Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der substantielle Geist

Teilhabe am Göttlichen

Dieses Zeitalter begann unter dem Zeichen der Spiritualität im Unterschied von der spätantiken Intellektualität. Spiritualität — das der Antike unbekannte Wort kam irgendwann in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung auf — bedeutete damals Teilhabe am Göttlichen unabhängig von allem Verstehen und aller geistigen Begabung. Aus der gleichen Gegensatzstellung zur überlieferten Höchstschätzung des Nous wurde damals der Nachdruck einerseits auf den Glauben gelegt, als die bestimmtes Sein behauptende, nicht zergliedernde, nicht vergleichende und relativierende geistige Funktion im Menschen, und andererseits auf die Liebe, als die das Einzige im Gegensatz zum Allgemeinen bejahende vollendet irrationale Funktion, die aber gleichzeitig universale Verbundenheit schafft. Darum wurde nicht Weisheit, sondern Heiligkeit der durch den Christus-Impuls verjüngten Menschen ideales Ziel. — Ob das Wort Spiritualität zum Panier neuer Vergeistigung werden kann, bezweifle ich; die Lage ist eine zu neuartige, als dass die Übernahme eines Begriffs aus anderer Zuständlichkeit nicht mehr verwirrend als klärend wirken könnte. Aber zweifellos muss der Geist auch im Zeitalter des neuen Konkretismus, welches im 20. Jahrhundert begonnen hat, in Gegensatzstellung zur bisher herrschenden Intellektualität, welche in Geistfeindschaft einmündet, fundiert werden. Eben das haben wir in unserer ganzen bisherigen Untersuchung zu leisten unternommen. Schreiten wir nun auf den betretenen Wegen fort, so liegt uns als nächstes ob, den Maßstab festzustellen, an welchem der Grad der Teilhabe am Geist gemessen werden kann. Da müssen wir denn zunächst den großen Gründern des Christentums recht geben: der Grad der Geistigkeit ist, dem frühchristlichen Schema gemäß, nicht der Höhe sogenannter geistiger Begabung proportional: dafür steht er in direktem Verhältnis zur realen Durchgeistung eines Menschen, wie immer dieser empirisch beschaffen sei. Hier nun aber gelangen wir als nächste Etappe zu keiner Entscheidung zugunsten der christlichen Entwicklungslinie allein: wir gelangen zu ehrfurchtsvoll-staunender Anerkennung der in ihrer Art unerreichten Geistigkeit der Antike.

Die antike Geistigkeit war, im Unterschied von der christlichen und auch von der indischen, eine aufs Endliche, aufs Erfüllen gerichtete, und darum führte sie zu so nie wieder erreichter Schönheit. Sie stellte den Geist vollkommen verkörpert vor. Das Urbild des verkörperten Geistes war der Heros mehr noch als der Gott. Der Heros kannte keine Demut, kein Aufsehen zu Höherem; stolz und mächtig strahlte er seine Vollkommenheit aus. Noch der späte Cicero meinte, darauf könne wohl keiner kommen, seine Tugend anderen Mächten als sich selber zuzuschreiben. Der Heros beschied sich ganz bei sich selbst. In keinerlei Jenseits war er verankert, ihm genügte die Verkörpertheit des Geistes in sich als letzte Instanz. Und als Geisteskörper genoß er auch Verehrung seitens der anderen. Daraus ergab sich am Schlusse dieses Zeitalters als Selbstverständlichkeit die Verehrung des Divus-Augustus, des Kaisers als Gottes. Solche kann bei größter geistiger Aufgeklärtheit bestehen, wie wir es heute wiederum beim japanischen Kaiserkult erfahren, welcher sonst freilich andere Wurzeln als der römische hat; alles kommt darauf an, worauf bei der Vorstellung vom Geiste der Akzent ruht. Liegt dieser in Japan auf dem personifizierten Sinnbild der ewigen Volksgemeinschaft, so lag er in der Antike auf der Einsamkeit und Einmaligkeit konkreten Heroentums. Darum stellte die Antike den Heros und damit auch den Gott wesentlich tragisch vor. An dieser Stelle bringt es der Erkenntnis Gewinn, die christliche Vorstellung vom Fleischgewordensein des Worts auf ihre antik-heidnischen Wurzeln zurückzuführen. Das Ideal als solches übernahm das sich fortentwickelnde Christentum nämlich von der Antike. Auch der Erlöserbegriff war ihr entlehnt: es steht wissenschaftlich fest, dass der Titel eines Erlösers gerade im christlichen Verstande nicht nur früher als Jesus dem Caesar Augustus zuerkannt wurde — dem Begriff eines jüdischen Messias entsprach dieser, was immer Theologie konstruiere, nie — sondern dass schon Plato denselben verwandt hatte. Soter hieß dieser den mit allen Tugenden ausgestatteten Idealherrscher, und schon er leitete aus dessen Idee die des göttlichen Ursprungs der Monarchie her, welche bis zum Ende des ersten Weltkriegs im Gottesgnadentum der europäischen Kaiser und Könige leise fortwirkte. Aber der in Christus fleischgewordene Geist war andererseits ein Geist anderer Art, als der antike Gott, er war ein indischer Vorstellung nahe verwandtes Transzendentes. Darum verschmolzen Geist und Fleisch in Christus nie im gleichen Sinne, wie im antiken Gott und Heros. Sogar Jesus stand im Sohnesverhältnis zu dem, mit dem er andererseits eins war. Und dieses Einssein bedeutete letztlich Gottoffenheit, welche erst recht als Einstellung des Christusgläubigen gefordert wurde. Demgegenüber waren beim antiken Gott und Gottmenschen Form und Sinn ebensowenig zu trennen, wie beim großen Kunstwerk. Der antike Geistverkörperer war ein in sich vollkommen Abgeschlossenes.

Gerade das Abgeschlossene, das Einmalige des antiken Heros nun bietet das beste Sinnbild zum Verständnis des Fleischwerdens des Wortes, gerade dieses vermittelt am schnellsten lebendig-verstehende Einsicht in das Sein und Dasein eines konkreten und substantiellen Geistes überhaupt, unabhängig von aller theoretischen Konstruktion. Der Antike war der Heros der Leuchtende, der Strahlende; seine auctoritas in jenem römischen Verstand, deren Begriff auf die einmalige Persönlichkeit des Augustus hin gebildet wurde, war als alle übrige Ordnung durchdringende und dieser überlegene Strahlkraft anerkannt; darum war es möglich, bei Einführung des Prinzipats die erforderlichen grundlegenden Neuerungen ohne Zerstörung der alten Ordnung durchzuführen. Die Strahlkraft der kaiserlichen majestas ließ deren Träger allen anderen Menschen seinsmäßig überlegen erscheinen. Und hier handelt es sich ursprünglich um keine Strahlkraft, welche der Würde, wie sie Primitive vorstellen, als solcher innewohnte, sondern um in einem bestimmten einmaligen Menschen fleischgewordene übermenschliche Kraft. Gedenken wir von hier aus jener Mana-Kraft, deren Vorstellung an sich primitiv-magischer Zuständlichkeit zugehört, die aber dank den vergleichenden Forschungen der Tiefenpsychologie und deren Sprachgebrauch uns Heutigen erneut verständlich geworden ist. Vom großen Manne, vom Häuptling, vom Zauberer und schon gar vom Gotte wird behauptet, dass er im Gegensatz zu anderen, oder doch mehr als andere Mana hat; dank ihr ist er der Naturordnung überlegen, kann er selbstverständlich zaubern, Wunder wirken. Nun, Mana ist nichts anderes, als verkörperter Geist auf der Stufe sonstiger beinahe totaler Naturverwobenheit; Mana kann schon erlebt werden, wo sich noch kein bewusstes Ich herausdifferenziert hat. Beim antiken Heros und zuletzt im Divus Augustus äußert gleiche Kraft sich auf der Stufe der einmaligen abgeschlossenen Persönlichkeit. Hier erscheint sie strikt personal, d. h. an die Einzigkeit einer Person gebunden. Und da diese als nach allen Richtungen geschlossen vor- und dargestellt wird, erscheint sie, noch einmal, durchgeistigt wie ein vollkommenes, von einem größten Meister geschaffenes Erzbild.

An diesem Bilde und Beispiel wird, so scheint mir, auf dem Hintergrunde des früher Ausgeführten am besten deutlich, dass Geist seinem Wesen nach Sein ist, kein Können, keine Funktion. Von hier aus verstehen wir die garnicht zu bestreitende Erfahrungstatsache, dass in aller Geschichte vom Sein her alle Entscheidung gefallen ist. Das Niveau der jeweiligen Seinsstufe, wie ich mich meist in diesem Zusammenhang ausgedrückt habe, ist es, auf das es bei seiner Wirkung ankommt; die Distanz zwischen Hoch und Niedrig als solche ist schöpferisch, heranziehend, abgrenzend und bannend. Die Distanz von Niveau zu Niveau schafft die reale Hierarchie der Werte. Umgekehrt kann geistiger Wert auf der Ebene des Lebens und des Seins überhaupt nicht bestimmend werden, wo der Primat von Niveau und entsprechender Distanz nicht anerkannt wird. Wird er nun aber anerkannt, dann bedarf es überhaupt keines Tun, um höheres Sein auszuwirken. Der Kaiser Shun saß nur da, sein Antlitz gen Süden gewandt, und es herrschte vollkommene Harmonie. Die gleiche chinesische Weisheit lehrt: Herrscht ein ganz Großer, dann weiß das Volk gerade nur, dass er da ist. In unserem Kulturkreis brauchte der Heilige nichts zu tun, um Segen zu bringen. In Japan genügte bis jetzt die Polarisierung der Nation mit dem nicht selber regierenden göttlichen Kaiser, damit jene Unwahrscheinliches leiste. Man gedenke nur dieses einen: als bisher einziges Volk hat sich das japanische von der Maschine nicht unterwerfen lassen, sondern sich ihr überlegen erwiesen. Dort erscheint im 20. Jahrhundert modernstes Können auf urtümliches geistbestimmtes Sein zurückbezogen. Das Niveau nun ist seinerseits Exponent des besonderen Orts im Geisteskosmos, welchen ein Geist einnimmt. Da lässt sich denn eine besondere Beziehung zwischen Intensität und Ausdehnung feststellen, die ich 1920 in einem seither in Schöpferische Erkenntnis aufgenommenen und dort als ersten der Reihe abgedruckten Vortrag in der besonderen Hinsicht auf mögliche Sinneserfassung in erster andeutender Annäherung folgendermaßen bestimmte:

Die Erscheinungen sind nur die Buchstaben der Welt. Wie der Erfinder von einem unsichtbaren Plane ausgeht, der sich dann langsam materialisiert, genau so liegen Geistes-Potenzen und -Prinzipien überall dem Leben zu Grunde. Von außen sind diese nicht zu fassen. Keine Buchstabenschrift als solche enthält ihren inneren Sinn. Doch wer zum Sinn für sich den Zutritt fand, entdeckt, dass gleichwie alle äußeren Erscheinungen irgendwie zusammenhängen, so auch ein Kontakt zwischen allen Geisteswelten besteht. Deswegen müssen Menschen en rapport sein, um einander zu verstehen; deshalb genügt dieser innerliche Zusammenhang zur Verständigung, wo jede äußere Möglichkeit zu solcher fehlt. Sinneserfassung ist ein Urphänomen, ein a priori, unabhängig von den Vermittelungen, die sie benutzt. Grundsätzlich stellt sich also nicht die Frage, wie verstehe ich überhaupt, sondern wie tief verstehe ich die Welt? Jeder Sinneszusammenhang lässt sich auf tiefere zurückführen. So mag es fortgehen bis zur Unendlichkeit. Hieraus ergibt sich nun eine weitere Erkenntnis, welche ich hier, zum Schluss, nur andeuten kann. Das metaphysische Verstehen bedeutet dem empirischen gegenüber lediglich ein Tieferverstehen; die Welt religiösen Sinnes bezeichnet keine andere, sondern eine tiefere Geisteswelt. Somit träfe zu, was Otto Flake sagt: die Welt ist ein konzentrisches Phänomen. Nun fragt es sich: wie gelange ich dazu, tiefer zu verstehen? Da gibt es nur den einen Weg: die Bewusstseinslage zu verändern. Je tiefer man in sich selber eindringt, immer tiefere Sinneszusammenhänge, welche wiederum tiefere Lebenskräfte beseelen, seinem Bewusstsein einverleibend, desto weiter wird der Weltumfang, mit welchem man in geistige Berührung kommt. Wer bis zum innersten Grunde seiner selbst vordränge, der durchschaute zugleich die gesamte empirische Wirklichkeit. Der wäre hinaus über Morgenland und Abendland, über den Unterschied von Metaphysik und Empirie: ein Zusammenhang, in seinem Selbst zentriert, umspannte, sinnvoll gegliedert, die ganze Welt.

Diese Ausführung bedeutet natürlich nur eine erste kurze Skizze dessen, was ich heute sagen könnte; aber wer die Ausführungen über Ursprünglichkeit und Primitivität in diesem Buche richtig verstand, wird auch verstehen, dass ich an dieser Stelle lieber eine erste Skizze als eine Endgestalt hinsehe.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der substantielle Geist
© 1998- Schule des Rades
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