Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der substantielle Geist

Selbstverwirklichung

An diesem Punkte angelangt, sind wir in der Lage, auch andere Äußerungen des erdverhafteten Menschen als solche seines geistigen Wesens und nur dieses zu erkennen. Führen wir den Mut auf seine abstrakte Essenz zurück, so besteht diese in der Entschlusskraft als der Fähigkeit, sich von innen heraus unter Hintansetzung aller äußerlichen Motive und unter Überwindung aller Gegebenheit zu entscheiden. Jede echte Entscheidung steht und fällt mit Selbstüberwindung, denn nahe liegt dem Menschen nur dies, sich dem natürlichen Gefälle des Werdens hinzugeben und damit persönlicher Verantwortung auszuweichen. Und jede echte Entscheidung, will sagen jede, welche wirklich von innen heraus vom tiefsten einsamen Selbste her gefällt wurde, für welche der Mensch damit allein alle Verantwortung übernahm, ist damit ein Ausdruck seines geistigen Wesens. Denn dieses Wesen ist, vom Selbstbewusstsein her geurteilt, allemal Einzigkeit und seine Erscheinung ist allemal einmalig. Kein Mensch ist mit einem anderen identisch, jeder muss sein Leben für sich leben, jedes ist unwiederholbar, nichts kann ihm abgenommen werden und keine Entscheidung ist rückgängig zu machen. Wird eine Entscheidung von außen her rückgängig gemacht, z. B. durch Entbindung von einem Eid, so entlastet diese Zurücknahme doch nie das eigene tiefste Wesen. Die Urform der Entscheidung nun auf dem Gebiet, welches heutige Menschen unwillkürlich geistig heißen, ist der Glaube. Diesen hießen wir im vorvorigen Kapitel geronnene Intuition und vom Erkenntnisstandpunkt steht diese freilich über jenem. Doch hier ist es uns um das positive und wirkende Sein des Geists zu tun, — nicht darum, was dieser aufnimmt und spiegelt. Und da steht der Glaube über jeder Form von Erkenntnis als Theorie, denn er bedeutet unbedingte Selbstbehauptung der Wirklichkeit des Geistes. Indem dieser an sich vielleicht Absurdes ehrlich und fest behauptet, behauptet er sein geistiges Eigen-Sein, und dieses strahlt auf alle Fälle durch den Glauben hindurch aus, wie immer es mit dessen Wahrheitsgehalt bestellt sei. Hier, am Glauben, ist das Sonderliche der Eigenwirklichkeit des Geists vielleicht am leichtesten von anderen Wirklichkeiten zu unterscheiden; indem Glaube das Geglaubte setzt, stellt er geistig-Wirkliches in die Welt hinein, welches sich nunmehr seinen eigenen Normen gemäß auswirkt, ganz unbekümmert darum, wie sich andere Wirklichkeiten dazu verhalten und stellen. Daher all die Wunder, welche der Glaube schafft, vom Berge-Versetzen bis zum Vertrauen, welches Vertrauen schafft und dem Glauben an sich selbst, welches den Glauben anderer bannt und damit einen bestimmten Geist unter Umständen zur historischen Großmacht erhebt. Sieht man nun genau zu, so ist der letzte Halt aller menschlichen Zwischenreiche ein bestimmter Glaube; kaum vergeht dieser, so zerstäubt die ganze von ihm gehaltene Welt der Gestaltungen.

Von hier aus wird, scheint mir, vollkommen klar ersichtlich, warum der Weg der Erkenntnis, so wie wir Abendländer das Wort bisher verstanden, überhaupt keinen Weg zur Vergeistigung darstellt — wie denn die Erfahrung der letzten Jahrhunderte unzweideutig beweist, dass wir tatsächlich von Forschungsergebnis zu Forschungsergebnis ungeistiger geworden sind. Herausgestellte noch so richtige Erkenntnis verwandelt nicht; außer sich, unabhängig von der persönlichen Einstellung erkannte Wahrheit führt nicht zur Wahrhaftigkeit, dem persönlichen und metaphysisch einzig wesentlichen Aspekt des Wahrheitsstrebens. Es ist letztlich eben einerlei, was die Menschen denken und was sie wissen: einzig darauf kommt es bei der Vergeistigung an, wie die Einsicht das Sein beeinflusst. Darum zählt spirituell auch auf dem Wege der Erkenntnis nur die Praxis, genau wie bei der antiken Kulthandlung; nur dass diese Praxis auf der heute erreichten Wachheitsstufe verstehend-bewusst als Weg zum Ziele auszuüben ist. Eine vorausgesetzte Wahrheit muss nicht zerdacht, sie muss meditiert werden, auf dass sie spirituell bedeutsam werde, denn so allein ergreift sie den Menschen innerlich. Zum gleichen Ende kann und muss sie bei bestimmter Psychologie geglaubt werden. Die aus der Liebe erwachsene Einsicht und damit jene selbst muss kultiviert werden. Endlich und vor allem: das Erkenntnisstreben hat Streben nach Ausdruck, und zwar nach Ausdruck des eigenen, bisher verschütteten tiefsten Inneren zu sein; sonst führt es nur zur Herausstellung das Leben beengender Künstlichkeiten oder zur Schaffung eines neuen unverbindlichen Zwischenreichs.

Doch wir brauchen uns jetzt nicht mehr damit zu befassen, was substantieller Geist nicht ist: wir können zu seiner positiven Bestimmung fortschreiten, soweit solche im Falle dessen, was in einer Hinsicht Voraussetzung alles Bestimmens ist, überhaupt gelingen kann. Geist ist unzweifelhaft der Kern des Menschen, auf welchen sich das Selbstbewusstsein letztlich bezieht; er ist dasjenige, was entscheidet, verantwortet, liebt und glaubt, sich opfert, oder polar dazu hinnimmt, erleidet und schaut. In ihm liegt der Ursprung des Menschen dem nicht-Irdischen zu, unmittelbar aus ihm quillt und erwächst alles Ursprüngliche im Unterschied vom Künstlichen und Zwischenreichlichen. Der Geist ist auf seiner Ebene ein ebenso Konkretes wie das natürliche Leben. Sehen wir nun ganz genau hin, dann entdecken wir, dass auch für den Geist das allgemeine Lebensgesetz der Entsprechung gilt. Die Phänomenologie seines in-die-Erscheinung-Tretens ist derjenigen des körperlichen Lebens analog. Auch neuer Geist ist in der Erscheinung überhaupt nicht nachzuweisen, bevor er geboren ward. Er ist zuerst verborgener winziger Keim, dann langsam durch viele Phasen sich entfaltender Embryo, wenn nicht gar durch das Absonderliche seiner Gestaltung irreführende Larve. Und nur wer zu durchschauender Sinneserfassung befähigt ist, wird seiner, bevor er einigermaßen ausgestaltet ist, überhaupt gewahr. Was ich hier sage, kann jeder an jedem überhaupt geistteilhaftigen Kinde auf seinem Wege zur Erwachsenheit und bei jedem Künstler auf dem Wege seines Reifens persönlich als zutreffend feststellen. Wird der Geist erstmalig bewusst oder tritt er sonst irgendwie zum ersten Male in Erscheinung, so ist er winzig klein und schwach und bedarf der Obhut, des Schutzes vor fremden Einflüssen, der Pflege. Er stellt sich dar und benimmt sich wie das Kind des empirischen Menschen. Zu dessen Betreuung und Erziehung nun gibt es durch Jahrtausende bewährte Wege: es sind die von aller Asketik, allem Yoga, auf frühen Stufen von aller religiösen Observanz gelehrten und gewiesenen. Diese Wege sind allesamt solche der Praxis und nicht der Theorie. Sie entsprechen mit anderer Zielsetzung genau dem, was auf dem Wege künstlerischen Schaffens zu geschehen hat, um zu vollendetem Ausdruck zu gelangen. Auch hier handelt es sich, vom personalen Geiste her geurteilt, um ethische, nicht um ästhetische Normen. Es handelt sich um Wege des Übens. Ohne Übung und zwar ohne Üben in bestimmter Richtung geht es keinesfalls.

