Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der substantielle Geist

Heiliger Geist

Es ist nun aber nicht gleichgültig, nach welchem bestimmten Ziele und auf welchem bestimmten Wege einer strebt, auch wo des Strebens Urquell der gleiche ist: jede bestimmte Zielsetzung führt zu bestimmter Gestaltung, und zu solcher, welche den Ursprung unmittelbar zum Ausdruck bringt, führt nur mit der Aufbietung aller Kräfte unmittelbar auf den Ursprung gerichtetes konsequentes Streben. Sonst macht es auf irgendeiner Station des Zwischenreiches halt. Hier wurzelt denn die Hierarchie der Werte. Die Welt des Geistes ist streng hierarchisch geordnet in der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes, welches heiligen Uranfang und Hinordnung auf diesen meint. Hier gibt es kein gleichgültiges und gleichwertiges Nebeneinander, hier gibt es nur Über- und Unterordnung auf Grund des geistigen Ranges. Nicht jedoch in irgend einem äußerlichen oder auch nur äußerlich darstellbaren Verstand, sondern im gleichen streng realen Sinn, in welchem die Hand dem Kopf und der Leib dem Geiste untergeordnet ist. Nur mit dem Unterschied, dass, entsprechend der Sonderart der geistigen Welt, jeder bestimmte und an und für sich niedere Sinn Ausdrucksmittel höherer werden kann. Kein bestimmter Sinn ist absolut letzte Instanz, und mittels des Prozesses des Durchschauens oder Hindurchwirkens kann Teilhabe am ursprünglichen Sinn und Geist auf jedem nur möglichen Wege erfolgen — vorausgesetzt, dass dieser und seine besonderen Modi und Zielsetzungen nicht als letzte Instanzen missverstanden werden. Insofern und nur insofern kann sowohl der Weg des Schönheitsstrebens wie derjenige des Muts wie der des Glaubens, des Verstehenwollens, der Liebe, des Werks oder schließlich der undifferenzierten Sehnsucht nach dem ursprünglich Höchsten diesem zuführen.

Wie äußert sich nun das Höchste durch Niederes hindurch, oder wie führt, umgekehrt, bejahtes Niederes Höherem zu? Es führt ihm so zu, dass eine jeweils tiefere Schicht im eigenen Inneren durch entsprechende Praxis vitalisiert und zum Mittelpunkt des Bewusstseins konstituiert wird. Wenn, laut einer Legende, bei der Jordanstaufe der Geist Jesu aus diesem ausging und derjenige Christi seine Stelle einnahm, oder wenn Paulus aus innerster Erfahrung sagen durfte, nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir, so bedeutet das eben dies. Wer immer entsprechend betet oder meditiert oder auf den Wegen der Liebe oder des selbstaufopfernden Muts sein Ich überwindet, kann es erleben, dass dieses, bisher seine letzte Instanz, durch ein Anderes und Höheres ersetzt wird. Dieses Andere transfiguriert alsdann das Vorherbestehende. Dieses Andere kann nun im Höchstfall tatsächlich der geistige Ursprung selber sein. Doch welchen Grades und Ranges das betreffende Andere und Höhere immer sei, es spricht zum Menschen als Stimme, als Daimonion. Oder aber es führt ihn, gewöhnlich von außen her, mittels der Rückwirkung äußerer Begegnungen und Erlebnisse, auf eine geheimnisvolle Weise, der wir uns erst im letzten Kapitel zuwenden können; es führt nicht selten auch mittels unverstandener als Drang wirkender innerer Führung. Auf letztere hat das Urchristentum den Hauptnachdruck gelegt; es nannte es Führung durch den Heiligen Geist. Und immer wieder ist die urchristliche Tradition aus Zwischenreichsgebilden neu herausgeschält und zum Zentralerleben des Christen gemacht worden. So mehr denn je, in weiteren Kreisen wohl als jemals früher, in dieser unserer als geistfeindlich verschrienen Zeit.

