Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der substantielle Geist

Blind wie die Sonne

In wie phantastischem Grade verschleiernd und verfälschend das Zwischenreich zwischen der Vorstellung und dem ursprünglichen Sein des Menschen steht, beweist nichts eindrucksvoller als das Gesamtbild der bisher historisch bedeutsam gewordenen Theorien vom Geist. Entweder es gibt eine eigenständige Wirklichkeit, auf welche dieses Wort hinweist, oder aber es gibt sie nicht; wenn es sie gibt, dann muss sie bestimmte nachweisbare Qualitäten haben: auf diese eigentlich selbstverständliche Weise wurde die Frage meines Wissens nie gestellt. Dabei ist die geistige Wirklichkeit früher als irgend eine seelische und materielle in ihrem so-und-nicht-anders-, in ihrem von-anderen-unterschieden-Sein wahrgenommen worden. Dies gilt nicht allein von frühen und primitiven Menschen, es gilt sogar von Tieren. Spürt ein Tier die Überlegenheit des Menschen überhaupt, dann spürt es dieselbe im Verstande geistiger Überlegenheit; darum lässt es sich vom Menschen allein zähmen, sucht es in kritischen Lagen Zuflucht bei ihm. Alle Hierarchie unter Primitiven — und kein Primitiver lebt ohne solche — drückt Unterschiede realer geistiger Macht aus. Jedes Kind spürt den Unterschied zwischen überlegener und nichtüberlegener Persönlichkeit. Nur wer sich selbst beherrscht, kann andere ohne Zwang beherrschen, dann aber tut er es unwillkürlich; umgekehrt aber wird der Herr seiner selbst ebenso unwillkürlich von Unbeherrschten als Wesen höherer Art anerkannt. Gleiches gilt mutatis mutandis auf Stufen größerer Wachheit vom Zauberer, vom Schöpfer, vom Heiligen. Hier wird seitens unverbildeter Gemüter ursprünglich richtig differenziert und zwar unter Wahrnehmung feinster Qualitäts- und Gradunterschiede.

Es ist nicht wahr, dass unter Menschen jemals für die Dauer rohe Kraft entschiede, wie unter Pavianen, bei welchen das stärkste Männchen selbstverständlich herrscht es herrscht der Mut, der sich der materiellen Macht bedient, der Glaube, welcher den Mut auf bestimmte Aufgaben hinlenkt; es herrscht die aus innerer Distanz geborene Kraft der Formgebung, und letztlich, in beliebiger Darstellung, das überlegene Sein. Damit aber herrscht Autorität im Unterschiede von Gewalt, über feste und dauerhaft und tief begründete Macht — was immer auf dem Weg der Machtergreifung erforderlich war — verfügt derjenige allein, welcher ihr Dasein nicht von Fall zu Fall durch gewaltsamen Eingriff zu beweisen braucht. Autorität nun ist ein rein Geistiges, aus eigenem Rechte Lebendes: sie beruht wesentlich nicht auf dem, dass andere sie anerkennen, auch nicht auf Prestige, welches chronisches Angestecktsein durch bestimmte, häufiger falsche als richtige Vorstellungen bedeutet, sondern auf realer Ausstrahlung überlegenen Seins. Der letzte Sinn und Zweck alles Kampfes und aller Leistung, welche der Begründung von Autorität vorangehen, wo diese nicht überlieferungsmäßig besteht, ist der, auf das Dasein jener Ausstrahlung aufmerksam zu werden oder zu machen. Denn freilich muss Geist bemerkt werden, um sich wesensgemäß auswirken zu können.

Im Sinn des Ausgeführten nun lebt und erlebt jeder nicht stumpfe Mensch von Adam an; nur hat er sich selbst in dieser wichtigsten Hinsicht selten unbefangen gesehen und darum kaum je auch nur einigermaßen richtig verstanden. Immer ging er, sobald sich die Frage des Verstehens stellte, von einer vorgefassten Meinung aus. Alle bisherigen Philosophien begannen mit einer Definition vom Geist, welche sie überdies von irgend einer früheren abgeleitet hatten und folgerten daraus weiteres, falls sie nicht gar ins Blaue hineinkonstruierten. Gleichsinnig gingen alle bisherigen Theologien von einem System von Dogmen aus, deren Berechtigtheit sie garnicht in Frage stellten. Alle diese Machenschaften haben nun freilich ihren guten Grund: sie schaffen oder sind Festigungsmittel sonst auseinanderstrebender Teile des jeweiligen Zwischenreichs. Hier ist unsere Scholastik Prototyp: nachdem das geglaubte oder zu glaubende Lehrgebäude einmal feststand, andererseits aber auch Verstehen-Wollen nach freier Betätigung drängte, wurde dieses unter Aufbietung von seither selten wieder erreichtem Scharfsinn dazu verwandt, die Richtigkeit des Geglaubten zu beweisen. Das unheimlichste Beispiel eines von starren Dogmen umgrenzten, für seine Existenz kämpfenden Zwischenreiches bietet, zur Zeit da ich dies schreibe, das kommunistische Russland: dessen Bau besteht völlig unabhängig von der ursprünglichen Wahrheit, und so lange er in keiner Gewohnheit ein festes Fundament hatte, stand und fiel er mit der Möglichkeit permanenten Terrors.

Ging das Verstehen-Wollen jemals eigene, aus dem Zusammenhang des jeweiligen Zwischenreichs gelöste Forscher-Wege, dann führte das schicksalsmäßig zur Zerstörung dieses. Daran verdarb die hellenische Kultur, verdirbt seit einigen Jahrhunderten unaufhaltsam, und zwar mit immer größerer Beschleunigung, die christliche. Eine dauerhafte Lehre vom Geist wird es dann erst geben können, wenn dessen Wirken und Sein unabhängig von allen Zwischenreichsbildungen, also in seinem ursprünglichen Da- und Sosein, festgestellt und verstanden ist. Dazu fehlen aber bisher alle Ansätze. Ich weiß von keiner Theorie vom Geist, die nicht von Vorstellungen ausginge, deren Wirklichkeitsgemäßheit erst zu erweisen wäre und bei genauem Hinsehen nicht zu erweisen ist. Dass die Geistvorstellungen der Primitiven ungegenständlich sind, behaupten, überlegen lächelnd, nur solche, die von Philosophie und Psychologie nur aus Millionen auf einmal verständlichen Feuilletons wissen. Tatsächlich sind sie wirklichkeitsgemäßer als die meisten modernen Theorien, so unzulänglich und irreführend der Ausdruck des Gemeinten meistens sei: die von der wissenschaftlichen Zunft hochangesehenen Theorien meinen nicht einmal Wirkliches: auf die allermeisten trifft die boutade des großen Charcot zu:

les théories, ça est bien, mais enfin on existe.

Vergessen wir darum alle überlieferte Vorstellung und sehen wir uns den Sachverhalt so unbefangen an, als ob ihn keiner vor uns wahrgenommen hätte.

Da springt uns denn als erstes ein Tatbestand in die Augen, dessen Bemerktsein allein genügt, um alle überkommene Theorie erledigt erscheinen zu lassen: nicht nur die Gana, das Ur-Leben, auch der Geist in seinem Primärausdruck ist blind. Sich selbst sieht und versteht er überhaupt nicht, die vorgegebene äußere Wirklichkeit aber überschichtet er als erstes mit Vorstellungen eigenen Gewächses, die es ihm unmöglich machen, die Dinge so wahrzunehmen, wie sie unabhängig von geistigen Vorurteilen sind. Nur dieser im weitesten Verstande ist er sich ursprünglich bewusst — wo überhaupt Bewusstsein vorliegt, welches sehr wohl fehlen kann. Da hier sein Allereigenstes in Frage steht, handelt es sich bei diesem Bewusstsein um ein ebenso in-sich-Gekehrtes, wie bei Organempfindungen, z. B. dem Schmerz; es handelt sich nicht um Sehen. Freilich ist der Geist nicht im gleichen Sinne blind wie die Gana, deren Welt eine nie erleuchtete Finsternis ist. Der Geist belichtet — nur sieht er zunächst selber nichts. Er ist blind wie die Sonne, die uns das Licht schenkt, ohne selbst zu sehen. Dank ihm sehen jeweils Andere, und sind diese Anderen Geister seiner Art, so ändert das nichts an der Lage des Problems. Mit dieser Behauptung übertreibe ich freilich ein wenig, doch ich tue es absichtlich, weil so allein die wirklichkeitsgerechte Fragestellung zu gewinnen ist; die erforderliche Richtigstellung wird geeigneten Ortes unschwer vorzunehmen sein. Dank dieser Übertreibung, die ich als Hilfskonstruktion zu akzeptieren bitte, gelingt es nämlich am leichtesten, um die übliche und, wie alle Erfahrung lehrt, so verhängnisvolle Scheidung zwischen Bewusstem und Unbewusstem herumzukommen. Es ist garkeine Frage, dass das geistig-Wirkliche im Menschen ursprünglich genau so vom Unbewussten her wirkt, wie die Gana, und dass es nicht die Regel, sondern seltene Ausnahme ist, wenn gerade der geistige Mensch, der aus dem Geiste lebt und Geistiges schafft, dabei übersieht und weiß, was er tut, und die Bilder, welche ihm einfallen, wirklichkeitsgemäß deutet. Es haben vielmehr beinahe alle, welche von Adam an auf Erden geistig wirkten, sich selber missverstanden, und erst Jahrhunderte später gelang es je und je, den wahren Sinn ihres Wirkens einzusehen. Denn ist der Geist ein Wirkliches, dann kann dessen wahrer Sinn nur der sein, der sich an der Erfahrung als Wirklichkeit erweist; Meinung und Absicht, insonderheit gute Absicht, besagen und beweisen garnichts.

Welcher große Täter nicht allein — nein auch welcher Denker, Künstler, Prophet und Religionsstifter hat jemals wirklich gewusst, was er tat? Ich für meine Person weiß von keinem einzigen. Erst neuerdings sind wir dank der Philosophie der Sinneserfassung und der Theorie und Praxis der Tiefenpsychologie einigermaßen in der Lage, durch die Vorstellungen hindurchzusehen, den Sinn jenseits des Buchstabens zu schauen und damit alles Empirische als Sinnbild aufzufassen. So wissen wir erst im 20. Jahrhundert einigermaßen, was der christliche, platonische, der gnostische, der buddhistische Impuls usf. ursprünglich bedeutet haben. Freilich: auf Grund des Satzes

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,

welchen Jesus auch nur formulierte, nicht etwa als erster aufstellte, hätte man schon seit Jahrhunderten von der Auswirkung auf den Ursprung schließen können. Und auf der Ebene des historischen Geschehens ist dies auch meist irgendeinmal, zumeist an kritischen Punkten und Wenden, geschehen, denn hier springt die Selbstentwicklung der Idee, um mit Hegel zu reden, in die Augen. Es ist zwar nicht geschehen im Sinne richtigen Urteils, sondern des Ziehens praktisch richtiger Konsequenzen. Und so ist praktisch wieder und wieder auch mit der Wirklichkeit des Geistes richtig gerechnet worden. Darum ist je und je dieser oder jener Geist unter Ausschluss anderer bekämpft oder gefördert worden.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der substantielle Geist
© 1998- Schule des Rades
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