Hieraus folgt denn das folgende Entscheidende: Jene innerst subjektive Wesenheit, welche der Begriff des Geistes intendiert, besitzt eigene konkrete Attribute. Aber diese können sich entfalten — oder auch nicht. Was die erdhaften Eigenschaften des Menschen betrifft, die materiellen und die psychologischen, so hat die Natur für deren Entwicklung vorgesorgt. Nicht jedoch im Fall der spirituellen. Hier gilt im höchsten Grade gleiches wie schon im Falle ethischer Formung: die gewollte Form und Ordnung des Lebens muss durch den freien Willen des Menschen verwirklicht werden; von selbst gestaltet sie sich nicht. Dieser Teil des Menschen ist nicht nur so nebenbei und in geringfügigem Maße, sondern wesentlich und unbedingt frei; man erinnere sich des zweiten Schächers am Kreuz, dem selbst der Heiland des Paradieses Pforten nicht auftun konnte, weil jener ihm sein Herz nicht aufschließen wollte. Hier vermögen nur freie Wahl oder Initiative oder Zustimmung das zu erreichen, was Notwendigkeit auf der Ebene der Natur erzielt. Hier umschreibt sonach die Form oder Kategorie der Freiheit den natürlichen Entwicklungsgang. Diese Freiheit und nichts anderes ist es, welche das Soll aller religiösen und ethischen Gebote meint. Nur kann ohne dogmatisches Vorurteil weder von einem Soll noch auch von Geboten die Rede sein. Hätte Gott der Allmächtige tatsächlich geboten, dass Bestimmtes geschehen soll, dann würde es allgemein geschehen; beruht andererseits Wesen wie Wert einer Handlung auf Wahlfreiheit, dann fehlt dem Wort Gebot der Sinn. In Wahrheit und nachweislicher Weise sind die ewigen spirituellen Werte, welche jeder in seiner tiefsten Seele anerkennt, in ihrer Gültigkeit dadurch bedingt, dass das spirituelle Wesen des Menschen bestimmte konkrete Eigenschaften besitzt, die sich entfalten können oder auch nicht. Sie sind die Exponenten der Gesetze seines inneren Wachstums. In erster Instanz kann man hier sagen: der Mensch möchte gut, liebend, wahrhaftig, mutig, gläubig usw. sein, weil er nur dann seine eigene spirituelle Natur sinngerecht auswirkt; dieses Wachstum ist letztes Ziel, das Ziel an sich. Dann aber kann man folgendermaßen näher präzisieren: der Mensch tut das Gute, um besser zu werden; er strebt nach Schönheit, um sich selbst vollkommen auszudrücken; nach Wahrheit, um sein tiefst-Wirkliches von aller Unwirklichkeit zu befreien und ihr damit volle Entfaltung zu ermöglichen. Dank dieser Präzisierung wird der Sinn dessen vollkommen verständlich, was wir im Kapitel Religion und Psychologie der Betrachtungen der Stille also formulierten: das Selbst verwirklicht sich von innerer Entscheidung zu innerer Entscheidung, von getragener Verantwortung zu getragener Verantwortung, von Opfer zu Opfer. Überall hier handelt es sich um das Einbilden einer Wirklichkeit in die Natur, die ursprünglich nicht in ihr liegt, die aber eben mittels solcher Entscheidungen in ihr verkörpert wird. Die geistige Wirklichkeit dem Natürlichen einzubilden, ist nun des Menschen allerernsteste Angelegenheit. Leitsterne auf dem Wege dahin bedeuten alle Ideale, Vorwegnahmen des erreichten Zieles alle Eschatologien. Der Mensch ist überall letztlich auf Selbstverwirklichung aus, wo er sich nicht dem Gegen-Geist verschreibt und damit absolute Selbstzerstörung anstrebt.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der substantielle Geist
© 1998- Schule des Rades
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