Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung
Die Welt der Künstlichkeit
Homo Faber
An dieser Stelle nun münden wir in eine für manchen wohl unerwartete Einsicht ein: Der Urtypus des Verstandesmenschen ist nicht der Denker, sondern der Handwerker. Das auf der Ebene des all gemein-Organischen nicht zu Begreifende am Menschen, sein Höheres, wie man es heißt, äußert sich ursprünglich als reine und zweckfreie Irrationalität. Hier walten Spieltrieb, Ahnung, Einbildungskraft, Dichtergabe, Musikalität, Gott- und Welt-Frömmigkeit, Liebe, Glaube, Hoffnung, Mut, oder aber Angst, Hass, Verzweiflung und Besessenheit hier waltet alles, nur nicht Verstand und Vernunft. Doch diese höheren Fähigkeiten hätten den Menschen nie zum Herrn der Erde, ja auch nur zum Leitfossil des geologischen Zeitalters des Menschen gemacht. Nur als homo faber, nicht als homo ludens oder homo divinans ist er dazu geworden. Und damit erkennen wir von einer neuen Seite her, was ich in anderen Zusammenhängen mehrfach dargelegt habe, dass der Verstand die eine unmittelbar erdzugekehrte, dem Erdgeschehen eingeordnete und ihm in allen Hinsichten angemessene Fähigkeit des Menschengeistes ist. Die Gesetze der Mathematik und der Logik sind keine anderen als die der gesamten anorganischen Natur, soweit diese den Menschen unmittelbar affiziert. Soweit das Naturgeschehen ein mechanischer Vorgang ist, ist es das Denken auch. Das Denken ist damit das eine Verbindungsglied zwischen Materie und Geist. Aber alles Be-Greifen nimmt mit Greifen überhaupt seinen Anfang. Heute ist durch exakte Forschung festgestellt, dass Kopf und Hand weit inniger zusammenhängen, als man früher annahm. Auf höchster Stufe beweist dies die Handschrift: keine Nuance innerer Dynamik, die im Falle solcher, denen das Schreiben ein normales und ungehemmtes Ausdrucksmittel ist, die Handschrift nicht wiedergäbe. Den gleichen Zusammenhang zwischen Kopf und Hand beweist die geistige Bedeutung der Pinselführung beim Maler, des Anschlags beim Musiker. Beide wissen mit dem Kopfe meist erst, nachdem sie gehandelt
, d. h. mit der Hand Bewegungen ausgeführt haben. Die Bestimmung des Menschen als des handelnden Tiers
, welche Gehlen gegeben hat, greift überhaupt tiefer als die übliche des denkenden
. Er handelt nämlich in den meisten Fällen, wo das Tier auf eine bestimmte Weise muss
, aus seiner schöpferischen Indifferenz heraus; grundsätzlich kann
er überall auch anders
. Und alles Handeln hat an der Auswahl mittels der Hände seinen Prototyp.
Ganz besonders nun geht alles Be-greifen vom Greifen der Hand aus. Nicht nur ein Rodin dachte
ursprünglich mit den Fingern, sie und nicht die artikulierte Sprache, schon gar nicht artikulierte Begriffe, sind das primäre Denkinstrument. Nachdem der Mensch gesehen hat, tastet er zunächst, er misst, versucht, bastelt, zählt mit den Händen, kombiniert mit ihnen, und als Ergebnis komplizierter Hantierung bildet sich zuletzt der abstrakte Begriff, der im Gesetz den Sonderfall vorwegnimmt und durch Erfindung der Maschine direktes Hantieren überflüssig macht. Ursprünglich tut der Mensch nicht, was er denkt, sondern er denkt, was er tut. Nicht anders haben sich verstandesbegabte Völker das Schaffen des Weltschöpfers vorgestellt: von Jehovah hieß es, die Welt sei seiner Hände Werk
. Wie tief der Glaube an den Primat der Hand im Menschen wurzelt, beweist das unvergleichliche Prestige, das unter Schöpfern der bildende Künstler, sonst aber der ausübende gegenüber dem erfindenden im Volk genießt. Es ist, wohlgemerkt, nicht die Arbeit
, welche dieses Prestige genießt, sondern die Meisterschaft im Hantieren. Im Begriff der Meisterschaft nun ist das selbstverständliche Zusammenwirken von Kopf und Hand und damit von Geist und Materie vorausgesetzt, und von hier aus sieht man, warum es richtig ist, auch im höchsten Künstler, so wie dies die Griechen taten, zunächst den Handwerker zu sehen. So genoß auch das Schreibenkönnen ursprünglich nur als Kalligraphie Prestige, so wie es andererseits größte Geisteskonzentration voraussetzte. Es ist unmöglich, assyrische, ägyptische oder chinesische Schrift zu lesen und darum auch zu schreiben, da ja alles Lesen zunächst ein Nachschreiben bedeutet, ohne dabei schärfer zu denken, als beim Lesen eines normalen philosophischen Werks dieser Zeit erforderlich ist. Ursprünglich sollte die Schrift gerade nicht jedermann zugänglich sein. Mit der Erfindung der ersten, welche das Eigendenken beim Lesen beinahe ausschaltet, nämlich der Maschinen-Schrift, hat diese auch ihre Eigenschaft unmittelbarer Geistesausdruck zu sein, verloren. Demgegenüber denke man an das, was schöne Handschrift in China und Japan noch heute bedeutet! In den Augen fernöstlicher Kunstkenner hat manche Handschrift mehr Wert als ein Meisterwerk der Malerei.
Doch beim Künstler und sonstigen Geistesschöpfer handelt es sich wesentlich nicht um den Typus des Verstandesmenschen: deren Bei-spiel führte ich hier nur an, um die Bedeutung der Hand und des Hantierens von vornherein über jeden Zweifel erhaben erscheinen zu lassen; denn jeder Künstler ist unzweifelhaft auch Handwerker. Die geistige Funktion, welcher die Hand zum ursprünglichen Ausdrucksmittel dient, ist der Verstand, die unbedingt praktisch ausgerichtete und zweckhafte, dem Erdleben zugekehrte unter den Geistesfähigkeiten. Und spielt die Hand eine scheinbar noch größere Rolle im Falle künstlerischen Könnens, so bedeutet dies, dass dieses Können Materialisierung des Geistigen bezweckt. Bei deren Ausführung ist aber auch hier in erster Linie Verstand am Werk, denn er ist das Organ der Materialisierung des Geistigen überhaupt; er allein arbeitet und kann darum allein auch ausarbeiten. In den Seelenraum fallen die Bilder freilich unabhängig von aller Verstandesfähig- und -tätigkeit und auch unabhängig von aller Handfertigkeit ein; doch wo Verstand im Sinne inniger Verbindung von Kopf und Hand fehlt, da fehlt eben die Ausdrucksfähigkeit, und dort gelingt darum die Verkörperung des Geschauten und sonst Eingefallenen schlecht. Der Materialisierungsprozess nun erfordert allemal so lange Arbeit im richtigen Sinn des Handwerkers, bis dass die Bahn vom Geist zur Materie so gut eingefahren ist, dass die Ausführung unwillkürlich oder, wie man sagt, von selbst
gelingt. Ist daher jemand so genial geboren, dass er ohne Lernen und Übung die Technik beherrscht, so bedeutet dies, dass der motorische Teil seines psychophysischen Organismus insofern einer Maschine gleicht. Ich kenne solche Menschen, die nicht nur nicht zu üben brauchen, sondern denen Üben offenbar schadet: bei Befragung stellte es sich in allen diesen Fällen heraus, dass sie wirklich mit der Reibungslosigkeit der Maschine ihre Leistungen ausführten und sich darum des Wegs des Zustandekommens derselben, der allemal ein phantastisch kurzer war, überhaupt nicht bewusst waren. Heute erscheint bei den meisten, welche geistig arbeiten, das Vorstellen und Denken vom Ausdruck dissoziiert. Aber eben darum reden und schreiben sie so schlecht. Den meisten echten Schriftstellern ist es heute noch unmöglich, ihre Einfälle vollendet zu fassen, ohne sie persönlich niederzuschreiben; ja, meist spüren sie am Drang, zum Niederschreiben allererst, dass neue Einfälle der Materialisierung harren. Von vornherein diktieren lässt sich nur vollkommen Ausgereiftes. Gilt es, Werdendem einen Ausdruck zu schaffen, dann muss die Hand dem Gedanken zum unmittelbaren Ausdrucksmittel dienen. Wo es ohnedem gut geht, da handelt es sich um eine neue Art der Arbeitsteilung: die Führenden und Leitenden begnügen sich damit, Einfälle überhaupt zu haben, und überlassen jede weitere Ausgestaltung anderen. Aber eben darum gibt es heute so wenige Äußerungen bedeutender Menschen, welche als Kunstwerke wirken. Wohl zum ersten Mal in der Geschichte reden und schreiben unzweifelhaft bedeutende Menschen häufiger schlecht als gut. Und, um auf die ursprüngliche Verbindung von Kopf und Hand zurückzukommen: ich spüre einen deutlichen Qualitätsunterschied zwischen dem, was als eigenhändige Hand- oder als eigenhändige Maschinenschrift in die Welt des Erscheinenden einbrach.