Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der substantielle Geist

Wirklichkeit und Vorspiegelung

Vorschauend richtig haben den Zusammenhang nur die altchinesischen Staatstheoretiker gesehen, welche jede historische Wandlung um fünfundzwanzig Jahre vorausdatierten, weil das Entscheidende nicht die erwachsene Gestalt eines historischen Sinnes sei, sondern dessen Keim, der ob seiner Weichheit und darum Wandlungsfähigkeit auch allein der Beeinflussung zugänglich ist. Und dann haben natürlich alle echten Propheten richtig gesehen, welche dank ihrer ursprünglichen Schau des Werdens im Unterschied vom Gewordensein die allgemeine Entwicklung wie selbstverständlich vorauswussten. Wie trostlos steht es demgegenüber mit der Theorie! Eigentlich alle Zusammenhänge, welche je von Historikern und Geschichtsphilosophen behauptet wurden, sind falsch gesehen oder so nicht vorhanden. Auf beinahe alle trifft meines Onkels Eduard Keyserlings, des Dichters, von mir schon früher einmal veröffentlichte Karikatur jeder bisherigen Literaturgeschichte zu:

Im Dezember des Jahres 1748 begegneten Schillers Eltern einander zum ersten Mal. Neun Monate darauf wurde Goethe geboren.

Aber seien wir gerecht: Gelehrte können es garnicht besser wissen: von allen Typen sind sie bei größter geistiger Interessiertheit die ungeistigsten, denn sie verkörpern keinen Geist, sie spiegeln ihn nur, und wer das Wesentliche nicht erlebnismäßig kennt, kann unmöglich richtig, oder wo er vom Eigentlichen doch eine leise Ahnung hat, unverzerrt spiegeln. Darum ist der Gelehrte rückwärts gewandt, ein Epimetheus, kein Prometheus, und die Geronnenheit des Gewordenseins gibt kein richtigeres Bild vom Wesentlichen der Geschichte, wie die Leiche vom lebendigen Organismus. Leben und Werden stehen und fallen mit einander und eben darum Leben und Zeit, das aber will immer sagen, gegenwärtig verfließende Zeit. Sobald die Zeit stillsteht, gibt es kein Leben im irdischen Verstande mehr.

Wir nun können bereits aus dieser kurzen Zusammenschau von Wirklichkeit und Vorspiegelung, von Verstehen und Nicht-Verstehen erkennen, dass Geist eine konkrete Wirklichkeit ist und dass auf seinem Dasein der Nachdruck ruht, nicht darauf, ob er bewusst wird oder geworden ist, oder aber nicht. Im Großen und Ganzen schafft er auch bei den wachsten Völkern des zwanzigsten Jahrhunderts genau so unbewusst und aus dem Unbewussten heraus und unabhängig von allem Richtigverstehen, wie vor Urzeiten. Von jedem großen Staatsmann gilt heute noch Gleiches wie von Cromwell, der da auf Grund seiner Lebenserfahrung behauptete, der Mensch schreite niemals so sicher voran, als dann, wo er nicht weiß, wohin sein Weg ihn führt. Kein geistiger Schöpfer hat je von vornherein verstanden, was er tat, zumal seine Frühwerke meist archaische Umrisszeichnungen dessen oder Hinweise darauf waren, was viel später erst vollendete Ausgestaltung erfuhr. Allenfalls verstand er es rückblickend in seinem Alter, meist aber sind erst späte Nachfahren zur richtigen Einsicht gelangt. Man denke nur an Caesar, welcher als Sein aller späteren europäischen Geschichte die Richtung gab, doch persönlich nur gerade Erreichbares betrieb und Unerreichbares plante; darum konnte Augustus, der große Realist, nur des Pompejus und nicht Caesars Ideen verwirklichen. Man denke an Jesus, dessen persönlicher Glaube ganz auf das nahende Weltende eingestellt war, an Dante, der das Germanische Imperium restaurieren, an Luther, welcher die katholische Kirche, ohne sie in irgendeinem Wesentlichen anzutasten, reinigen wollte, in Wahrheit aber die Axt an die Wurzel der Kirche überhaupt legte. Vor allem aber merkt der einen bestimmten Geist verkörpernde und aus ihm heraus lebende Mensch normalerweise nicht, wie sich seine Wirklichkeit zu derjenigen anderer verhält. Von deren Standpunkt lebt er aus seiner Phantasie, aus seinem Traum heraus. Er kann überdies für bestimmte Wirklichkeiten blind sein, nicht nur für äußerliche Beziehungen, wie soziale, politische, geschäftliche, sondern auch für Werte. Es gibt spirituelle Blindheit, moralische (moral insanity), aesthetische. Hier handelt es sich um spezifische Begabung oder nicht-Begabung; es gibt religiöse und moralische Begabung, wie es musikalische gibt. Vom unbeirrbar Glaubenden her ist das Phänomen der Blindheit des Geistes männiglich bekannt. Aber irgendwie blind ist jeder, der überhaupt eine autonome geistige Welt hat. Unter allen Umständen ist jeder echte Geist als solcher das Gegenteil eines Diplomaten, welcher in erster Linie die Stimmungen Anderer bemerkt und sich auf diese einstellt. Er ist als Geist einfach da und lebt sich unbeirrt und unbeirrbar aus, ohne auch nur zu versuchen, zwischen sich und anderen eine kompromisshafte Gleichung herzustellen. Eben darum stellt der Mythos die Lichtgestalten der großen Helden, die gerade Geist verkörperer waren, ausgesprochen unklug dar; klug war nicht Siegfried, sondern der häßliche und böse Mime. Aber eben dieses kompromisslose Sein des Geistes setzt sich durch. Hierauf beziehen sich die Erfahrungssätze, dass die Menschen so wirken, wie sie sind, und dass die Weltgeschichte das Weltgericht ist.

