Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Das Zwischenreich
Rechtsnormen und Rechtssysteme
Von dem Aussichtspunkte aus, den wir zuletzt erstiegen, gelangen wir zur deutlichsten Überschau des Gesamtcharakters des Zwischenreichs im Unterschied von der Natur und der Welt des Geistes. Das Sosein jedes bestimmten Zwischenreiches hängt ursprünglich immer und ganz, auf jedem Stadium aber erneut auch von der Freiheit ab. Ich sage auch
, denn das Zwischenreich, in welches sie hineingeboren wurden und welches ihr Unbewusstes formte, bindet die Allermeisten so fest, dass ihre faktische Freiheit sehr gering ist: um sich vom Überkommenen zu befreien, müssen sie gegen sich selber revoltieren, wie ein schwacher Einzelner gegen eine festgefügte Gesellschaftsordnung. Immerhin gilt grundsätzlich dies: Gewiss wird jeder Einzelne genau so in bestimmte Konventionen hineingeboren, wie in einen bestimmt gearteten Leib. Aber während er diesen zeitlebens hinnehmen muss, so steht es ihm auf der Ebene des Zwischenreiches frei, die Voraussetzungen, die es von anderen abgrenzen, anzuerkennen oder nicht anzuerkennen und innerhalb des von ihnen abgesteckten Rahmens auf dieses oder jenes Objektivierte den Hauptakzent zu legen, bei diesem oder jenem stehen zu bleiben oder darüber hinauszugehen und damit sein bestimmtes Zwischenreich zu erweitern oder sonst zu verändern. Hier finden wir am Geltenden des Rechts das Beste allgemeingültige Sinnbild. Bestimmtes Recht beruht allemal auf Fixierung bestimmter Entscheidungen im Geiste möglicher Durchsetzung derselben durch Gewalt. Es sind nun unendlich viele Rechtsnormen und Rechtssysteme denkbar, und sie alle können, je nach den herrschenden Konventionen, als gerecht oder ungerecht empfunden werden. Noch um 1800 herum fand es in England kaum einer unbillig, wenn ein Dieb, welcher einen Gegenstand, dessen Wert drei Shilling überstieg, gestohlen hatte, gehängt wurde. Auch der Dieb selber empfand nicht anders. Nachdem die erst in der Stauferzeit in Deutschland eingeführte Folter einige Jahre angewandt worden war, fand sie jedermann gerecht. Später ist die Todesstrafe zeitweilig perhorresziert worden. Da nun die Rechtsordnung dem Menschenleben seine elementarste Sicherung gibt, so hält es schwer, geltendes Recht sogar im Bewusstsein derer, welche am meisten darunter leiden, zu unterminieren. Deswegen allein erhalten sich längst als Missstände erkannte soziale oder vielmehr unsoziale Erscheinungen um Jahrhunderte länger, als theoretisch geurteilt möglich schiene, und sind es dann meist Höherstehende, welche von diesen Missständen persönlich nicht betroffen werden, welche sie abstellen, — es sei denn, es erfolge eine soziale Explosion, deren es in der ganzen Menschheitsgeschichte nur wenige gegeben hat: die Unterdrückten fürchten durch Aufhebung des bisherigen Rechtes alle Sicherung zu verlieren. Und sie haben nicht immer Unrecht damit: nach der Befreiung der russischen Bauern durch Alexander II. ging es diesen lange schlechter wie vorher, weil nun die Gutsherren sich nicht mehr für sie zu verantworten brauchten. Viel stärker nun noch als alles Recht bindet soziale Konvention, denn als eingefahrene Gewohnheit wirkt sie als Zwang vom Unbewussten her, und da sie niemals rationalen Ursprungs ist, kommt keiner darauf, sie aus Verstandeserwägungen anzugreifen.
Hier gibt die weibliche Psychologie das beste Sinnbild ab. Dieser ist alles, was nicht persönliches Caprice ist, Sitte; nur als Sitte verstanden und anerkannt, bindet die Frau sogar das Recht, die Religion, irgendein Kanon vorausgesetzter geistiger Werte. Sie spricht die Wahrheit oder sie lügt, sie ist auf- oder abgeschlossen, moralisch oder unmoralisch, sowie sie mal lange mal kurze Röcke trägt, ihre Reize zur Schau stellt oder verbirgt. Hier herrscht die Tradition absolut, genau so wie in der Formenwelt der Tiere. Aber alle Konvention ging einmal auf eine freie Entscheidung zurück, im letztbetrachteten Fall sehr oft auf die eines Schneiders. Andererseits aber erscheint keine Konvention ganz willkürlich erschaffen. Das Gemeinschaftsleben hat seine Urgesetze, ohne deren Einhaltung es als solches zusammenbricht; gleiches gilt vom Reich der Empfindungen, Gefühle und Leidenschaften und der Moral an sich
d. h. als Minimum von Form und Ordnung verstanden, deren das Leben bedarf, welches Minimum im Fall des Menschen nicht von der Natur vorgezeichnet wird, sondern vom Menschen entdeckt werden muss. Darum gibt es einerseits wenige Konventionen, selbst unter den absurdest scheinenden, in die nicht tiefstes Sinnverstehen hinein- oder aus welchen nicht solches herausgelesen werden kann, andererseits aber keine die, wortwörtlich verstanden und angewandt, das Leben nicht beengte. Projiziert man nun diesen Aspekt des Lebensproblems auf die Fläche, welche u. a. Leibniz’ Weltschau entsprach, dann darf man sagen: im Fall des Menschenlebens liegt oberhalb des Wirklichen das Mögliche; in erster Instanz liegt hier überhaupt nichts fest. Das festgelegte Wirkliche entspricht dann einer willentlich erfolgten Stillstandsgebärde im Verlauf des an sich stetig fortfließenden Lebensstroms. Solche Stillstandsgebärden sind in allen Stadien der Entwicklung möglich und haben tatsächlich auf allen nur denkbaren stattgefunden. Jede solche aber setzt in jedem Augenblick ein ganz bestimmtes Verhältnis der Elemente zueinander voraus. Diese können von der Freiheit einerseits in ein beliebiges, andererseits in das jeweils bestmögliche Verhältnis zueinander gebracht werden. Letzteres war der Fall bei den hohen Kulturen, Religionen und Philosophien, deren Wert jedem Verstehensfähigen augenblicklich einleuchtet, und seien sie ihm noch so fremd. Doch da es sich bei allem konkreten Leben um Etappen eines Werdeprozesses handelt, so verjährt jeder vollkommene Zustand irgendeinmal, kann keiner beliebig lange festgehalten werden. Darum verlegen die meisten Kosmologien den Idealzustand in eine Zeit vor aller Geschichte, mit deren Anheben das Zwischenreich bestimmend wurde, in ein Paradies oder in ein goldenes Zeitalter; oder aber in ein Jenseits, in welchem das Zwischenreich aufgehoben ist und eine Ära reiner Herrschaft des Geistes angehoben hat, in der es keiner Berücksichtigung von Erdnormen mehr bedarf. Demgegenüber bedeutet die entgegengesetzte Auffassung einer Heimkehr in den Schoß der Natur eine letztlich gleichsinnige kompensatorische Variante. Wer alles Heil im Irdischen sieht, der ist, ob noch so unbewusst. Deist und Pantheist; er unterstellt, dass die Natur als solche einen geistigen Grund hat. Oder aber er ist Chthoniker im Sinn der alten Mutterkulte und meist glaubt er in diesem Falle unbewusst an eine allbeherrschende Göttin. Irgendwie jedoch scheinen Heimkehr zum Geist und Heimkehr zum Naturgrunde für Menschenbegriffe notwendig, zusammenzuhängen. Im Paradiese waren Adam und Eva nackt und schämten sich dessen nicht; dort aber verkehrten sie auf einer Ebene nicht nur mit anderen Geschöpfen, sondern auch mit ihrem Schöpfer. In Olympia kämpften unter bekleideten und geschmückten Barbaren einzig die Griechen nackend und betrachteten dies als Sinnbild ihrer Götternähe. So steht nur Gott für menschliche Begriffe über aller Konvention. Ihm braucht man nichts zu verschweigen. Ihm allein darf man in England Du sagen. Beinahe gleiches gilt vom höchsten irdischen Herrscher. In Indien durfte der englische Vizekönig und unter allen Sterblichen er allein das unzugängliche Allerheiligste der Hindutempel betreten.
Über allen konventionellen Vorurteilen stand von jeher nur der Grandseigneur, und von jeher choquiert dieser den gehemmten Spießer durch seine Unkonventionalität; der Spießer kann nicht begreifen, dass gerade seine Natürlichkeit und Unbekümmertheit um die Vorurteile anderer höchster Stil ist. Das Christentum lehrt die Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tag, und so manche Geheimlehre, dass der höchste Grad der Vergeistigung, deren Prozess mit Askese und Fleischüberwindung anhebt, in eine Bedeutungssteigerung und Neubewertung des Körperhaften einmündet. Hier umreiße ich nur mit wenigen Strichen komplizierte Tatbestände. Begreifen tue ich sie selber noch nicht ganz. Vielleicht ist da auch garnichts zu begreifen. Vielleicht gilt auch in diesem Fall, wie in dem aller irrationalen Qualitäten, die Alternative: es ist so oder es ist nicht so.