Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Gleichgültigkeit und Liebe

Natur und Geist

Doch das für die Erkenntnis Wichtigste am Prozess der Einbildung des Geistes in das Erdleben in Form der Liebe ist, dass wir hier und hier allein feststellen können, dass es tatsächlich so etwas gibt, wie jene Zuordnung der Natur zu Gott, deren Existenz das Christentum behauptet — wenn auch das als wirklich Nachweisbare etwas anderen Sinnes ist als das, was die Kirchen lehren. In der Natur finden wir nämlich Bereitschaften zu dem vorgebildet, was erst mit dem Einbruch geistiger Liebe seinen vollen und tiefsten Sinn erhält, welche Bereitschaften gleichsam auf sie warten, so wie die Sprache mit ihren Worten sozusagen des verstehenden Geistes harrt, welcher sie sinngemäß zu nutzen weiß. Auch die primitivste Mutter- und Gattenliebe, die nur aus Naturtrieben zusammengesetzt ist, stellt eine rohe Skizze sublimer Liebe dar und dient dieser leichter zum Gefäß, als irgendein anderes Natürliches. Auch im elementarsten Solidaritätsgefühl, welches kämpfende Paviane beseelt, ja schon kämpfende Ameisen, ist höchster Opfersinn organisch vorgebildet. Der allgemeine durch vergleichende Beobachtung nachzuweisende Sinn dieses Zusammenhangs ist, in Richard Wolterecks Worten, (vgl. Ontologie des Lebendigen, S. 312) der folgende:

Der Biologe sieht, wie eine in vielen Schritten erreichte Vollendung bestimmter Organe vorausgeht, bevor Geist sich zu regen beginnt. Diese Vollendung ist Voraussetzung geistigen Lebens, Bereitstellung der nötigen Apparatur, auf der dann ein vorher unerhörtes Klingen und Werden beginnt.

Denken wir hier zunächst, um dem speziell über die Liebe zu sagenden den vom Sinn geforderten weitesten Hintergrund zu schaffen, an die Entsprechungen von Natur und Geist auf dem Gebiete des Gemeinschaftslebens. Echt-menschliche Gemeinschaft gibt es überhaupt nur im Zeichen der Liebe, denn das Wesen echt menschlicher Gemeinschaft ist deren Orientiertheit an erlebten Werten, die aber gibt es nur von der Liebe als dem absoluten Gegensatz des Zwanges und Erzwingbaren her und auf sie hin und mittels ihrer. Diese Werte, in Persönlichkeiten verkörpert oder durch sie repräsentiert, wirken als freiwillig anerkannte Autoritäten im gleichen Sinne, wie Geliebtes vom Liebenden unbedingt bejaht wird: darum wird der härteste Feldherr, der strengste Vorgesetzte, so unpersönlich das Subordinationsverhältnis scheine, im Höchstfalle echter Gemeinschaft persönlich geliebt. Gleichsinnig liebt dieser die, für welche er verantwortet, und darauf beruht die beiderseits vorausgesetzte Gerechtigkeit, Treue, Selbstlosigkeit und Opferwilligkeit.

Pflichtgefühl ist niemals letzte Instanz, denn Pflichten werden äußerlich übernommen und können gekündigt werden, wo nicht Gewalt oder Furcht vor dieser daran hindert. Hier halten wir den wahren Kitt aller festen Menschengemeinschaft; baute Konstantin der Große die Kirche dem Imperium ein, so war es vor allem, weil sie die damals einzige das ganze Reich durchsetzende sichere Liebesgemeinschaft inmitten von Interessenkonflikten war. Nichtsdestoweniger ist die meiste, wenn nicht alle weitreichende Autorität irgend einmal durch Gewalt und Zwang begründet worden, und um zu dauern setzt auch die geistigste als Unterlage das Fortwirken von Bereitschaften voraus, die den sozialen Zusammenhang der Tiere regeln. Bei Pavianen und anderen uns verhältnismäßig nahe stehenden Wesen herrscht und regiert das stärkste Männchen absolut, dies aber dank der Autorität, die ihm ein einmaliger Sieg eroberte: grundsätzlich nicht anders ist es bei uns Menschen. Und hält nicht das Folgende, was bei Gert von Natzmer (siehe Lebende Natur, Berlin 1942, S. 384) über das Haushuhn zu lesen steht, mancher Menschengemeinschaft einen Spiegel vor, welcher viel zu denken gibt? Die soziale Schichtung

drückt sich hier darin aus, dass sich gewisse Hühner von anderen ohne Gegenwehr hacken lassen. Eine Art Gewohnheitsrecht bestimmt, von welchen Hühnern sich jede einzelne Henne hacken lassen muss und welche sie selbst hacken darf. So ergibt sich eine richtige Rangordnung, beginnend mit der Henne, der sich auf dem Geflügelhof alle anderen unterordnen, bis hinab zu jener, die von allen Genossinnen unterdrückt wird. Sie ist meistens das Ergebnis eines vorangegangenen Kampfes, der über die soziale Einordnung jedes Neuankömmlings für alle Zeit entscheidet. Recht interessant ist auch die Beobachtung, dass Hennen, die in der Hackordnung tief unten ihren Platz haben, sich zu den wenigen ihnen noch untergeordneten Hennen weit brutaler verhalten, als sie selbst von den weiter oben in ihr stehenden Tieren behandelt werden.