Was nun im Großen von der Geschichte gilt, gilt im gleichen Sinne und Maße vom Privatleben allerengster Kreise, und damit vom Leben jedes Einzelnen. Letztlich bestimmen immer und überall konkrete Geister; das und nichts anderes sind nämlich die Persönlichkeiten, auf deren So- oder Anderssein alles ankommt, und dies zwar in allen Hinsichten, nicht nur in Fragen persönlichen Glücks. Hier hat der Roman und nicht die Geschichtsphilosophie als wenigst verzerrender Spiegel der Wirklichkeit zu gelten. Im Vorwärtsstreben eines Menschen arbeitet sich ein Geist in der Interferenz mit anderen Geistern herauf. Mögen hier Amtlichkeiten und Sachlichkeiten das ursprünglich-Geistige noch so sehr zu neutralisieren oder zum besten von Ungeistigem (Leistung, Nützlichkeit, Anciennität, Rang, Interessengemeinschaft) seiner Bedeutung zu entkleiden trachten: sobald erheblicher Geist mit anderen interferiert, erweist er sich immer als ausschlaggebend aller Übermacht des Äußerlichen zum Trotz, auch wenn er unterwegs zur Selbstverwirklichung als empirische Verkörpertheit zu Grunde geht. Das und nichts anderes bedeutet jene unbeirrbare und unaufhaltsame Durchführung der Linie persönlichen Schicksals, die sich bei allen Menschen feststellen lässt, welche überhaupt ein Schicksal haben. Dieses Schicksal ist nämlich nichts anderes als die Selbstentwickelung eines persönlichen Geistes, welcher die Außenwelt, in die er hineingestellt ist, erobert und damit alles Geschehen, welches ihn angeht, auf sich zurückbezieht und ihm seinen persönlichen Stempel aufdrückt. Das persönliche Schicksal bedeutet genau das Gleiche, wie die Entwicklung eines historischen Geistes vom Keime zur erwachsenen Gestalt, und von dort her weiter, bis dass sie schließlich einmal die Grenzen ihrer Wandelbarkeit und damit Lebensfähigkeit erreicht. Es bedeutet genau Gleiches, ob ein großer persönlicher Geist seine persönliche Bestimmung erfüllt und dabei schließlich untergeht, wie dass Völker selten mehr als eine Akme (so hießen die Griechen den absoluten Höhepunkt jeweiligen Lebens) erlebten und nach deren Aufhören im Reiche der Bedeutung von anderen in den Hintergrund gedrängt wurden.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der substantielle Geist
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME