Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Ursprünglichkeit und Primitivität
Verwilderung
Den Mann treiben also, im Gegensatz zur Frau, elementare Triebe und Strebungen aus dem Zwischenreich hinaus. Nicht aber, weil er weniger als sie in ihm zu Hause wäre, sondern weil ihm mehr Gefahr droht, sich in demselben zu verstricken und damit der Verbundenheit mit der Erde verlustig zu gehen. Ihn treibt es gerade aus dem bitter ernst genommenen Zwischenreich hinaus. Darum hat jeder Mann und nicht nur jeder Knabe eine ursprüngliche Vorliebe für das Krieger-, Abenteurer- und Forscherleben, darum bedeuten nur wilde Feste ihm wahre Entspannung. Wenn der Mann, laut Goethe, im Gegensatz zur nach Sitte strebenden Frau nach Freiheit strebt, so strebt er in Wahrheit nach der Möglichkeit, seine ursprüngliche Wildheit auszuleben; zum mindesten will er ausgelassen sein. Gerade weil er der Schöpfer der Welt der Künstlichkeit ist, bedarf er der gelegentlichen Erholung im Urtümlichen. So gibt es beim Mann denn wirklich ein normales Streben nach dem irdischen Ursprung, welches dem Weibe abgeht, da sie ursprünglich in diesem Ursprung lebt. Dennoch bleibt dem Mann der Erd-Ursprung immerdar unfassbar, weil er nicht wirklich in ihm verwurzelt ist, er bleibt ihm ewige Sehnsucht. Verwurzelung erreicht er, wenn überhaupt, nur im Zusammenhange mit der Frau. Eben darum ist das Vorherrschen von Homoerotik heim Manne immer völkisches Untergangssymptom; bei den Hellenen war dies besonders offenbar.
Darum bedeutet dem Manne die Liebe einerseits ein so Rohes, andererseits ein so Verstiegenes, und unter allen Umständen das eine Tor zu und von der Welt
, wie das Haupttor des altchinesischen Familienhauses genannt wird. Die Frau erlebt am Manne den Geist, dieser aber erlebt an ihr die Natur, und da er Verwurzeltheit in ihr seiner Psychologie nach nicht innerlich erleben kann, so bedarf auch er des Umwegs über das andere Geschlecht. Von diesem Gesichtspunkte aus könnte eine interessante Psychologie des Zölibats und besonders des Mönchtums geschrieben werden. Es ist sicher wahr, dass der Mann ohne innige Gemeinschaft mit der Frau keinen innigen Zusammenhang mit der Natur gewinnt, während es andererseits zweifelhaft bleibt, ob mönchisches Leben als solches Vergeistigung gewährleistet. Wie die ursprünglichste Sehnsucht des Mannes nach der Mutter geht, so bedarf er zeitlebens der Atmosphäre der Mütterlichkeit, und in Einklang mit der Natur zu bleiben. Soweit meine Kenntnisse reichen, haben sich matriarchalisch organisierte Gemeinschaften nie zerstörerisch erwiesen. Der herrschende, von Fraueneinfluss unberührte Mann hingegen ist der Natur gegenüber ursprünglich zerstörerisch gesinnt. Ein Sinnbild dessen ist die bejahte Freude am Töten von Tieren im sogenannten edlen Waldwerk, ein anderes die rücksichtslose Vergewaltigung der Natur durch zivilisatorische Maßnahmen oder aber durch willkürliche Zerstörung; man gedenke nur jener Entwaldung, welche die islamischen Völker überall, wo sie hinkamen, vornahmen. — Von hier aus gelangt man denn im Fall des Mannes zu einer Bejahung des Zwischenreichs, die nach den Eröffnungen und Ergebnissen des zweiten Kapitels überrascht. Gäbe es kein Zwischenreich, welches die erdzugekehrten Triebe des Mannes auffinge und ordnete, der Mann überhaupt
hätte sich hauptsächlich zerstörerisch betätigt, wie dies die asiatischen Nomaden getan haben, deren Zwischenreich von allen bekannten das undifferenzierteste war. Wer hiergegen das Urbauerntum anführt, der bedenke dies: von Uranfängen wissen tun wir nichts, aber aus der Urnatur lässt sich der Sinn derselben mit großer Wahrscheinlichkeit erschließen. Und da spricht schlechthin alles dagegen, dass die Pflege des Ackers, der Pflanzen und des Viehs ursprüngliche Männerangelegenheit war. Die Frau ist der pflegende, sich des Wachstums und Gedeihens freuende Teil der Menschheit. So ist denn Bauerntum aller Wahrscheinlichkeit nach in matriarchalischen Zeitaltern entstanden, während derer der Geist der Frau den Ton angab und sie den Mann zu einer Arbeit anhielt, an der ihm garnichts lag. Später, nachdem er zur Macht gelangt war, setzte er die Überlieferung fort als selbstverständlichen Weg der Selbsterhaltung. Des Mannes Interesse an der Wirtschaft ist ursprünglich sachlich, nicht persönlich; über die Liebe zur Sache gelangt er normalerweise zur Liebe für das Lebendige. So sitzt er heute tagsüber im Büro, weil er viel lieber verantwortungslos in die Weite schweifte. Mich hat immer wieder die Beglückung erschüttert, die ich bei Männern, von denen ich’s am wenigsten erwartete, feststellte, wenn sie ihren Beruf an den Nagel hängen durften, um als Soldaten in fremde Länder zu ziehen, wo sie zerstören durften, anstatt zu betreuen.
So muss beim Mann die Verleugnung irgend eines Zwischenreichs, dessen Normen er bis dahin anerkannte, unmittelbar zur Verwilderung führen. Und je größer das Unstetigkeitsmoment, durch welches eine Menschheit dank Entmachtung oder Zerstörung des bisher dem Leben die Form gebenden Zwischenreichs hindurchgeht, desto stärker muss die Verwilderung werden. Daher das Entsetzliche aller elementaren Revolutionen — ich meine wirkliche Revolutionen, nicht bloße Regimewechsel, wie es die meisten europäischen des letzten Jahrhunderts gewesen sind. In Zeiten elementaren Aufruhrs wird der Mensch ohne Weiteres zur Bestie. Schon Kriege sind entsetzlich genug, aber Jahrtausende alte Erfahrung hat Kriegführung zur allerdiszipliniertesten aller menschlichen Betätigungen gemacht. In der echten Revolution hingegen wird aller Kosmos zum Chaos, da äußert sich der Mann völlig schranken- und skrupellos zerstörerisch. Da kann die Primitivierung Urzustände aus den Drachenzeitaltern ins Leben zurückbeschwören. Alle Geistes- und Seelenwerte hören zeitweilig auf, eine bestimmende Rolle zu spielen. Wird nun eine solche Zeit der Verwilderung zugleich durch den Verstandesgeist der Künstlichkeit beherrscht, dann treten Allgemeinzustände ein von einer so grausigen Unmenschlichkeit, dass man in der Mythologie keine Vorbilder dafür mehr findet. Eine Weile flackern die Primärausdrücke des Geistes Mut und Glaube zu ungeheuerlichen Stichflammen auf. Bald aber herrscht die zähe Kälte der Reptilität und die Grausamkeit wird nicht einmal mehr als solche empfunden. Sie wird durch Unempfindlichkeit und Gleichgültigkeit neutralisiert.
Immerhin haben solche Zeiten vollkommener Verwilderung etwas Großartiges, und da in ihnen wirklich das Elementare im Menschen durchbricht, so ist schließlich wieder und wieder, in Nietzsches Worten, aus dem Chaos ein tanzender Stern geboren worden. Widerlich aber ist das Bild, das eine Menschheit bietet, wenn es nur zur Auflösung der geistgeborenen Formen des Zwischenreiches kommt, ohne dass ein Durchbruch zur Urnatur erfolgt. Dann verwandelt sich, sinnbildlich ausgedrückt, alles Natürliche in Lasterhaftes. Dann entscheidet letztinstanzlich der oberflächliche Verstand, dann gibt es nichts Selbstverständliches mehr, so wie die Natur selbstverständlich da und so ist, wie sie ist. Dann wird überall nach dem Warum gefragt, und da es bei Elementarem und Ursprünglichem keine befriedigende Antwort geben kann, so wird aus dem Unbefriedigenden die Konsequenz gezogen und aus der Frage nach dem Warum wird in allen nur möglichen Fällen die andere: warum nicht? Dann werden alle Bande der Natur verleugnet, das losgelöste Ich herrscht souverän, es entscheiden letztlich Nützlichkeitserwägungen. Der Verlust der Verwurzelung im ursprünglichen Geist führt gleichzeitig zu vollkommenem Unverständnis für das Bindende geistiger, geistlicher und ethischer Normen, es herrscht der Leitspruch:
Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.
Es schwindet die Fähigkeit zu glauben, anders als sinnlich zu lieben und unter dem Banner der Klugheit siegt die Feigheit über den Mut. Wenn nun nachweislich alle Völker, die den Zusammenhang mit ihrem Natur-Ursprung verloren, an Vitalitätsverlust zu Grunde gegangen sind, so sind ebenso nachweislich alle geistig Entwurzelten früh oder spät an ihrer Feigheit verdorben. Hier nun offenbart sich eine Art prästabilierter Harmonie zwischen dem Ursprung der Erde und demjenigen dem Geiste zu, welche die Vermutung nahelegt, dass es sich bei dieser unumgänglichen Scheidung letztendlich um eine ratio cognoscendi handelt. Wer keinen Sinn mehr — und aller tiefe Sinn bezieht sich auf die Wurzel — im Leben findet, den überkommt Selbstmordwille. Sowohl die Geschlechter, welche den Zusammenhang mit der Ur-Natur, als die, welche den Zusammenhang mit dem ursprünglichen Geist verlieren, sterben aus. Ein sinnwidriges Leben bedingt physische Sterilität.
Iwan Solonewitsch, der Verfasser des grausig-wunderbaren Buches Die Verlorenen, eine Chronik namenlosen Leidens
, welches das Zwangsarbeitsleben am Weißen Meere schildert, berichtet von einem Gespräch mit einem begabten und gebildeten noch jungen Kommissar, welcher genug hatte von seiner Tätigkeit in der G.P.U.. Solonewitsch riet ihm zu heiraten. Betrübt, belustigt und resigniert zugleich sah ihn jener an:
Sie Unschuldsengel Sie(ich zitiere frei nach dem Gedächtnis);da hat der Mensch zu wählen. Entweder er überantwortet sich der Polizeimaschine oder er kriegt Kinder. Das gibt es für mich nicht mehr.
Dank der Urwüchsigkeit des russischen Menschen lässt sich von diesem Beispiel her in Russland nicht verallgemeinern. Aber einen großen Teil der amerikanischen Männer, deren Väter und Großväter schon am sinnwidrigen Leben dieses Kontinentes teilnahmen, hat der Geist der toten Materie als der des übermechanisierten Industriearbeiters (gleichviel auf welcher Stufe) sterilisiert. Und, wie ich durch Umfragen bei vielen Ärzten älterer europäischer Länder festgestellt habe: auch in Europa nimmt die Impotenz der Männer in nie geahntem und physiologisch garnicht erklärbarem Maße zu. Hier handelt es sich offenbar um Verlust an Vitalität, unabhängig vom Gesundheitszustand. Was Vitalität ist, ist begrifflich schwer zu fassen, es sei denn, man nehme einen Ätherleib oder Ähnliches als ihren Träger an, aber dass es Vitalität gibt und was sie bedeutet, kann jeder erlebnismäßig wissen. Vitalität aber hat ihre Wurzeln sowohl im Geiste, wie in der Natur. Von allen Zeitaltern waren die tief-religiösen die vitalsten, und die unvitalsten von jeher die intellektualistischen. So hängen denn Geist und Erde offenbar in irgendeiner Tiefenregion zusammen, die ich aber für meine Person näher zu bestimmen außerstande bin.