Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Gleichgültigkeit und Liebe
Sein und Haben
Nach dem Ausgeführten ist es kein Wunder, dass alle hohe Religion innerhalb der emotionalen Ordnung erwacht ist: der Zusammenhang der Welt, welchen der Religiöse erlebt, ist in der emotionalen Ordnung erlebnismäßig, nur eben auf anderer Ebene vorgebildet. Von der Ratio her ist der Zusammenhang der Welt nur zu konstruieren und darum verdirbt von ihr her erfolgte Ganzheitsschau zwangsläufig zu einem künstlichen System. Darum hat Vernunft nur einen Gott, welcher von außen stieße
(Goethe) vorstellen können, oder aber als kontemplativ in sich ruhendes Sein (Aristoteles), oder schließlich als machtlos, wobei ich nicht allein an Schelers machtlosen Geist
denke, sondern auch an die Vorstellung von den guten Göttern, welche die Welt schufen, zu denen, wenn ich recht berichtet bin, gewisse Kamtschadalen sich bekennen. Diese Götter vermögen garnichts, darum kümmert man sich auch nicht um sie; sie sitzen nur auf einem Felsrand hoch über dem Meer und lassen ihre Beine baumeln, während die bösen Dämonen wirklich herrschen; zu diesen allein betet man darum. In diesem Zusammenhang lese man Nathan Söderbloms lichtvolle Betrachtungen über die vielverbreitete Vorstellung des Urheber-Gottes als deus otiosus nach (Das Werden des Gottesgedankens, vor allem S. 75/122). Auch das höchste Wesen der Inder, das Brahman, das bezeichnender Weise als Neutrum, nicht männlich oder weiblich vorgestellt wird, ist ein Gott solcher Art. Der Mahabharatam gibt hierfür die folgende Erklärung:
Die Menschen verehren Shiwa den Zerstörer deshalb, weil sie ihn fürchten, Vishnu den Erhalter deshalb, weil sie ihre Hoffnung auf ihn setzen. Aber wer verehrt Brahma den Schöpfer? Sein Werk ist getan.
Insofern sich nun Geist in seinem Aspekt der Liebe der emotionalen Ordnung einbildet, wird er zum unmittelbaren Erlebnis. Hierauf aber kommt für das Innewerden und Realisieren alles an. Alle Verstandeserkenntnis ist ein von-außen-her; mag ein Begriff noch so weite Zusammenhänge noch so wirklichkeitsgerecht zusammenfassen — unmittelbares Wissen um sie gewinnt man durch ihn nicht; immerdar bleibt zweifelhaft, ob es sich letztlich nicht um eine künstliche Konstruktion handelt. Von allen überlieferten Lehren vertritt diese Wahrheit am deutlichsten der Zen.
Um das Ziel des Zen zu erreichen, schreibt D. T. Suzuki,muss sogar der Gedanke des Nicht-Habens abgetan werden. Buddha offenbart sich, wenn er nicht mehr erklärt wird. Dies bedeutet, dass um Buddhas willen Buddha aufgegeben werden muss.
Extremer vertritt die gleiche Grundauffassung der folgende Satz des gleichen Autors:
Es ist nicht notwendig, den Schöpfer persönlich zu interviewen, um des Werks der Schöpfung einsichtig zu werden. Hierzu bedarf es der Stützung durch den Schöpfer nicht. Wird man des Seinsgrundes inne, dann hat man auch Zen. Wogegen es sich beim Gott der Mystiker um das Festhalten eines bestimmten Gegenstandes handelt; hat man also Gott, dann ist alles, was nicht Gott ist, ausgeschlossen. Darin aber liegt eine Selbst-Begrenzung. Zen fordert absolute Freiheit, auch von Gott.