Doch zurück zum Sonderproblem der Liebe. Die Korrespondenz zwischen Natürlichem und Geistigem kann hier die bizarrsten Formen annehmen. Das eindrucksvollste Sinnbild des gesamten hier gemeinten Problemkomplexes bietet eine Beobachtung von Eugène Marais, dem Verfasser des wunderbaren Termiten-Buches Die weiße Ameise, die zwar nicht Geistiges betrifft, wohl aber unzweifelhaft Seelisches. Marais hat festgestellt, dass im gesamten Tierreiche die Mutterliebe an den Schmerzen des Gebärens erwacht. Wo Schmerzen fehlen, bleiben die Kinder den Müttern gleichgültig. Antilopen, welche Marais unter Narkose gebären ließ, nahmen ihre Kitzen überhaupt nicht an. Und dass sogar beim Menschen die Dinge ursprünglich nicht anders liegen, beweist die Tatsache, um wieviel weniger modernste junge Mütter, die ihre Kinder in vorgeschrittensten Kliniken zur Welt brachten, an ihren Kindern hängen als ihre Mütter und Großmütter. Das niederste Tier, bei welchem Marais tiefe Muttergefühle feststellen konnte, ist der Skorpion: dieser ist das einzige Wesen dieser Stufe, das unter Schmerzen gebiert. Aber ist der Zusammenhang von Eros und Sexus überhaupt vom Standpunkt der unwissenden Seele nicht ebenso bizarr? Zweifellos wird er zum mindesten von Jungfrauen ursprünglich so empfunden, sonst weckte erstes Bekanntwerden mit ihm im ersten Augenblick nicht dermaßen schroffe Abwehrbewegungen. Andererseits aber kann ein Wort, eine Gebärde vorher Ungeahntes zum Anklingen bringen und bewusst machen. Denkt man nun aber genauer nach, so ist das Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck überhaupt bizarren Charakters, denn es ist in keiner Weise zu verstehen, wie zwischen irgendeinem geistigen Sinn und irgendeinem materialisierten Ausdruck ein Entsprechungsverhältnis bestehen soll. Da kann man nicht weiter gelangen als bis zur Einsicht: es ist nun einmal so, dass bestimmte Buchstabenverknüpfungen (als Sinnbilder für alle Materialisation überhaupt gemeint) rein geistigen Sinn der Welt der Erscheinungen einbilden und innerhalb ihrer übertragbar machen: durch das rechte Wort hindurch kann einem früher nie Geahntes unmittelbar bewusst werden und geistig einleuchten, genau wie es dem Schöpferischen im Körper des rechten Wortes einfällt.

Nicht anders steht es mit dem Gesetz der Inkarnation: das Wort muss Fleisch werden, um sich im Reich des Fleisches vollkommen auszuwirken. Aber auf vielen Gebieten besteht nur Entsprechung, nicht Korrelation, und im Fall des Niederen in Bezug auf Höheres die Bereitschaft zur Aufnahme und Darstellung. In diesem Sinne entsprechen sich bloß körperliche und geistige, irdische und himmlische Liebe. Doch die Entsprechung besteht. Es ist nun einmal so, was immer man theoretisch dagegen anführe, dass die größte Liebe zwischen Mann und Weib, die nicht auch die Sinne entzündet, eine unvollkommene oder verkrüppelte Liebe bleibt. Nur weil dem also ist, hat man in Umkehrung dieses Verhältnisses darauf kommen können, den Vollzug der Ehe zu einem Sakrament zu machen. Und bei aller Entsprechung lebt die Sehnsucht tief im Menschenherzen, alles Materielle zum Ausdrucksmittel des Geistes zu erobern. In seinem tiefsten Inneren glaubt jeder mit Guyau: ceux qui n’agissent pas comme ils pensent, pensent imparfaitement; dass der Maler, der seiner Vision, der Staatsmann, der seiner Idee keinen Körper zu verleihen vermag, damit Versagen als Geist beweist. Hier wurzelt die existentielle und metaphysische Bedeutung des Werks, der Leistung, hier alle Beweiskraft von Erfolg und Sieg. Rein verstandesmäßig geurteilt, sollte Sieg nämlich garnichts beweisen und keinesfalls einen Dauerzustand einleiten können. Hier verstehen wir denn endgültig, was die Gedankengänge des ersten Kapitels zu erkennen bereits nahe legten: dass der Idealist zutiefst ein Geistfeind ist. Es gilt niemals, von der Materie dem Geist zu fortzustreben, sondern diesen jener einzubilden. Dass die Natur nicht so ist, wie der Geist sie haben möchte, ist eine Selbstverständlichkeit. Es ist aber die eigenste Aufgabe des Geistes auf Erden, sie zu durchdringen, und darum bedeutet jede Art von Flucht vor dem Natürlichen Geistfeindschaft.