Der Begriff des Heiligen Geistes ist nun der gegenständlichste, der sich vom von uns fassbaren Höchstausdruck ursprünglichen und substantiellen Geistes überhaupt bilden lässt. Denn seine Existenz — gleichviel was sie an sich sei — ist zu erweisen, diejenige Gottes oder der Gottheit aber nicht. Man sagt als Wirklichkeit Erweisliches, wenn man sich vom Heiligen Geiste geführt heißt, vorausgesetzt, dass man sich in der Beurteilung seines Erlebens nicht irrt; nicht jedoch, wenn man behauptet, von Gott geführt zu werden. Nur Geist als solcher ist Menschen-Erleben zugänglich, und neben anderem gibt es unbestreitbar auch heiligen Geist. Deswegen kenne ich auch keinen wirklichkeitsgemäßeren Mythos aus geschichtlicher Zeit — gleichviel wie es mit der historischen Wirklichkeit steht — als den von der Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Apostel. Dieser allein kann nämlich in der Welt der Erscheinung ausgegossen werden, derjenige Gottes hingegen nicht. Mit bejahender Antwort auf die Frage, ob es Heiligen Geist gibt, steht, mit verneinender fällt die Notwendigkeit, die ursprüngliche geistige Wirklichkeit anzuerkennen, welche alle überlieferten hohen Religionen und Metaphysiken behauptet haben. Für Christen insbesondere ist die Frage von ausschlaggebender Bedeutung, denn bei bejahender Antwort allein sind die nie mehr als angedeuteten und gestammelten und in Anbetracht der unaufhaltsamen Entchristlichung für Christen einzig zukunftsweisenden frühen Lehren haltbar, gemäß welchen auf das Zeitalter des Sohnes dasjenige des Heiligen Geistes folgen werde, in welchem jeder direkt, ohne Vermittler, zu Gott werde in Beziehung treten können, so wie dies der als Gottes Sohn Verehrte selber tat. Jesus selbst hat sich, laut den Evangelisten, viele Male dahin geäußert, dass die Sünde wider den Heiligen Geist eine schlimmere sei, als jede Sünde wider den Sohn. Dass die Kirche als Vertreterin des Zeitalters des letzteren sich zum Heiligen Geist gerade nur bekannt hat, war und ist eine Selbstverständlichkeit; es beweist schon sehr tiefe Einsicht seitens ihrer ersten Väter, dass sie so weit ging. Heute stellt sich die Frage, ob es Heiligen Geist gibt, gebieterisch. Von der Kritik her ist wohl zu erweisen, dass es metaphysische Wirklichkeit gibt, nicht jedoch, dass diese mehr oder anderes sei, als das Leben überhaupt, jenes subjektive Prinzip, das auf der Ebene der Gegenstände nicht mehr zu begreifen ist; nicht ist zu erweisen, dass der Geist anderes sei als ein Ausdruck oder Attribut des Lebens. Die Unmöglichkeit eines Beweises für das Dasein Gottes erwies schon Kant. Unser erstes Kapitel aber hat, wie mir scheint, über jeden Zweifel hinaus deutlich gemacht, dass kein metaphysisches oder theologisches System auf Richtigkeit Anspruch erheben kann. Denken kann jeder nur für sich allein. Alle Begriffskonstruktion hat das Ich zur obersten Voraussetzung und ist darum unfähig, aus dessen Umkreise hinauszuführen.

Es gibt nun ohne jeden Zweifel im oben fundierten völlig undogmatischen Verstande Heiligen Geist. Dieser kann über den Menschen kommen, er kann ihn erleuchten, transfigurieren. Der Heilige ist nichts anderes als der durch ihn Transfigurierte, und kein einsichtsfähiger Mensch bezweifelt, dass der Heilige der durchgeistigtste aller Menschentypen ist. So führt denn die Erkenntnis des Daseins eines substantiellen Geistes auch zur Anerkennung des Daseins eines Heiligen Geistes. Er nun, der Heilige Geist, ist der Ursprung wie der Sinn wie das Mittel und Ziel zugleich aller Religiosität. In seinem Werden des Gottesglaubens, welches Buch übrigens auch die tiefsinnigste mir bekannte Behandlung der Mana-Vorstellung enthält, schreibt Nathan Söderblom (S. 179 bis 181 der zweiten deutschen Ausgabe):