Die Liebe nun lässt einen realen Zusammenhang so gewiss erleben, wie man sich selbst als Realität erlebt. Hier liegt der Seinsgrund der Forderung, dass der Mensch Gott lieben solle: lieben kann er den Großen Unbekanten garnicht, aber er kann seinen ursprünglichen Zusammenhang mit Ihm spüren, und dafür steht das Sinnbild der Liebe. Vor allem aber setzt die Liebe und sie allein — diese Wahrheit kann nicht oft genug betont werden — den Zusammenhang des Ich mit einem Gleichberechtigten, auf gleicher Ebene Realen: mit einem Du im Gegensatz zu einem Es, mit einer begeisteten, nur als Du zu erlebenden Seele im Gegensatz zu einem Gegenstand. Sie sprengt damit durch ihr bloßes Dasein alle Attrappen, die konstruierendes Denken unter dem Namen von Monismen baut. Wie notwendig dies gerade für die Erkenntnis ist, und welche Revolution darum die christliche Offenbarung ihrerzeit bedeutete, erweist die eine Erwägung, dass bis heute nicht ein Philosoph von Fach das Fundamentale der Ich-Du-Beziehung in seinem System berücksichtigt hat, dass alle diese Herren heute noch so spekulieren, als sei das erkennende Subjekt die letzte Erkenntnisinstanz. Es ist nicht die letzte Instanz, denn nicht auf das Erkennen als Weg zur Wahrheit kommt es letztlich an, sondern auf das unmittelbare Wissen; dieses aber ist nichts anderes als das Bewusstseinskorrelat des Seins und Habens.
Da nun der geistige Ursprung des Menschen unzweifelhaft in einem Überpersönlichen liegt, so ist klar, dass die Liebe als Weg des Realisierens der Ich-Du-Beziehung den Primat hat inbezug auf das Erleben des substantiellen Geistes. Von hier aus können wir denn auch eine philosophische Einsicht von grundsätzlicher Bedeutung klar fassen, welcher bisher nur impliziter Ausdruck gegeben werden konnte: alles Wertbewusstsein überhaupt besteht von der emotionalen Ordnung her. Wohl ist natürliche Liebe Bejahung abgesehen vom Wert
, aber insofern sie allemal ein Einziges vor allem anderen bejaht, welches Einzige ihr damit das Wertvollste bedeutet, stellt sie den Mutterschoß und zugleich die Urform alles Werterlebens dar. Wert ist vom Verstande her weder einzusehen noch zu erweisen. Intuition nimmt ihn wahr, doch sie behauptet ihn nicht. Letzteres, das für das Wertgefühl Entscheidende, geschieht vom Fühlen her; eben darum sagt man Wertgefühl. Und daraus ersieht man, dass die Urbeziehung zum Werte die der Liebe ist. Nur wer Wert liebt, kann ihn realisieren, wer sich aber zu einem Werte nicht bekennt, hat überhaupt kein Verhältnis zu ihm. Daher denn alle die bekannten Wortbildungen, welche jedermann einleuchten, doch von anderen als den hier angegebenen Voraussetzungen her garnicht zu verstehen sind. Die heidnischen Griechen bildeten das Wort Philosophie gleich Liebe zur Weisheit, die christlich gewordenen hießen gottwohlgefälliges Leben im Zeichen der Heiligung Philokalie, Liebe zur Schönheit und damit nach hellenischen Begriffen auch zum Guten. Eben daher in dieser unserer nüchternen Zeit die Liebe zur Sache
als säkularisierter Ausdruck des gleichen ursprünglichen Wertgefühls, das sich einmal als Liebe zu Gott erlebte und damals einen angemessenen Ausdruck in anonymem Schaffen an unsichtbaren Stellen gotischer Dome zu Gottes Ehre fand. Eine echte Beziehung zum Wert kann nur eine integrale Beziehung des ganzen Menschen sein zu dem, was seinem ganzen Wesen Höchstes bedeutet, und eine solche Beziehung verkörpert beim Menschen die Liebe und nicht die Erkenntnis; welcher Zusammenhang zwischen jener und der Intuition besteht, machte das vorhergehende Kapitel deutlich. An dieser Stelle können wir vollkommen einsehen, um ein wie Totales, nicht nur Integrales es sich bei der Liebe handelt. Sie schweißt rein körperliche Sinnlichkeit mit reiner Sinneserfassung und reiner Sinnesverwirklichung zusammen. Hier weist eines auf das andere hin, bedingt und bedeutet eines das andere, führt eines dem anderen zu im Sinn der Weisung Platos, man solle erst einen schönen Körper lieben und dann noch einen und wieder einen: zuletzt würde man so der Idee der Schönheit selbst teilhaftig. Insofern erweist sich die Liebe tatsächlich, der christlichen Lehre gemäß, als der Ursprung aller lebendigen Teilhabe am Geist.
Aber nicht nur der in die emotionale Ordnung eingebildete Geist ist unmittelbar erlebbar, auch der Weg der Einbildung ist es. Wir warfen in großen Strichen eine Zeichnung des Zusammenhangs in der Gleichgültigkeit
in der Ganaordnung hin. In der emotionalen Ordnung erscheint der gleiche Zusammenhang beseelt und damit erlebbar. Mit der echten Liebe findet eine Transfigurierung des gleichen Zusammenhangs statt. Hier drückt sich ein übernatürliches Prinzip mittels der Elemente der Natur aus, so wie der Gedanke mittels der vorherbestehenden Sprache. Daher all das Hohe und Große und Selige der Liebe, welche die Dichter aller Räume und Zeiten besungen haben. Wenn zumal erste Liebe nicht nur den Geliebten sondern darüber hinaus die ganze Welt verklärt und dieser einen neuen Sinn gibt, dann handelt es sich, auch wo größte Überschätzung vorliegt, durchaus nicht um Illusion: hier schaut der Liebende durch das Empirische hindurch geistige Wirklichkeit. Ramakrishna neigte sich in Ehrerbietung vor jeder Kurtisane, weil er in ihr die göttliche Mutter schaute; er schaute sie real in ihr, und ebenso konnte Jesus den unendlichen Wert jeder Menschenseele nur deshalb lehren, weil er durch das Natürliche hindurch den göttlichen Ursprung schaute. Dass es sich hier wesentlich nicht um Überschätzung, sondern um Durchschauen handelt, beweist die eine Tatsache, dass solche Schau einen Menschen bessern kann. Ist der Durchschauende ein Heiliger, so kann er den Sünder selbst zum Heiligen verwandeln. Jedenfalls kann er ihn von seiner Sünde nicht nur freisprechen, sondern real befreien. An dieser Stelle realisieren wir einen weiteren Vorzug der Liebe vor der Erkenntnis. Wer einen anderen nur erkenntnismäßig durchschaut, der spiegelt ihn zwar in sich, doch der Andere hat von seinem Erkanntwerden keinen Gewinn, denn dieser ist jenem ja nur ein Gegenstand. Wer hingegen den Anderen liebend bejaht, der lässt ihn unmittelbar teilnehmen an seinem eigenen Sein.
Hier sei gleich auch verwandter Zusammenhänge gedacht. Gleiches wie von der transfigurierenden Liebe im eigentlichen Verstand gilt vom sichtbarlich Weihenden entsagender Treue über den Tod hinaus, gleiches von der Treue überhaupt, gleiches vom Selbstopfer des Helden. Es ist kein Vorurteil, wenn alle echten Krieger das Gefühl haben: wer sich selber opfernd unterliege, sterbe doch nie umsonst. Zunächst liegt es nahe, diesen Glauben mit dem Aberglauben zusammenzuwerfen, dass eine Brücke, in welche ein Kind lebendig eingemauert wurde, besser trage, oder dass das Blut der Helden den Acker fruchtbar mache. Tatsächlich aber ist dieser Aberglaube primitive Ausdrucksform für Wirklichkeitserkenntnis. Das Selbstopfer eines einzigen Menschen kann ganze Geschlechter adeln, in dem es ihnen im Sinnbild ihre eigene höchste Möglichkeit offenbart und damit zum Vorbild wird, welches als Richtung-gebende Kraft in deren eigenen Seelen fortwirkt. Alle Heldenvölker sind auf diese Weise entstanden. Das Opfer setzt mehr als alles andere den Ich-Du-Zusammenhang, in welchem in der Tat der Ursprung liegt.