Von hier aus eröffnen sich sehr weite Perspektiven, denen ich aber an dieser Stelle nicht mehr nachgehen kann. Sicher ist der Zusammenhang zwischen Schicksalsschlägen und innerem Weiterkommen, zwischen Leiden und Wachstum der Seele ein ähnlicher, wie der zwischen physiologisch bedingter und rein geistiger Liebe: das Äußerliche bereitet inneres Geschehen vor, in dem es ihm ein Einfallstor in die Welt des Materialisierten schafft, und insofern es dies gemäß dem Gesetz der Entsprechung, wenn nicht gar gemäß dem der Korrelation von Sinn und Ausdruck tut, ist das Äußerliche die Bereitschaft zum Innerlichen. Keine Erfahrung berechtigt zur Vorstellung, dass sich das Höhere in einem stetigen Prozess aus dem Niederen entwickele oder dass dieses sich zu jenem sublimieren könne: bei der Festgelegtheit aller Gana-Melodien und schon gar aller materialisierten Naturprozesse gibt es keine Kausalreihen, wie sie das 19. Jahrhundert als selbstverständlich geltend oder wirksam annahm. Erfahrungsgemäß kommt alle Zustandsänderung Höherem zu auf die Weise zustande, dass, in meinem altbewährten Sinnbild ausgedrückt, mittels des alten Weltalphabetes Neues gesagt wird. Ein großer Geist erteilt von jedermann gebrauchten Worten und Sätzen einen neuen Sinn. Dem geistig Liebenden bedeutet der Geschlechtsakt anderes als dem Tier. Selbstverständlich bedeutet es andererseits, von den Forderungen kritischen Verstehens her geurteilt, einen Kurzschluss, nicht-physiologische Liebe unmittelbar auf Gott zurückzuführen. Doch es bedarf überhaupt keiner Festlegung auf irgend ein bestimmtes Dogma, um ihrer metaphysischen Wirklichkeit innezuwerden, was in diesem Sonderfall bedeutet: um einzusehen, dass mit der Liebe etwas in die Welt tritt, was nicht in den Rahmen der Natur gehört. Alles nämlich, was sie leistet und fordert, widerspricht nicht nur den Ur-Tendenzen der Gana-Welt, sondern auch denen der emotionalen Ordnung. Sie spiegelt nicht den Naturzusammenhang überhaupt, der, wie wir sahen, bei vollkommener Gleichgültigkeit besteht, und erst recht ist dieser ohne durch nichts zu rechtfertigendes Vorurteil aus jener nicht abzuleiten. Von der Natur her gelangt man nie über die Feststellung von Zweckmäßigkeits- oder Nützlichkeits- oder sonst rationalen Erwägungen, deren Stichhaltigkeit von keinerlei Liebe abhängt, hinaus.

Die Liebe spottet aller rationalen Erwägungen. Ihre ganze Schönheit und Erhabenheit liegt darin, dass sie vollendet irrational ist. Wie selbstverständlich verschenkt sie sich an einen Unwürdigen, gleichwie Gott laut unserer Bibel gleichmäßig über Gerechte und Ungerechte regnen und gar dem Sünder vor dem Gerechten den Vortritt lässt. Sie will gerade den Versagenden retten, den Verzagenden trösten, den Verzweifelnden erlösen. Sie will dem, welchem sie sich schenkt, über seinen gegenwärtigen Zustand hinaushelfen und ihn steigern dem vorgestellten Ideale zu. Sie ist das Gegenteil von Interesse, welches als inter-esse gleich Dazwischen-Sein dem Identifizierungscharakter der Liebe mehr widerspricht als Hass. Für sie gilt grundsätzlich überall, trotz aller persönlichen Wünsche, das Goethesche:

wenn ich Dich liebe, was geht’s Dich an.

Erwägungen wie die, dass das Große dem Kleinen vorangehen muss, verschlagen bei ihr nichts. Wer da behauptet, ich liebe diesen weil, der lügt entweder, oder aber er liebt nicht wahrhaft; dessen Seele reicht über die Naturebene nicht hinaus, wo das Weibchen das stärkste Männchen kürt und mutatis mutandis umgekehrt; dessen Liebe ist Gattungsangelegenheit. Oder aber sie ist eine soziale Angelegenheit und damit eine Zwischenreichsgestaltung. Hier wählt und entscheidet überhaupt nicht das Ich, geschweige denn das Selbst, sondern nur ein man. Hier fehlt jede ursprüngliche und entscheidende Ich-Du-Beziehung. Es gibt aber echte Gemeinschaft auf der Stufe eines vergeistigten Menschentums überhaupt nur von Du zu Du und damit von als solcher erkannter und anerkannter Persönlichkeit zu als solcher erkannter und anerkannter Persönlichkeit.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Gleichgültigkeit und Liebe
© 1998- Schule des Rades
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