Das, was entscheidend dafür ist, wieweit wirkliche Religiosität zu finden ist oder nicht, ist nicht die Ausgestaltung eines Gottesglaubens, sondern die wirkliche Empfindung des Göttlichen; mit anderen Worten: die Befruchtung des Sinnes durch das Heilige. Es kann eine Gottesidee geben ohne die wesentlichen Merkmale echter Religion. Hält ein Mensch nichts für heilig, so ist er nicht fromm, selbst wenn er in seiner Weltanschauung der Gottesidee einen Platz gibt. Demgemäß ist die beste Definition persönlicher Religion: Fromm ist, wer etwas für heilig hält, und das Hauptmerkmal der institutionellen Religion ist die Unterscheidung des Heiligen vom Profanen. Kein Wort der Sprache ist für die Religion so kennzeichnend wie tabu-heilig. In gottesgläubiger Frömmigkeit ist Heiligkeit die göttliche Eigenschaft vor allen anderen. Heilig war in seinem Ursprung ein religiöser, kein sittlicher Begriff, und es ist merkwürdig, welch zähe und stets sich verjüngende Kraft dieses Wort tabu-heilig besitzt. Noch heute ist eine religiöse Bedeutung von heilig nicht zu trennen. Heilig bedeutet Übernatürlichkeit, und da man in den Offenbarungsreligionen das Übernatürliche als persönliche Gottheit erkennt, Göttlichkeit. Es beruht ferner auf dem, worin man das Übernatürliche sucht. Es kann ein Wunder sein. Oder es kann im sittlichen Heroismus liegen. Im gleichen Maße, wie Religion und Gottesglaube ins Ethische sich entwickelte, wurde das Wort heilig mit sittlich-ideellem Wert erfüllt. Aber niemals ist es zu einem bloß sittlichen Terminus verwandelt worden. Das Wort Heilig verhindert unwillkürlich und unbedingt die Sprache, eine zu bloßem Moralismus abgestumpfte Religion anzuerkennen. Heilig geht nicht restlos in gut auf. Man kann Gründe für und wider anführen, wenn es sich darum handelt, ob etwas gut oder schlecht, recht oder unrecht, wahr oder falsch ist. Aber versucht man einmal die Alternative heilig-profan in einen solchen Zusammenhang einzufügen, so spürt man sofort das irrationale Widerstreben gegen einen solchen Versuch. Wird heilig auf das sittliche Leben angewandt, so bezeichnet es dessen religiös-metaphysischen Hintergrund. Das Wort heilig setzt dann den Charakter eines Menschen in Zusammenhang mit einer übermenschlichen Welt. Es besagt, dass man in einem solchen Menschenleben etwas von Gottes Macht und Wunder verspürt. In seiner eigentlichen Anwendung auf die Gottheit bezeichnet das Wort heilig das Wesen Gottes. Heiligsein heißt dem höheren Leben zugehörig oder Gott zugehörig sein. Das angeführte mag dartun, dass, um Religion zu entdecken, von der primitivsten Gesellschaft ab bis in die höchste Kultur, der Gegensatz heilig-profan eine bessere Wünschelrute ist als die Gottesvorstellung.

Diese Zeilen las ich, nachdem ich das vorliegende Kapitel sonst bereits vollendet hatte. Zweifellos hat der große Schwede recht damit, den Begriff der Heiligkeit dem der Gottheit ursprünglich voranzustellen. Eben darum aber ist der Heilige Geist, dem Menschen wohlvertraut, des Menschen eigentliches Verbindungsmittel mit dem Metaphysisch-Wirklichen.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der substantielle Geist
© 1998- Schule des Rades
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