Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Ursprünglichkeit und Primitivität
Verschleierungen der Wirklichkeit und Wahrheit
Schreiten wir darum auf dem beschrittenen Weise gelinder Übertreibung unbefangen weiter. — Die Frau bekennt sich also fanatisch zum Zwischenreich. Daher ihre unausrottbare Abergläubigkeit. Da alle Zwischenreichsgestaltungen Kreuzungsprodukte von Natur- und Geistgeborenem sind, müssen diese dem Geist des Traumes und des Märchens besser entsprechen, als dem durch kritische Einsicht gewonnener Erkenntnis. Daher die Wirklichkeitsfremdheit der Lebensformen aller Primitiven. Da die Frau nun in ihrer Erdnähe andererseits überall praktische und darum kausale Zusammenhänge wittert, so muss ihr naheliegen, auch dort Zusammenhang zu spüren, wo es keinen gibt. Mir ist noch keine, noch so geistige Frau begegnet, die in ihrer geheimen und meist verheimlichten Tiefe nicht an Ammenmärchen glaubte, die Religion nicht nach Art der Primitiven verstände, und metaphysische Tiefen nicht gerade dort ahnte, wo es sich in Wahrheit nur um Verschleierungen der Wirklichkeit und Wahrheit handelt, die Analyse leicht beheben könnte. Andererseits aber lebt die Frau, wo sie wirklich naturnahe ist, in diesem bewusst als Komödiantin und ihrer Naturwurzeln ist sie sich, außer in den Jahren der Kindheit und wirklich unschuldigen und ehrlich romantischen Mädchentums so tief bewusst, dass sie niemals zu ihrem Ursprung der Erde zu zurückstreben muss. Ihr liegt ja gerade darum so dringend daran, ihre Töchter so fest als möglich im Zwischenreich zu verankern und sie, bevor der Ernst des Lebens
an sie herantritt, möglichst unwissend zu erhalten, weil sie aus persönlichstem inneren Erleben weiß, wie nahe es jeder Frau liegt, sich ganz ihrer Erdnatur zu überantworten. Ich entsinne mich einer Erzählung aus der alten Türkei, in welcher ein besonders unschuldig und sittsam erzogenes Mädchen, gerade bevor sie dem fremden Manne gegenüber, dem sie zur Frau gegeben worden war, die Hüllen fallen lässt, in Gedanken zu diesem lächelnd spricht: Und wenn du alle Erfahrungen der Welt gesammelt hättest und ich tatsächlich keinerlei habe — über alles weiß ich tausendmal besser als du Bescheid. Für alle Frauen aller Räume und Zeiten gilt ursprünglich das Goethewort:
nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte.
Das einzige echte Streben zurück zur Natur, das sich bei echten Frauen feststellen lässt, ist das aus irreeller Mädchenexistenz in die Ehe oder sonst eine der weiblichen Urnatur gemäße Lebensform. Von Demoralisierung, d. h. von wirklichem Verlust von Form und Ordnung kann, außer in pathologischen Einzelfällen, vom Erdstandpunkt selbst bei den freiesten Mädchengenerationen nicht die Rede sein. Es handelt sich einfach um die Suche nach neuer, dem Zeitgeist entsprechender Zwischenreichsgestaltung.
