Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Instinkt und Intuition

Weg des schöpferischen Werdens

In diesem Kapitel liegt uns nur noch ob, den Weg zu beschreiben, auf welchem Intuition zustandekommt. Es ist dies der Weg der Polarisation von bejahtem Wesen zu bejahtem Wesen. Wer sich mit einem Gegenüber polarisiert, der sucht es nicht zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen, der will es nicht be-greifen, in kein künstliches System einordnen, nicht bezwingen, nicht verdauen, auch nicht als Datum im Gedächtnis festhalten; der will es nicht vom eigenständigen Subjekt zu einem Objekt, von einer Person zu einer Sache machen, der will ihm, mit einem Wort, nicht sein für-sich-Sein nehmen: gerade auf das Fortbestehen dieses für-sich-Seins kommt ihm alles an. In Form eines Wortspiels Martin Bubers, des Verfassers der kleinen Schrift Ich und Du ausgedrückt, von welcher wohl alle späteren sinngemäßen Behandler des Ich-Du-Problemes ausgehen: das Gegenüber bleibt dem, der sich ihm stellt, allezeit gegenwärtig, und ebendarum wird es ihm nie zum Gegenstand. Bei der Polarisierung, auch mit dem Ziele der Erkenntnis, gilt nicht das unter Denkern und Forschern allgemeinübliche, auf Kant zurückgehende Schema, dass ein Ich von außen her einem Es, vom Standpunkt des Subjekts einer Sache, entgegentritt oder von diesem affiziert wird, sondern dass eine zweiseitige Beziehung entsteht zwischen zwei gleichberechtigten Polen Ich und Du, die bei noch so innigem Zusammenhang gesondert und selbständig bestehen bleiben. Diese Beziehung nun ist nicht allein verschieden überhaupt, sie ist wesensverschieden von der zwischen einem Ich, welches begreifen will, und einem Es, dessen Gegebenheit keine Eigenkräfte auswirkt. Sie ist eines Grund-Sinnes mit der zwischen positiver und negativer Elektrizität und zwischen Mann und Weib; in beiden Fällen ist der dynamische Zusammenhang der Gegenpole in einem einheitlichen Kraftfelde das Urphänomen, wobei beide Pole zu ihrer eigenen Existenz die Verschiedenheit des Gegenpoles fordern. Insofern ist hier die Bezogenheit vor dem aufeinander Bezogenen da, besteht nicht nur, wie überall im Leben, die Ganzheit eines Organismus vor dessen Organen, sondern die Ganzheit der Verbundenheit besteht vor dem miteinander Verbundenen. Und es bejahen und fordern einander nicht allein die Gegenpole in ihrer unausgeglichenen Verschiedenheit: im Gegensatz zu dem, dass der Weg des Begreifens zu einer Entwirklichung des Begriffenen führt, steigert Polarisierung jeden individuellen Pol in seinem An- und Für-Sich-Sein. Letzteres gilt nun völlig allgemein.

Gleichwie der Mann durch Polarisierung mit einem ihm entsprechenden Weibe männlicher wird, anstatt verweiblicht zu werden und umgekehrt, wird alle Welt, die nicht als Es, sondern als Du erlebt wird, im Spannungsfelde dieser besonderen Beziehung wirklicher, und an deren wirklicher-Werden gelangt das jeweilige Ich korrelativ dazu zu größerer Selbstverwirklichung. Denn der Weg der Polarisierung ist der Weg des schöpferischen Werdens überhaupt und alles Werden hat Selbstverwirklichung zum organischen Ziel. Darum kann man weiter sagen: insofern sich zwei lebendige Wesenheiten polarisieren, tun sie es nicht als Gegebenheiten, sondern als Möglichkeiten. In eben diesem Verstande und eben darum führt Polarisierung mit dem Ziel der Erkenntnis zum Wachstum dieser: mögliche Einsicht kommt ihrer Verwirklichung und Vollendung näher. Polarisierung zum Ziel der Erkenntnis nun gibt es allein auf der Ebene der Intuition, denn nur sie von allen Abarten des Erkenntnisvermögens geht von Ganzheit zu Ganzheit, nur ihr ist das zu Erkennende kein Gegenstand, sondern ein Du. Sie allein zergliedert nicht, sie löst nicht auf, entwirklicht nicht durch Abstraktion, tötet nicht durch Versachlichung und verrät das Einzige nicht an Allgemeines. Ihr allein unter allen Arten von Erkenntnisvermögen eignen die Eigenschaften der Liebe im Unterschied von denen des Ausnutzens. Nur sie ist desinteressiert — an diesem Punkte sieht man, wie wenig bloßes Interesse bedeutet und wie sehr jeder Wesentliches anstrebende Geist Ursache hat, sich gekränkt zu fühlen, wenn man sein Werk interessant findet: inter-esse bedeutet recht eigentlich dazwischen-Sein und das heißt nicht dabei sein; darum ist Liebe unter gar keinen Umständen interessiert. Dank der Verwandtschaft echter Intuition mit echter Liebe zeitigt nun intuitive Einstellung ähnliche Früchte wie die Polarisation sich Liebender. Macht die Liebe diese intuitiv, so kommt in jener Einstellung jene unbedingte Bejahung zum Ausdruck, welche die Voraussetzung totalen Realisierens ist. So wird das Du dem Ich desto wirklicher, je mehr es sich ihm ööffnet. Und in Wechselwirkung damit wird das Ich selber weiter und reicher, denn in der Intuition bildet sich das Intuierte dem Intuierenden ein. Das sich öffnende Ich wird damit im Spannungsfeld der Intuition anders und mehr, als es vorher war.

