Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Das Zwischenreich

Unlösbarer Konflikt

Wie soll nun aber ein ursprünglicher und echter Mensch nicht zunächst in Verzweiflung geraten, wenn ihm ganz klar wird, in welchem Zustand die zufriedenen Zwischenreichsbewohner leben? Bekannt ist die Konventionsfeindschaft der Künstlernaturen. Aber wenn diese sich aus Temperamentsgründen und auch solchen der Ungefährdetheit mehr gehen lassen als andere, so ist die Zwischenreichsfeindschaft des metaphysisch Bewussten in Wahrheit ganz anders stark und radikal. Wie leben denn die allermeisten Menschen? Es gibt nicht eine Lebensform, welche, wörtlich verstanden — und eben so verstehen sie die aufrichtigen und ehrlichen Konventionalisten — nicht Lüge und zwar feige Lüge wäre. Es ist ganz unmöglich für einen Menschen durchschnittlicher Begabung von für heute normaler geistiger Bildung, die meisten Konventionen der Kirche nicht zu durchschauen. Es ist ohne vermeidbare Selbstbelügung zu glauben ausgeschlossen, dass ein Priester einem wirklich seine Sünden vergeben könne, weil ja nicht der Priester vergäbe, sondern Gott durch ihn; insgleichen, dass Beichte bereits Vergebung bedeutet, wo diese doch nur durch umwälzende Reue zustande kommen kann. Kein nicht Minderbegabter, welcher nicht überdies feige ist, kann sich heute ehrlich einbilden, dass irgendeine wissenschaftliche Erklärung irgendetwas erklärt. Es ist ganz ausgeschlossen, ohne sehr tiefe Verlogenheit sich selbst gegenüber nicht einzusehen, dass dieses Leben wesentlich tragisch und dass das Böse mächtiger als das Gute ist. Ebenso unmöglich ist es, ehrlich zu glauben, wenn einem an Behaglichkeit nicht mehr liegt als an Wahrheit, dass Recht als solches schon gerecht sei, Legalität rechtfertige oder umgekehrt Rechtswidrigkeit ipso facto moralisch Schlechtes bedeute. Es ist schon bei unterdurchschnittlicher Begabung ausgeschlossen, nicht einzusehen, dass fast der ganze Verkehr zwischen Menschen auf einer Ebene hohler Formeln vor sich geht, von denen keine wirklich meint, was sie sagt. Ein Amerikaner erklärte mir einmal, das Gebet bedeute gegenüber Gott dasselbe, wie unter Menschen eine kaufmännische Transaktion: beiden Teilen müsse ihr vernünftiges Teil gesichert werden. Ein Unterhandeln solcher Art bedeutet jedenfalls beinahe der gesamte Umgang der Menschen miteinander, bei welchen unter den Formen der Liebe oder des Desinteressements oder der Rücksicht in der überwältigenden Mehrheit aller Fälle allerrealste materielle Zwecke verfolgt werden. Es ist unmöglich, ehrlich zu glauben, dass ein Amt anderes als eine konventionelle Fiktion ist und dass wem Gott ein Amt gab, er auch den Verstand dazu schenkte. Kein Amt war jemals von Gott. Wem die Gabe des Durchschauens eignet, der bewegt sich bewusst zeitlebens unter Larven, und bei nur ganz wenigen unter diesen ist die persona im römischen Sinne zugleich eine ursprüngliche Persönlichkeit. Die Beispiele ließen sich soweit mehren, bis dass die Gesamtheit des Zwischenreichs katalogisiert wäre.

Aber so denkt und fühlt für sich nicht nur der Durchschauende: in seiner innersten verschwiegensten Tiefe weiß dies jedermann. Und nicht nur wenn er für sich allein ist — schon in der Intimität erkennt er das Leben als ein Gewirr von Widersprüchen, Konflikten, von dem, was sein, und der Überzahl dessen, was nicht sein sollte. Insofern — aber auch nur insofern ist das Menschenleben wirklich Kampf. Äußerlich und nach außen zu braucht es durchaus nicht Kampf zu sein. Was den einsamen Einzigen für sich betrifft, so hat Ortega recht, wenn er behauptet, der Mensch kämpfe in Wahrheit garnicht mit der Welt, sondern mit seiner Bestimmung und um sie. Und aus diesem Zusammenhang bezeichnet er das Leben auf Andere hin gegenüber dem Leben für sich, dem ensimismamiento, in geistvollem Wortspiel als alteraciòn — alterieren bedeutet auch verderben. Was jedoch den Lebenskampf im üblichen Verstande betrifft: nicht allein innerhalb gebildeter Gesellschaft ist normalerweise aller Konfliktstoff soweit neutralisiert, dass das Kampfmotiv keine bewusste Rolle spielt, auch auf internationalem Gebiete hat es oft genug Entsprechendes gegeben. Im Zwischenreiche kommt auf die Voraussetzungen alles an. Gilt das Leben als Kampf und Krieg nicht als Notwendigkeit, dann kommt es so selten zu Kämpfen, wie auf dem Gebiet der Gesundheit zu seltenen Krankheiten. In der Urzeit gab es mehrfach pazifistische Riesenreiche, und wäre das kriegerische Europa nicht brutal dazwischengefahren, China hätte bis heute eines bleiben können. In seinem tiefsten Inneren aber fühlt sich jeder Aufrichtige als Mensch im Widerspruch. Er weiß, dass die Lebensgleichung, auf deren Ansatz hin er sein Zwischenreichsdasein führt, nicht wirklich aufgeht. Er weiß, dass es mit ihm nicht stimmt. Daher denn all die Theologien, Kosmologien, Philosophien, Ethiken, Belohnungs- und Strafsysteme, welche nach- und nebeneinander die Menschenwelt geziert oder verunziert haben. Letztlich strebt jeder Mensch über das Zwischenreich hinaus. In diesem weiten Verstande ist schlechthin jeder Mensch Eschatolog. Er sehnt sich danach, in der Sprache der christlichen Eschatologie, eine neue Erde und einen neuen Himmel zu errichten oder errichtet zu erleben.

Aber: wo kein noch so schwindelhaftes Humanitätsideal gilt, da erwacht die Bestie. Schränken keinerlei Ehrbegriffe den Aggressionstrieb ein, dann wird das Menschenleben zu gegenseitigem Abschlachten. Gilt kein noch so ungerechtes Recht, dann will jeder jeden anderen überwältigen oder übervorteilen, und das Ergebnis ist Chaos. Gelten im Verkehr keine noch so verlogenen Formen der Höflichkeit, so ist Schönheit auf Erden unverwirklichbar. Gibt es keine konventionellen Formen der Distanzierung, dann gedeiht die Ehrfurcht nicht und Höherentwicklung wird unmöglich. Konfuzius verstand unter Moralität gebildete Natur: sogar die Herrschaft reiner Künstlichkeit kann eine höhere Annäherung an ein menschenwürdiges Dasein schaffen, als ein Freigewährenlassen der Naturtriebe. Gäbe es keine durch viele Generationen hindurch festgehaltene noch so verlogene Konvention, es wäre keinerlei Überlieferung möglich. So müssen wir dieses Kapitel abschließen mit der Feststellung eines auf der Grundlage unserer bisherigen Erkenntnisse unlösbaren Konflikts.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Das Zwischenreich
© 1998- Schule des Rades
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