Wohl aber sehnt sich die Frau weit mehr als der normale Mann aus dem Zwischenreich hinaus nach ihrem geistigen Ursprung, denn ihre tiefe Erdbewusstheit fordert polar Entsprechendes, und da sie das Zwischenreich bei allem Bekenntnis zu ihm viel besser durchschaut als der Mann, so findet sie in ihm viel schwerer als er, obgleich sie es andererseits dringender als er benötigt, endgültige Befriedigung. Darum ist die Frau der religiöse und vor allem der betende Teil der Menschheit. Andererseits kann sie den Geist sehr schwer direkt erleben. Sogar die Erlebnisse echtester Heiliger unter Frauen tragen ausgesprochen verleiblichten Charakter. Dies erklärt den urweiblichen Phalluskult. Auf ihrer Ebene hat die Tiefenpsychologie erwiesen, dass im Gegensatz zu den frühesten Theorien der Psychoanalyse sexuelle Vorstellungen sich in den allermeisten Fällen gar nicht auf real-Sexuelles beziehen, sondern dass sie Sinnbilder bedeuten, und zwar die offenbar der Natur des Menschen angemessensten Sinnbilder für Ursprüngliches. Eben in diesem Verstande und eben darum steht der Phallus im Anfang so selbstverständlich für den Geist. Wer sich jemals in die Seelen indischer Frauen versenkt hat, welche zum Lingam beten oder der Vereinigung von Shiva und Shakti in Weihestimmung beiwohnen, der weiß, dass hier mehr echtes religiöses Gefühl im Sinn von Geist-Religion am Werk ist, als zumal im protestantischen Kult. Die Frau kann den Geist eben sehr schwer anders als in seiner Entsprechung auf der Ebene der Urnatur erleben. Erlebt sie ihn nicht dort, dann verstrickt sie sich allzuleicht in oberflächlichst begründeten Zwischenreichen; dann ist ihr Religion identisch mit geltender Konvention. Am leichtesten erlebt die Frau echten Geist durch einen Mann hindurch, denn ihn persönlich meint sie, wenn sie an seine Lehre glaubt. Wahrscheinlich hängt der Sieg des Patriarchalismus über den Matriarchalismus, der von einer gewissen Stufe geistiger (im Unterschied von seelischer) Entwicklung ab beinahe überall festzustellen ist, weit weniger mit der Vergewaltigung der Frau durch den körperlich stärkeren Mann zusammen — denn gerade bei frühen Völkern sind magische Bande, wie solche zumal den Sohn mit der Mutter verknüpfen, stärker als alle Verstandeserwägungen und unter höheren Tieren gar kommt Vergewaltigung überhaupt nicht vor — als auf der Urneigung der Frau, im Mann als Geistesträger den Gott zu sehen. Schon das tiefe Bedürfnis der Frau nach Söhnen, welches kein Mann in gleich ursprünglicher Weise kennt, ist meines Erachtens religiösen und nicht gattungsmäßigen Ursprungs. Überall auf Erden nun ist der Geist dem Menschen zuerst als Gott, d. h. als dem Ich überlegenes nicht naturhaftes Außer-Sich bewusst geworden. Noch die Griechen nachhomerischer Jahrhunderte kamen garnicht darauf, dass es der eigene Geist sein könnte, der einem Eingebungen und Einfälle schickte. Das Inspirierende schauten sie als göttliche Wesenheit und dementsprechend sprachen sie auch nur dem Gott und nicht dem Menschen Freiheit zu. Dieser Urzustand nun lebt in der Seele jeder naturhaften Frau in ihrer Beziehung zum Geiste weiter.
Es ist wohl jedem wahrhaft geistigen Mann in seiner Jugend — und sofern er geistig frisch blieb bis in sein hohes Alter — ein erschütterndes Erlebnis gewesen, wie unmittelbar-magnetisch echter Geist echte Weiblichkeit anzieht. Dass dieses Angezogenwerden leicht in der Pseudomorphose — die freilich keine solche zu sein braucht — erotischer Angezogenheit in die Erscheinung tritt, liegt an der tiefen Naturverwobenheit der Frau. Ob sie nun wirklich liebt oder nicht — jedenfalls vergöttert sie, und es ist tief bedeutsam, dass jede tiefe Frau das Bedürfnis hat, den noch so irdisch Geliebten zu vergöttern. Das ist der Grund, warum indische Ehen trotz allem, was sich gegen die Gebundenheit weiblichen Daseins in Indien sagen lässt, in den meisten Fällen echter Religiosität so beispiellos glücklich sind: von Kind auf wird dort das Weib dazu erzogen, im Gatten den Gott zu sehen, welche Erziehung zeitlebens durch den Hauspriester in sinngerechtem Rhythmus und weiser Zeiteinteilung weiter erfolgt, so dass die Frage empirischer Unzulänglichkeit des Mannes eine beispiellos geringe Rolle spielt. Gerade vergöttern will die Frau, gerade dieses tut sie instinktiv und wo es dem Manne scheint, sie idealisiere, dort meint sie in der Regel anderes, welches sie eben nur in der üblichen ungenauen urweiblichen Superlativ-Sprache auszudrücken weiß. Und so ist wahrscheinlich die Frau die Urheberin des Glaubens an persönliche Götter und schließlich an einen persönlichen Gott überhaupt. Denn geht die nachweisliche Urheberschaft noch so sehr auf Männer zurück — im Zusammenhange dieses Kapitels beweist das nichts, denn die echte und dadurch mächtige Frau beeinflusst im Verborgenen, tritt ungern selber an die Öffentlichkeit, und je mehr sie vom äußeren Leben abgeschlossen lebt, desto stärker beeinflusst sie ihre Söhne in den ersten Lebensjahren und meist deren ganzes Leben lang. Der Mann meint auch den persönlich vorgestellten und verehrten Gott ursprünglich als Sinnbild; man erinnere sich nur dessen, wie schnell Jesus mit dem Logos identifiziert wurde. Nicht so die Frau. Sie meint den göttlichen Mann mit Haut und Haaren.
Von hier aus, scheint mir, lässt sich der Weg der Entwicklung des Christentums, aber erst recht aller primitiven Religionen exakter verstehen, als meines Wissens bisher geschah. Die Natur-verwobene Frau ist ursprünglich einer Beziehung zum Geist nur in primitiver Verkörperung seiner fähig. Wegen der primitiven Seite des ursprünglichen Christenglaubens zog dieser die Frauen, und zwar gerade die hochgebildeten, der weiblichen Seele gemäß, so übermächtig an, dass er dank dem den wohl den meisten wohlgeratenen Männern viel kongenialeren Mithras-Glauben besiegte. Und auch die ganze Institution der Kirche, welche den geistigen Impuls ein für alle Male festhält und in bestimmten Formen überliefert, welche dem Menschen die Verantwortung abnehmen, vergeben und erlösen kann, alles dieses jedoch von einem persönlichen, zum Menschen gewordenen Gotte her, hat sich im Westen vor allem darum durchgesetzt, weil sie der weiblichen Psyche so wunderbar entsprach. Eben dank dem vertritt die Kirche, troz aller Theorie, eine wesentlich polytheistische Religion. Glaubt eine Frau bewusst nur an einen Gott, so, vergöttert sie doch viele andere, den Mann, letzteren jedenfalls nach seinem Tode, den Geliebten, die Heiligen, und wo solche im jeweiligen Zwischenreich nicht vorgesehen sind, erhabene Geister. Bei größerer Primitivität nun gilt die weibliche Vergötterung überhaupt keinem Jenseitigen, sondern dem im Diesseits vollkommen verkörperten Geist, in erster Linie dem Helden. Es ist ein schwer tief genug zu fassendes Symbol, dass in frühen Zuständen ein Weib sich dem Sieger, der ihren Gatten erschlug, wie selbstverständlich hingibt. In Mexiko und Peru baten vornehme Indianerinnen darum, von den spanischen Siegern Kinder gebären zu dürfen. Der Held als Überwinder der natürlichen Angst ist für urweibliches Empfinden der Ur-Geist. Die Frau, nicht der Mann verurteilt Feigheit am meisten — der Mann lässt immerhin Klugheit gelten —, sie sorgt durch das Ansteckende ihres Verehrungsbedürfnisses dafür, dass Kriege nicht aufhören. Ihr ist es tiefstes Bedürfnis, dem, der sein Leben furchtlos aufs Spiel setzt, alles zu schenken; hier liegt das ursprüngliche Betätigungsfeld ihres Opfersinns. Auf Grund dieses primären Willens zur Selbstaufopferung nimmt sie von vornherein den wahrscheinlichen Tod des Geliebten auf sich, darum verträgt sie Trauer und Leiden so gut. In keiner Rolle fühlt sich die Frau so sicher, wie in derjenigen der Witwenschaft. Und war sie die erste Verehrerin und Förderin aller Glaubenshelden, so lag das eben daran, dass es sich hier um Helden handelte. Geist überhaupt wird der naturhaften Frau gegenwärtig dadurch, dass ein Mann an sich selbst oder an seine Mission oder seine Lehre glaubt. Sie, welcher das Angesehensein so viel bedeutet, neigt ursprünglich zur Vergötterung dessen, der ohne Hinsicht auf Äußerliches an sich selber glaubt. Und allerdings ist solcher Glaube Primärausdruck echten Geistes. Mag alles hier Angedeutete nun noch so sehr im Rahmen und in Form von Zwischenreichsgestaltungen erfolgen — hier liegt nichtsdestoweniger eine unmittelbare Beziehung zum ursprünglichen Geiste vor. Diese Beziehung aber ist, korrelativ zur urtümlichen Naturverwobenheit der Frau, eine urtümliche.