wegen ihres Allverstehens unfähig, sich auf Kosten alles übrigen für Eines zu entscheiden. Darüber hinaus verändert Sinneserfassung als solche nichts; viel eher steht sie, und dies zwar desto mehr, je tiefer sie greift, biologischer Zielsetzung und Auswertung entgegen. Die Welt des reinen Geistes hat keine unmittelbare Macht über die Natur. Wo der Mensch intellektuell noch nicht erwachsen ist, hat er immer wieder versucht, sie von einer anderen Welt her, der er sich auch zugehörig fühlte, zu beherrschen, nämlich magisch, durch Zeremonien, Riten, Zaubersprüche. Doch das gelang nur schlecht, in größerem Umfang dort allein, wo es sich um Beeinflussung von Menschen handelte, deren Glaube den Praktiken entgegenkam, sonst nur im Fall des Daseins mit ungewöhnlichen Gaben ausgestatteter, zu aller Zeit seltener Medizinmänner. Und es gelang immer nur so lange, als der Magie-gläubige Mensch mit realistischeren Typen seiner Art nicht in Konflikt geriet. Jedes magische Volk wurde von einem ihm verstandesmäßig überlegenen und darum technisch besser ausgerüsteten mühelos unterjocht. Ist der Mensch nun aber verstandesmäßig voll entwickelt, dann gehört er nicht mehr in die Naturharmonie hinein. Er kann nur Herr der Natur sein, weil er sie ganz von außen sieht und behandelt, oder aber ihr Betrachter im gleichen distanzierten Sinn. Jahveh prophezeite dem Adam ganz richtig, dass er der Herr der Schöpfung sein werde. Nur erwies er sich gleich den meisten Propheten in der Zeitbestimmung ungenau: zum wirklichen Herrn der Schöpfung ist der Mensch erst im technischen Zeitalter erwachsen. Erst in ihm hat er das Entwicklungsstadium erreicht, welches jedes vollausgewachsene Tier im Urstande darstellt.

Dass der Mensch und nur er als Erfinder und Naturbeherrscher grenzenlos entwicklungsfähig erscheint, an keinen Ausgangspunkt und keine Schlussfolgerung endgültig gebunden, beruht eben darauf, dass nur in ihm der Verstand die Betätigung bestimmt. Und dies ist das Entscheidende bei ihm vom Standpunkte der Erde, nicht sein Dichtertum; auf den Gebieten der Kunst und der Religion hat der Fortschrittsbegriff keinen sinnvollen Inhalt. Adam wird von den meisten falsch vorgestellt. Vielleicht war er töricht und roh, aber sicher war er ein Intellektualist. Nur darum kam er darauf und musste er, nachdem er aus dem Paradiese ausgewiesen war, darauf kommen, dass er fortan zu arbeiten und sein Brot zu verdienen habe. Arbeiten kann nur der Verstand-bestimmte, weil alle Arbeit Planung, d. h. einen klar erkannten Ausgangspunkt, deutliche Zielsetzung und einen scharfen Begriff vom besten Weg, das Ziel zu erreichen, vorausseht. Freilich haben in langen Zeiträumen der Geschichte nur Sklaven, d. h. nicht als Menschen geltende Menschen gearbeitet, wird in Zukunft vielleicht die Maschine den größeren Teil aller Arbeit übernehmen. Aber Arbeitenlassen, Arbeit-lenken und selber arbeiten ist vom Standpunkt der Natur einerlei. Sie arbeitet nie, sie schafft. Was sie leistet, leistet sie spontan, wie die Einfälle dem schöpferischen Geiste kommen, ohne Planung, aus innerem Müssen. Darum bedeutet jeder Arbeiter dem natürlichen Geschehen gegenüber einen Vergewaltiger. Und auf Arbeiten überhaupt konnte nur ein Verstandesmensch kommen, der zur Bewältigung sonst übermächtiger Schöpfung überlegene Künstlichkeiten zu schaffen fähig war.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Die Welt der Künstlichkeit
© 1998- Schule des Rades
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