Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Die Welt der Künstlichkeit

Künstlerische Phantasie

Im Vorhergehenden differenzierte ich nicht reinlich zwischen den Produkten des Denkens und denjenigen anderer und höherer Funktionen, insonderheit der künstlerischen Phantasie. Ich tat es nicht, weil solches Differenzieren in früheren Zuständen garnicht und auch in späten niemals reinlich gelingt. Die Organe des Geistes und der Seele, soweit man das ewig Wandelbare und Verfließende psychischer Funktionen und Gebilde überhaupt so heißen darf, sind nicht so voneinander geschieden und unterschieden wie diejenigen des Körpers; sie können einander vertreten und ersetzen und auf die unwahrscheinlichste Weise eines durch das andere oder gleichberechtigt eines mit dem anderen zusammenwirken. Ich werfe einige Beispiele aus den verschiedenartigsten Gebieten neben- und nacheinander hin. Psychologen haben festgestellt, dass es eine richtige Organsprache gibt, wobei die widrigsten Funktionen oft die Hauptrolle spielen. Das Allermateriellste kann bei entsprechender Meisterschaft höchst-Geistiges verkörpern; so das steinern Wuchtende des Domes den Christenglauben. Rein Mechanisches mag tiefste seelische Regungen vollkommen ausdrücken; so sind einige der Höchstschöpfungen Johann Sebastian Bachs, von ihrer materiellen Seite her betrachtet, eigentlich Fingerübungen. Sogar in meinen bisherigen Bestimmungen habe ich die Wirklichkeit mehrfach vergewaltigen weil vereinfachen müssen, um die bestimmten Arten des Seins und die bestimmten Richtungen der Entwicklung, die ich bestimmen wollte, gesondert deutlich zu machen. Auch jetzt noch muss ich, ehe ich weitergehe, eine künstliche Vereinfachung vornehmen, damit wenigstens einigermaßen einleuchtet, wie das rein-Geistige und das rein-Erdhafte im Menschen als Einheit zusammenwirken. Hier gilt ein Grundgesetz, welches wir einfach hinnehmen müssen, ohne es weiter erklären zu können, wie dies im übrigen von allen Gesetzen, außer denen unseres eigenen Denkens, gilt: das Grundgesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck.

Dieses Gesetz ist die Zusammenfassung vieler Sondergesetze, von welchen nicht alle, sehr genau genommen, auf einen Generalnenner zu bringen sind; doch für die Betrachtung aus der Distanz, welche wir hier einhalten, gilt das Gesetz genau genug. Da impliziert es denn: Sinn verwirklicht sich auf Erden genau proportional dem Grad, in welchem der Ausdruck ihm genau entspricht. Dieses Gesetz ist kein Naturgesetz, sondern eines der Symbolik und der Physiognomik oder vielleicht besser gesagt der Verkörperung überhaupt, als Möglichkeit ein vom Verstande nicht auflösbares Mysterium. Da aber der Mensch als verkörpertes Wesen, d. h. als Geschöpf, eben dieses Gesetzes inkarniert und ihm gemäß schafft, so leuchtet es jedem unmittelbar ein, welcher nur einmal darauf hingewiesen wurde. Es ist evident, dass jede Verkörperung von Geistigem in ihrem Wert und ihrer Dauerhaftigkeit davon abhängt, dass die Gesetze, die das Material regieren, genau befolgt werden. So kann man schon nichts eigentlich sagen, ohne die Grundgesetze der betreffenden Sprache in bezug auf Wortlaut, Grammatik und Syntax zu befolgen, und keinen Gedanken wirklich fassen, wenn man die Gesetze der Gedankenverknüpfung nicht berücksichtigt. Am deutlichsten erscheint die Gültigkeit dieses Gesetzes im Bereich der Wissenschaft. Deren gesamter Fortschritt auf den Gebieten der exakten Beobachtung einerseits, deren Zurückführung auf Theorien andererseits hat nur den einen Sinn, dass die Eigengesetze des Ausdrucks für den Sinn fortschreitend genauer befolgt werden. Und dementsprechend erweist sich die angewandte Wissenschaft, die Technik, immer mächtiger. Vom Anfang der Menschwerdung an haben hohe und tiefe Geister alle Wahrheit geahnt. Doch da sie die Gesetze des Ausdrucks nicht kannten und beherrschten, so konnten sie nur in ganz seltenen Fällen objektive und damit übertragbare Wahrheiten feststellen. Sie konnten intuitiv Erkanntes nur uneigentlich fassen, oft in schier beliebiger symbolischer Verkörperung, und darum nur von solchen, die ihnen ähnlich oder von ihrem persönlichen Geist durchdrungen waren, einigermaßen verstanden werden. Von einer anderen Seite her betrachtet, bedeutet das Festgestellte, dass der Geist in frühen Zuständen der Natur viel fremder gegenübersteht als in späteren, sowie dies heute noch von Kindern im Vergleich mit Erwachsenen gilt. Darum scheint der zweckfrei-künstlerische Ausdruck gegenüber dem zweckvollen des Denkers der ursprüngliche zu sein. Er ist dies auch in allen Fällen hoher Geistigkeit; alle großen Geister der Frühzeit waren Künstler und nicht Wissenschaftler. Und dann glaubt der Frühmensch, wie schon gesagt, die Natur von einer anderen Welt her, d. h. magisch unmittelbar beeinflussen zu können. Aber auf den Gebieten künstlerischen Ausdrucks gibt es keinen Fortschritt und darum kann man, so seltsam dies klingt, bei der Entwicklung des Menschen-Tiers auf Erden von dessen höchsten Geistern beinahe absehen. Diese Entwicklung geht vom Denker aus, und dessen Urausdruck war der Handwerker als Urtypus des Technikers. Er allein wirkt unmittelbar verändernd in die Materie ein.

Von hier aus versteht man, was zu verstehen modernen Geistigen so schwer fällt, was aber als Tatsache feststeht, dass das Erkennen der späteste Ausdruck der Geistigkeit ist: es konnte garnicht anders sein. Ursprünglich ist Denken zugleich Behandeln; es ist eine rein praktische Angelegenheit. Darum ist in frühen Zuständen der Denker kein besonders geachteter Typus, ist sein Gebiet doch dasjenige der subalternen Arbeit. Darum stammt die Wissenschaft ursprünglich aus niederen Volksschichten, im Himmel wie auf Erden. Der praktisch wichtigste unter den Göttern, der Schmied, war der wenigst geachtete; gleiches soll heute noch bei gewissen afrikanischen Stämmen vom Schmied sogar gegenüber dem Bettler gelten, denn letzterer handwerkt doch wenigstens nicht. Auch das Denken als Denken überhaupt äußert sich in der Frühzeit nur als niedere Lebensform. In magischen Zeiten, wo nur irrationale und übernatürliche Beziehungen das Bewusstsein der Großen beschäftigten, wird das Marktweib und der Handwerker genau so viel gesunden Menschenverstand bewiesen haben als im heutigen Europa. Auch die Urform des reinen Denkens, sofern dieses bewusst wird, die juristische, findet sich bei Primitiven ausgebildeter als bei Entwickelten. Ein hoher Geist weiß selten genau, was gut und böse ist und verzichtet leicht auf sein formales Recht. Neger hingegen übertreffen in ihren Palavern das Plädieren bester moderner Rechtsanwälte. Indem also der Verstand ursprünglich eine subalterne Angelegenheit ist, erscheint er auf der gegebenen Stufe in seiner ursprünglichen Anwendung, nämlich als handwerkliche Technik, häufiger vollkommen ausgebildet als in späten Zuständen. Es beeindruckt den Zivilisierten als phantastisch, wie scharf Primitive beobachten, wo sie es überhaupt tun, und wie richtig sie schließen; als noch phantastischer vielleicht, was sie mit ihren elementaren Waffen und Werkzeugen, was sie zumal an Verschiedenem auf einmal mit ihren Händen und sogar mit ihren Füßen schaffen. Eine südindische Frau sah ich einmal sechs verschiedene Hantierungen auf einmal betreiben. Hieraus folgt nun etwas für viele Moderne Unerwartetes: je primitiver ein Mensch, desto fähiger erscheint er bei vorhandener Verstandesbegabung zu ausübender Technik. Die besten Chauffeure, die ich gesehen, waren im weitesten Sinne Primitive. So ist es denn kein Zufall, dass die spezifisch technische Ära der Geschichte mit der Emanzipation und dem Vorherrschend-Werden des Vierten Standes zusammentraf. Diese Ära hieß ich einmal die Ära des Chauffeurs, und zwar dessen Ära im genau gleichen Verstande, wie es ehemals Zeitalter der bestimmenden Könige, Ritter oder Priester gab. Der Chauffeur ist der technisierte Primitive, damit der Verstandesmensch in Reinkultur, der Intellektualist, welcher es fertigbringt, ohne viel zu wissen, Ungeheures zu leisten. In Sowjet-Russland waren bis zum zweiten Weltkrieg die meisten im modernen Sinne nicht nur Gebildeten, sondern auch nur Geschulten ausgerottet worden: trotzdem hat dieses Volk in diesem Zustand gerade technisch Ungeheures geleistet, und zwar viel mehr als vormals, als noch Gebildete in ihm bestimmten. Die Maschine leuchtet eben den Primitiven viel mehr als jenen ein. Sicher hätte sich schon Adam sofort für den Kraftwagen begeistert, wäre er bald ein vorzüglicher Chauffeur geworden und möglicherweise sogar kein schlechterer Flieger, als es die sowjetrussischen sind. Darum ist es nicht die früheste, sondern gerade unsere Zeit, über deren Gedankenarmut soviele wehklagen, welche als Zeit der größten bisher erreichten Denkbestimmtheit gelten muss. Und eben darum ist sie die Ära der größten zugleich elementarsten und vorgeschrittensten Künstlichkeit.

In der Tat, nie früher erwies sich der Mensch in auch nur annähernd gleich hohem Grade als Vergewaltiger und Verwandler der Natur. Mit ungeheurer Geschwindigkeit und ebenso ungeheurem Erfolge ist er dabei, sie durchaus menschengemäß zu machen. Er sieht in ihr nichts als einen Rohstoff, und sein intimstes Ideal ist, alle Rohstoffe durch künstliche Werkstoffe zu ersetzen, denn in ihnen sieht er kein pis-aller, sondern das Höhere, da sie doch sein Werk sind. Nicht nur alle Tiere, auch die Menschen sollen gezüchtet und plangemäß verändert werden. Der Verstand will allem Naturgeschehen die Richtung geben. Allgemach verwandelt er die Erde in eine einzige riesige Gartenstadt. Wird heute andererseits mehr als jemals früher ein naturgemäßes Leben gepredigt, so geschieht dies nicht aus Naturverbundenheit, sondern aus Verstandeseinsicht. Nachdem im Tierpark zu Hellabrunn bei München längst ausgestorbene Ur-Tiere durch kluge Ausnutzung der Mendelschen Gesetze aus heute lebenden wiederhergestellt worden sind, sucht andererseits Chimärenzucht auf künstlichem Wege gleichsam synthetische Tiere und Pflanzen zu schaffen, welche den Anforderungen des Nutzens für den Menschen besser entsprächen als alle naturgeborenen. Alles Leben soll intellektuell bestimmbar und künstlich lenkbar werden. Sehr wahrscheinlicherweise wird irgendeinmal und irgendwo auch die Utopie Aldous Huxleys verwirklicht werden, gemäß welcher durch suggestive Behandlung kleiner Kinder in der Nacht, ohne dass sie es wissen, erwünschte Typen bestimmter Art erwachsen, die für ihre eigene Überzeugung völlig frei von Anderen vorausbestimmte Überzeugungen vertreten. Alle Zielsetzungen sind rationeller Art, nichts Irrationales gilt. Wird demgegenüber und inmitten dessen das Natürliche wie nie früher verherrlicht, so geschieht das einerseits aus der wissenschaftlichen Einsicht, dass aus reinen Rohstoffen Besseres zu schaffen ist als aus vermengten, andererseits als psychologisch notwendige Kompensationserscheinung. Der Mensch verehrt immer das am meisten, was ihm polar entgegengesetzt ist, doch aus solcher Verehrung folgt nie, dass sie in die Tat umgesetzt werden wird noch werden soll. Im ersten Bande meiner Reise durch die Zeit behandelt das lange Kapitel Städter und Urnaturen ausführlich die so entstehende künstliche Welt, die ganz und gar auf materialisierten nurmenschlichen Beziehungen aufgebaut ist. Besonders ausführlich behandelt es das Problem der Stadt, die dem Menschen recht eigentlich Schicksal ist und zeigt, dass Verstädterung nicht mehr und nicht weniger als Vermenschlichung bedeutet. Verstädterung aber bedeutet andererseits Verkünstlichung. Keine Reaktion kann diesen Prozess aufhalten. Hier möchte ich auf das dort Ausgeführte nur hinweisen. Wer Ausführlicheres über dieses praktisch so unendlich wichtige Problemgebiet von mir erfahren möchte, den verweise ich auf andere Arbeiten. Für hier genügt der allgemeine Nachweis, dass der Prozess der Vermenschlichung zugleich einer der Verkünstlichung ist. Mag gegen diese Künstlichkeit aus Gründen des Geistes und der Seele noch so viel zu sagen sein, — unzweifelhaft entspricht sie den angeborenen Tendenzen des Menschen-Tiers.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Die Welt der Künstlichkeit
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME