Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Gleichgültigkeit und Liebe

Synchronismus

In analogem Verstande gibt es unbestreitbar ganzheitliche Zeitzusammenhänge. Oft ist die Gleichzeitigkeit des Auftretens größter Geister in Ländern, zwischen denen es überhaupt keinen Verkehr gab, aufgefallen: im kleinen hat jeder in seinem zeitlich-räumlichen Lebenskreise die Realität dessen, was das Wort Zeitgeist meint, erfahren können. Von Generation zu Generation erscheinen die Menschen auf gleiche Art und in gleicher Richtung verändert, und an Wendepunkten der Geschichte umfasst gleichsinnige Veränderung Riesenräume und einander völlig fremde Völker. Im gleichen Sinneszusammenhang besteht kein Zweifel, dass nicht jederzeit jedes gelingt und dass es ausgesprochene Schicksalsstunden für bestimmte Entscheidungen und Leistungen gibt — werden diese nicht ausgenutzt oder missverstanden, dann ist eine niewiederkehrende Gelegenheit versäumt. Da nun der Erfolg immer von anderen abhängt als dem Leistenden, von diesem nur insofern, als ihm das Erforderliche einfallen muss, was auch Kairósbedingt scheint, so besteht offenbar auch hier ein dem überartlichen analoger weit um sich greifender Zusammenhang. Es ist zwar nicht so, wie Lao Tse lehrte, dass die Dinge notwendig den suchen, welcher sich zurückhält, wohl aber gilt, dass sie im rechten Augenblick auch den zu finden wissen, welcher sich verbirgt. Auch hier gilt das Schema Wenn — Dann. Die Gültigkeit der letzten Behauptung ist übrigens der experimentellen Nachprüfung fähig, und zwar auf Grund des wundersamsten Buchs, welches ich neben dem Tibetanischen Totenbuche überhaupt kenne: des alt-chinesischen Orakelbuchs I Ging (Das Buch der Wandlungen, deutsch von Richard Wilhelm, Eugen Diederichs Verlag).

Gemäß diesem Buche befindet sich jeder Einzelne in jedem Augenblick in einer einzigartigen kosmischen Situation. Ruft er nun sein Unbewusstes auf bestimmte erlernbare Weise an, dann zeigt dieses ihm an der Hand des I Ging, zu welcher nächsten kosmischen Situation sich die augenblickliche zu verwandeln Neigung hat, wobei allemal eine Spanne für freie Wahl bleibt. Mir ist noch kein Fall begegnet, in welchem der I Ging, sofern ihn ein entsprechend medial Begabter konsultierte, nicht die richtige Antwort erteilt hätte. Solche und ähnliche Zusammenhänge lassen sich mehr oder weniger bis zu den Grenzen des von uns erfahrbaren Weltalls wenn nicht nachweisen, so doch wahrscheinlich machen. C. G. Jung hat die unbestreitbaren Tatsachen, die hier in Frage kommen, durch ein synchronistisches Prinzip vorläufig zu erklären versucht. Er schreibt:

Meine Beschäftigung mit der Psychologie unbewusster Vorgänge hat mich schon vor vielen Jahren genötigt, mich nach einem anderen Erklärungsprinzip umzusehen, weil das Kausalprinzip mir ungenügend erschien, gewisse merkwürdige Erscheinungen der unbewussten Psychologie zu erklären. Ich fand nämlich zuerst, dass es psychologische Parallelerscheinungen gibt, die sich kausal schlechterdings nicht aufeinander beziehen lassen, sondern in einem anderen Geschehens­zusammenhang stehen müssen. Dieser Zusammenhang erschien mir wesentlich in der Tatsache der relativen Gleichzeitigkeit gegeben, daher der Ausdruck synchronistisch. Es scheint nämlich, als ob die Zeit nichts weniger als ein Abstraktum, sondern vielmehr ein konkretes Kontinuum sei, welches Qualitäten oder Grundbedingungen enthält, die sich in relativer Gleichzeitigkeit an verschiedenen Orten in kausal nicht zu erklärendem Parallelismus manifestieren können, wie z. B. in Fällen von gleichzeitigem Erscheinen von identischen Gedanken, Symbolen oder psychischen Zuständen. Ein anderes Beispiel wäre die von Wilhelm hervorgehobene Gleichzeitigkeit chinesischer und europäischer Stilperioden, die kausal nicht aufeinander bezogen werden können. Ein Beispiel für Synchronismus größten Formats wäre die Astrologie, wenn sie über durchgängig gesicherte Resultate verfügte. Aber es gibt doch wenigstens einige hinlänglich gesicherte und durch umfangreiche Statistiken erhärtete Tatsachen, welche die astrologische Fragestellung der philosophischen Betrachtung würdig erscheinen lassen. (Der psychologischen Würdigung ist sie ohne weiteres sicher, denn die Astrologie stellt die Summe aller psychologischen Erkenntnisse des Altertums dar.) Die tatsächlich vorhandene Möglichkeit, aus der Nativität den Charakter hinlänglich zu rekonstruieren … beruht aber keineswegs auf der wirklichen Gestirnsstellung, sondern auf einem arbiträren, rein begrifflichen Zeitsystem … also nicht auf Gestirnwirkungen, sondern auf unseren hypothetischen Zeitqualitäten, d. h. mit anderen Worten, was in diesem Zeitmoment geboren oder geschaffen wird, hat die Qualität dieses Zeitmoments.

Selbstverständlich stellt auch die Jung’sche Theorie nur eine noch sehr entfernte Annäherung an die Wahrheit dar. Möglicherweise kommt die folgende Deutung des Zusammenhangs des für verständliche Begriffe nicht Zusammenhängenden, welche P. D. Ouspensky in seinem Tertium Organum gibt, der Wahrheit näher:

Wenn zeitlich sehr weit auseinanderliegende Begebenheiten einander in der vierten Dimension berühren, so bedeutet dies, dass sie dennoch Gleichzeitigkeiten darstellen und dass die Mauern, die sie voneinander trennen, nur Illusionen unseres schwachen Verstandes sind. Die Dinge und Ereignisse sind nicht durch die Zeit, sondern durch ein inneres Band, eine innere Korrelation miteinander verknüpft. Und die Zeit kann das nicht voneinander abscheiden, was sich innerlich nahesteht und was in dieser Dimension eines aus dem anderen folgt. Gewisse Eigenschaften der Dinge zwingen uns zur Annahme, dass sie durch einen Ozean der Zeit von einander getrennt sind. Aber wir wissen, dass dieser Ozean nicht wirklich existiert, und wir beginnen jetzt zu verstehen, wie und warum die Begebenheiten eines Jahrtausends diejenigen eines anderen Jahrtausends direkt beeinflussen können.

Hätte Ouspensky recht, dann bedeutete das Sternenschema eine Projektion vierdimensionaler Wirklichkeit auf Raum und Zeit, welche darum, vom euklid­ischen Verstande her geurteilt, absurd wirken muss; was jedoch nicht zu hindern braucht, dass mittels Anwendung ihrer richtige oder praktisch brauchbare Einsichten zu gewinnen sind. Ich selber gab dem gleichen Grundzusammenhang auf der großen Tagung der Schule der Weisheit des Jahres 1923 die folgende Deutung (der betreffende Vortrag ist 1927 in Wiedergeburt unter dem Titel Weltanschauung und Lebensgestaltung veröffentlicht worden). Nachdem ich festgestellt hatte, dass die Reduktion der Seele auf ihre elementaren Anlagen und Komplexe mittels der Methoden der Tiefenpsychologie, so oft der Versuch auf Grund genügend exakter Daten gemacht wird, zu einem allgemeinen Aufriss führt, der die Nativität in erstaunlichem Grade widerspiegelt, fuhr ich fort: Es führt erfahrungsgemäß zum Gleichen, ob man zum Grundverständnis einer Seele zum Himmel auf- oder in die Untergründe jener selbst hinabschaut. Da nun die Gültigkeit der Ergebnisse analytischer Zurückführung komplexer Seelenzustände auf Kombinationen von Elementartrieben garnicht in Frage steht, so muss auch das Himmelsschema, so absurd es dem Verstande scheine und so sinnwidrig es ist, dasselbe wortwörtlich zu nehmen, auf seine Art wirkliche Verhältnisse ausdrücken. Von hier aus darf denn eine erste Deutung des fraglichen Zusammenhangs versucht werden, welche freilich keinen Anspruch weder auf Vollständigkeit noch auf wissenschaftliche Exaktheit erhebt. Die Unerklärlichkeit des Tatbestandes selbst gibt überhaupt kein besonderes Rätsel auf: alle Qualität ist ein Irrationales, und nur Rationales kann Verstand begreifen; die Eigenschaften der chemischen Elemente sind ein genau so Unzurückführbares und folglich Unerklärliches, wie die angeblichen Tugenden der Planeten. Problem kann einzig sein, wie sich der unerklärliche kosmobiologische Tatbestand, sofern ein solcher vorliegt, zum ebenso Unerklärlichen des sonstigen Soseins der Natur verhält. Zu diesem nun bietet den Schlüssel der Erfahrungssatz, dass Charakter- und Schicksalsaufrisse, gemäß den Regeln uralter Überlieferung gezeichnet, zutreffen, sofern entsprechend Begabte deren Urheber sind.

Die überlieferten Regeln bewähren sich in der Hand dessen allein, welcher sie anzuwenden weiß. Es liegt also der Nachdruck auf der kosmischen Verbundenheit des Deuters, welcher aus ihr heraus ein an sich vielleicht absurdes, aber in der Praxis bewährtes Bezugssystem benutzen kann. Aber liegen die Dinge mutatis mutandis nicht bei jedem Lebensvorgang ähnlich? Überall verläuft Sinnesverwirklichung von innen nach außen zu, überall muss diese sich, wo sie zur Schöpfung führt, an die Grammatik und Syntax des Weltalphabetes halten. So verlaufen wohl alle organischen Prozesse bestimmten Gesetzen gemäß, aber zu jenen kommt es nur dort, wo bestimmtes Leben sie hervorruft und lenkt. So verkörpert sich dichterisches Schaffen wohl allemal in typischer Rhythmik, doch aus der bloßen Kenntnis von deren Gesetzen ging noch nie eine Dichtung hervor. Insofern gibt das besondere Problem möglichen Herauslesens des Einzelschicksals aus einer Projektion auf den Weltraum überhaupt kein neues oder gar unerhörtes Rätsel auf. Wohl aber erlaubt es, das allgemeine Problem des Zusammenhangs von Notwendigkeit und Freiheit, des Menschenlebens Grundproblem, tiefer zu verstehen, als von irgend einem anderen Ansatz-Punkte möglich erscheint. Wenn aus Himmelsdaten nichts zu entnehmen ist, was nicht in der Seele selbst enthalten wäre, der Ansatzpunkt der Kosmobiologie aber ein außermenschlicher, eben ein kosmischer ist, dann muss die folgende Begriffsfassung des ganzen Zusammenhangs dessen Sinn grundsätzlich gerecht werden. Weltall und Mensch stellen in jedem Augenblick eine einheitliche kosmische Situation dar. Der frei-wollende Mensch ist als solcher zugleich Ausdruck kosmischen Werdens; er ist in jedem Augenblick Erfüller und Urheber zugleich. Was die Frühzeit nach der Abhängigkeit vom Weltraum zu missdeutete, und die jüngst verflossene Epoche zum besten menschlicher Willkür, stellt also in Wahrheit eine unauflösliche Synthese dar1.

1 Diesem ganzen Problemkreise habe ich Jahre der Forschung und des Wirkens gewidmet, deren Ergebnisse vor allem in den Kapiteln Blut, Schicksal, Gana, Delicadeza und Emotionale Ordnung der Südamerikanische Meditationen sowie den Kapiteln Der Urzusammenhang der Menschen, Seele, Weltfrömmigkeit und Leiden des Buchs vom persönlichen Leben niedergelegt stehen.
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Gleichgültigkeit und Liebe
© 1998- Schule des Rades
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