Wird auch die Wirklichkeit des erkannten Du dabei anders? Soweit es sich um andere Menschen handelt, sicherlich; Geliebt- und Verstandenwerden steigert den Geliebten und Verstandenen, es beschleunigt dessen Streben nach Selbstverwirklichung. Aber es ist nicht unmöglich, dass kein Du unverändert bleibt, wenn sich ein Ich mit ihm polarisiert. Von Tieren und Pflanzen gilt das zweifellos. Daher das Phänomen der Verwandlung von wilden in Haus-Tiere, daher die Möglichkeit des Zähmens überhaupt. Deutsche Mystiker künden von einem so innigen Zusammenhang zwischen Mensch und Gott, dass dieser ohne jenen kein Nu leben könne. Und die vorgeschrittenste Physik behauptet ihrerseits, dass an der Grenze des als möglich Erweisbaren das Weltgeschehen real vom Erkennen des Physikers abhänge. Auch die scheinbar subjektivsten und exklusivsten Kräfte im Menschen sind schließlich kosmische Kräfte, die Grenzen ihrer Wirksamkeit sind nirgends abzusehen und so mag das Essen vom Baum der Erkenntnis seitens unserer Ureltern nicht eigentlich diese aus dem Paradiese vertrieben, sondern letzteres als solches aufgelöst haben zugunsten eines Neuen, vorher nicht Dagewesenen. Dass als Ergebnis von Polarisierung Neues im Sinn eines von den Eltern losgelösten Kindes geboren wird, ist nämlich — wie Karl Ernst von Baer als erster richtig erkannte — nur ein Sonderausdruck des Wachstums, welch letzteres das Urphänomen ist. Wie es Geschöpfe gibt, die weder Fortpflanzung noch natürlichen Tod in unserem Sinne kennen, so kann Polarisierung grundsätzlich genau so gut zu Veränderung und Steigerung des Gegebenen wie zur Geburt eines Kindes oder eines Werkes führen. So mag das Essen Adams und Evas vom Baume der Erkenntnis, um auf deren wie kein anderes sinnträchtiges Beispiel zurückzukommen, eine reale Auseinanderlegung von bisher Verschmolzenem eingeleitet haben, welche genau so gut als Fortschritt wie als Fall begriffen werden kann. Beim Menschen ist die Unschuld jedenfalls nicht der höchste Zustand. Vielleicht war das Paradies einem Lager unreinen Erzes vergleichbar, oder einem Amalgam, vielleicht bedeutete sein Verlorengehen auch ähnliches, wie die Herauslösung des Goldes aus einem Metallgemenge durch Elektrolyse. Vielleicht gehört das Durchschauen, vom Kosmos aus geurteilt, in einen weiteren Zusammenhang von Strahlkräften hinein … Doch man insistiere nicht: die letztangeführten Möglichkeiten deutete ich nur an, um einem Festfahren der Gedanken auf noch so neuem Geleise vorzubeugen. Bleiben wir bei dem, was auf der Ebene der Erkenntnis sicher wahr ist: im Fall polarisierender Beziehung wird das jeweilige Du in der Ganzheit seines Soseins samt dessen ihm innewohnenden Möglichkeiten geschaut und verstanden, und gleichzeitig und korrelativ dazu wird sich der Schauende über sich selber klarer, indem er im Verlaufe dieses Geschehens seiner eigenen höchsterreichbaren Vollendung zureift und sich dessen bewusst wird.

Von hier aus erscheinen denn zwei Probleme, über welche sich Jahrhunderte den Kopf zerbrochen haben, im selben Augenblick gelöst, wie sie gestellt werden: das des verstandenen Fremdseelischen — für die Begriffserkenntnis ein schlechterdings unlösbares Problem — und das der Erforderlichkeit der bejahten und akzeptierten Erfahrung, des Ergriffenwerdens durch ein Außer-Sich, sofern einer der werden will, der er ist. Solange einer einen anderen Menschen als Gegenstand, als Es betrachtet und behandelt, bleibt er außerhalb seiner, er kann lediglich nach und nach äußere Ansichten von ihm aufnehmen (so wie man photo- oder kartographische Aufnahmen macht) und aus solchem Stückwerk ein künstliches Ganzes zusammenstellen; doch sogar die vollständigste Begriffskonstruktion solcher Art gelingt nie wirklich, so wie sie gemeint ist, weil der lebendige Mensch kein Mechanismus ist. Öffnet sich einer hingegen einem anderen ganz und gar und polarisiert er sich mit dessen unteilbarem Du, dann wird er unmittelbar von innen, vom eigenen Unbewussten her von dessen eigener Ganzheit in dessen hierarchischer Geordnetheit affiziert. Damit aber wird er sich des Fremden in genau gleichem Sinne bewusst, wie er sich der eigenen Ganzheit bewusst ist. Insofern der Ursachverhalt des Erkenntnisprozesses ein Haben, kein Sein ist (ich erinnere an Driesch’s klassische Formel ich habe, um mein Wissen wissend, bewusst etwas), kann einem Menschen das Fremde genau so einfallen, wie das Eigene, und so löst sich das Problem des Verstehens des Fremdseelischen, in dem es sich erledigt. Gleichsinniges nun gilt von der Erforderlichkeit des Ergriffenwerdens im Zeichen der Ergriffenheit. Betrachtet man die Welt nicht von außen her, wie dies der Verstand tun muss, lässt man sich vom Nicht-Ich real ergreifen, dann ist die eigene Vorstellung für einen selbst keine Reflexionsscheibe, die zwischen Ich und Du steht, sondern vor oder diesseits dieser findet ein direktes Ergriffenwerden statt, so dass nun die Vorstellungen, die einem einfallen, ursprünglich der fremden Wirklichkeit entsprechen. Indem man aber also die Außenwelt versteht, wird man sich, noch einmal, korrelativ dazu auch über sich selbst klar; in einem psychochemischen Prozesse befreit sich das eigene Wirkliche von Vorspiegelungen der Maya, reinigt es sich von Fremdkörpern, oder aber das Eigen-Metall wird veredelt oder eine neue und höhere chemische Verbindung aufgebaut. In dem (neben dem über die Freiheit) wohl lebenswichtigsten Kapitel des Buchs vom persönlichen Leben, dem Kapitel Leiden, verwendete ich die Begriffs-Korrespondenz Greifen — Ergriffenheit zur Versinnbildlichung dessen, dass der Mensch nur im Zeichen des Kreuzes, nicht demjenigen des Adlers, innerlich wächst. Nun besteht im Wachstum das Wesen alles schöpferischen Werdens; auch höhere Erkenntnis kommt nur auf dem Wege organischen Wachstums zustande. Kehren wir von der Thematik des Leidenskapitels zur Fragestellung dieses zurück, so können wir darum sagen: dem Adler ist alles Gegenstand, er polarisiert sich überhaupt nicht, kennt kein Du, auch sich selber realisiert er nicht, er erobert nur und herrscht durch Gewalt; denn auch Bewältigung durch Begriffe ist Vergewaltigung. Dem Kreuzes-Menschen hingegen, welchem innere Ergriffenheit das Ziel seines Erlebens ist, bedeutet alle Welt ein Du. Darum erlebt er allein sie, so wie sie wirklich und für sich ist. Und indem er ja sagt zur totalen Ergriffenheit samt allem Leiden, welches es mit sich bringt, polarisiert er sich als Ganzheit mit der Ganzheit alles ihn Ergreifenden. Und so wird er sich dieser Ganzheit in sich bewusst.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Instinkt und Intuition
© 1998- Schule des Rades
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